Für eine neue revolutionäre Praxis!
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Eine Dokumcnialion
von
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antiimperialistischen
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feministischen
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kommunistischen
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Beiträgen
/ur Debatte übel die
Neubestimnuing
revolutionärer Politik
im - iw
Vorwort
der Mitherausgeberinnen
Entgegen dem sog. Legalitätsprinzip, das heißt präzisen, bürgerliche Sicherheit gewährleisten-
den gesetzlichen Vorgaben politischen und polizeilichen Handelns, handeln die staatlichen In-
stitutionen im Rahmen des von ihnen gezimmerten "Systems Innerer Sicherheit" immer erneut
nach dem sog. Opportunitätsprinzip. Das heißt je nach Situation wird diese oder jene Maß-
nahme ergriffen und werden beispielsweise bürgerliche Rechte verletzt oder nicht. Vor allem
präventive Vorkehrungen werden getroffen, die, mit dem Schein des Sicherheitsvcrsprechcns
versehen, bürgerliche Sicherheit gefährden, indem sie die Sicherheit bestehender Herrschafts-
verhältnisse zu garantieren suchen. An den Voraussetzungen dieser präventiven Maßnahmen
hat der Gesetzgeber meist fahrlässig mitgewirkt. Beispielsweise sind strafrechtliche Normen
beschlossen worden, die jeder aufgeklärten und demokratisch-rechtsstaadichcn Strafrcchtslo-
gik widersprechen. So der § 129a StGB.
Wir, die wir dieses Buch mitherausgeben, das wir nicht mitverfaßt haben und dessen Argu-
mente wir weithin nicht teilen, handeln gleichfalls präventiv. Freilich strikt im Rahmen des
grund- und menschenrechtlich fundierten Legaliiäisprinzips. Wir wollen nämlich dabei helfen,
zu gewährleisten, daß die Herausgeber dieser Aufsätze, Briefe und Erklärungen u.ä.m. ihre
Vorstellungen öffentlich zugänglich machen und damit der öffentlichen Diskussion unterwer-
fen können. Eine solche Veröffentlichung könnte aber, siehe den demokratisch-rechtsstaatlich
unhaltbaren § 129a StGB, sobald sie erfolgt ist. noch zu unterdrücken versucht werden. Und
diejenigen, die dafür verantwortlich sind, werden dann strafrechtlich verfolgt. So mitten in
dieser Republik seinerzeit Bommi Baumanns Buch "Wie alles anfing...". Seinerzeit wurde der
in der Zwischenzeit kassierte, jedoch strafrechtlich anderwärts ersetzte § 88a StGB Öffent-
lichkeit unterdrückend und strafverfolgerisch benutzt.
Was immer man von den in sich kontroversen Gedanken dieses Buches halten mag: In jedem
Fall verdienen sie die gleiche Chance öffentlich diskutiert und damit kritisiert und gegebenen-
falls verworfen zu werden, wie dies für andere passend-unpassende Überlegungen gilt. Infor-
mationsfreiheit und Offenheit der Diskussion gehören zu den Grundbedingungen jeden frei-
heitlichen Streits. Fundamcntdopposition ist nicht von vornherein auch gedanklich unzuläs-
sig. Gewalt entsteht erst aus Unterdrückungen aller Art, selbst wenn diese im Namen der Be-
kämpfung von Gewalt auftreten.
gez. ASTA-FU gez. Wolf Dieter Narr
gez. Frigga Haug • gez. Uwe Wesel
gez. Wolfgang Fritz Haug gez. Harald Wolf
Für eine neue revolutionäre Pneus. Triple Oppression <£ bewaffneter Kampf. Eine Dokuncnia-
tiim vi m antiimperialistischen. feministischen, kommunistischen Beilrügen zur Dcbaiic übor die
NeuhcMimmung revolutionärer Politik 1986-1993 mit einem Vorwort der Mitherausgeberinnen
lirsg. von der Broseliurengnippe in Zusammenarbeit mit dem ASTA-Fll sowie Frigga Haug.
Wollgung Fritz Huug. Wolf Dieter Narr. Uwe Wesel und Harald Woll
Verfasserinnen: Broschurcngruppc. Lucio Colleüi, Galvano della Volpe. Karl-Heinz Dellwo. ...
Selbstverlag: Berlin. 1994. 212 Seiten
Inhalt
I. Für eine neue revolutionäre Praxis! 5
1. Vorwort 6
2. Einleitung: Iriple oppression und bewaffneter Kampf 7
3. Für eine produktive Debatte zwischen Antiimpcrialistlnncn. Fcministinnen und Kommunistinnen!
Zusammenfassungen der Texte (abstracts) .’. 10
II. Der gesellschaftliche Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit I:
Kommunistische Kritiken an der alten Politik der RAF 16
1. Gefangene aus der PCE(r) und der GRAPO, Zwei unvereinbare Linien in der europäischen revolu-
tionären Bewegung ( 1 986) 17
2. Frddöric Oriach, Der bewaffnete Kampf als strategische und taktische Notwendigkeit des Kampfes
für die Revolution (1985) 25
3. o. Verf., Für den Kommunismus! (Papier vom Widerstands- Kongreß 1986) 46
III. Der gesellschaftliche Antagonismus zwischen Weißen und People of Color:
Antirassismus ist mehr als Antifaschismus und traditioneller Antiimperialismus! - 51
1. Christian Klar, Brief vom Jan. 1992 52
2. Heidi Schulz. Auszug aus einem Brief vom Jan. 1993 53
3. RAF, Auszug aus der Weiterstadt-Erklärung (April 1993) ; 54
4. Lutz Täufer, Auszug aus dem Text " Ghetto oder Gesellschaft" (Jan. 1993) 55
5. einige Frauen aus der radikal , Gegen das organisierte Deutschtum! (Herbst 1992) 56
6. Frauen aus verschiedenen politischen Bereichen, Zur Politik der Frauen aus dem antirassistischen
Zentrum und grundsätzliche Überlegungen zur antirassistischen Politik (März 1992) 63
IV. Der gesellschaftliche Antagonismus zwischen Männern und Frauen I:
Feministische Kritiken an der alten und neuen Politik 65
1. Schweizer Feministinnen, Ein Stein in der Sonne (1990) 66
2. Frauen aus der radikal , Stellungnahme zu "Ein Stein in der Sonne" 70
3. Sterin, Die inhaltliche Debatte weitet entwickeln (Okt. 1992) 75
4. Frauen/Lesben aus Gießen. Eine feministische Kritik (Feb. 1993) 76
3. deutsche Lesben aus dem linksradikalen Frauen-/Lesben-Spektrum, Stellungnahme zur
" Feministischen Kritik " (Mai 1993) 82
V. Der gesellschaftliche Antagonismus zwischen Männern und Frauen II:
Zur kommunistischen Debatte über das Patriarchat 85
1. Stellungnahme der Kommunistischen Brigaden 86
2. Stellungnahme der belgischen CCC-Gefangenen 87
3. Kritik von Pro Kommunismus an diesen beiden Texten 95
VI. Der gesellschaftliche Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit II:
Kommunistische Kritiken an der neuen Politik der RAF 107
1 . ZK der PCE(r), Strategische Neuorientierung oder Das Ende des bewaffneten Kampfes
(Juni 1992) 108
2. Gefangene aus den CCC, Eine nicht zu rechtfertigende Erklärung (Okt. 1992) 1 10
3. Bernhard Rosenkötter / Ali Jansen / Michi Dietiker, "... sag mal wo leben wir denn?"
(Mai 1992) 1 14
4. Michi Dietiker / Ali Jansen / Bernhard Rosenkötter, Über das Schleifen von Messerrücken (Juli
1992)
4
VII. Kritische Theorie: Die Totalität eliminiert die gesellschaftlichen Antagonismen. Die theoreti-
schen Ursachen der Defizite der alten und neuen Politik .. 124
1. Broschürcn-Gruppc, Frankfurter oder Rote Armee Fraktion? - Zur Kritik des Einflusses der Kriti-
schen Theorie auf die RAF 125
2. Galvano della Volpe, "Kritik eines spätromantischen Paradoxes (Über die ‘Dialektik der Aufklärung
von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno)" und "Marcuses Moralismus und Utopismus " 136
3. Karl Marx und Friedrich Engels, Über die revolutionäre Rolle der Bourgeoisie. Auszug aus dem
Kommunistischen Manifest 140
4. Lucio Colletti, Von Hegel zu Marcuse 143
5. Friedrich Engels über die Parole "Ein gerechter Tagelohn für ein gerechtes Tagewerk " 150
6. Karl Marx über die Forderung nach "gerechter Verteilung des Arbeitsertrags" 151
7. Rolf Nemitz, Ideologie als "notwendig falsches Bewußtsein" bei Lukdcs und der Kritischen Theorie
8. Stuart Hall, Ideologie und Ökonomie - Marxismus ohne Gewähr 161
9. Dcsch, Vom Protest zum Widerstand - aber wie? 164
VIII. antiimperialistische Kritiken an der neuen Politik 185
1 . Nathalie Menigon, Gefangene aus der AD, Brief vom 14.06.1992 186
2. Joelle Aubron, Gefangene aus der AD, Brief vom 12.06.1992 188
3. Christian Klar, KONKRET-Leserbrief und Prozeßerklärung (Herbst 1992) 188
4. Rolf Heißler, Brief vom Jan. 1993 mit Kritik an der Erklärung von Karl-Heinz Dellwo 191
5. Heidi Schulz, Auszug aus einem Brief vom Jan. 1993 mit Kritik an der Erklärung von Karl-Heinz
Dellwo 192
außerhalb der Kapitel-Überschriften
1. Die RAF - eine nachholende Resistance? Die BRD - eine gefestigte Demokratie? Auszüge aus dem
KONKRET-Interview der Celler Gefangenen (6/1992) und dem Odranoel- Beitrag von Lutz Täufer 81
2. Karl-Heinz Dellwo, Erklärung vom Nov. 1992 189
3. Lutz Täufer, Gesellschaft oder Isolation (Feb. 1992) 194
IX. Anhang
1. Quellenverzeichnis
2. Hinweis auf weiterführende Literatur
206
207
208
5
I. Für eine neue revolutionäre Praxis!
"'92 gab cs plötzlich sovielc Schwätzerinnen wie nie zuvor, von denen wir in unseren offensiven Phasen nichts mit-
bekommen haben. Nicmaid von denen war und ist bereit, selbst bewaffnet zu kämpfen. (...). Denn Schwül/ertum
führt nicht mal zu Wiederholungen des alten, cs fuhrt zai nichts.”
RAF, 02.1 1.1993
“Eine der härtesten Lektionen, die wir zu lernen hatten, war, daß revolutionärer Kampf eher wissenschaftlich
(scientific) als emotional ist. Ich sage nicht, daß wir nichts fühlen sollten, aber Entscheidungen können nicht auf
Liebe oder Wut basieren. Sie müssen sich begründen auf den objektiven Bedingungen und danach richten, was
rational und uncmotional (notwendig) z.u tun ist."
Assata Shakur zlL n. Klaus Viehmann u.a., Drei zu Eins
1. Vorwort
2. Einleitung: triple uppression und bewaffneter Kampf
3. Für eine produktive Debatte zwischen Antiimperialistlnnen, Feniinisiinnen und Kommunistinnen! Zusammenfassungen
der Texte (abstracts)
6
Vorwort
Am 10.4.92 verkündete die RAF die Einstellung ihrer gezielt tödlichen Angriffe gegen Repräsentanten
von Staat und Kapital. Diese und auch die im August folgende, ausführlichere Erklärung lösten eine
heftige Kontroverse über ihre neue Politik aus. Kritisiert wurde vor allem die Verknüpfung von be-
waffneten Aktionen mit der Situation der Gefangenen, der unscharfe Begriff der aufzubauenden
"Gegenmacht von unten" etc.
Die RAF wies die sich nach dem April 1992 entwickelnde Debatte, ob ihre neue Politik revolutionär
oder reformistisch sei, als "Scheindiskussion" zurück. So richtig es auch sein mag, daß oft Denunzia-
tionen und Beschuldigungen die Auseinandersetzung beherrschen, so richtig ist es allerdings auch, daß
eine grundlegende Reflexion über revolutionäre Theorie und Praxis und entsprechende Konsequenzen
in der jetzigen Situation zwingend notwendig sind.
Diese Broschüre soll in die aktuellen Diskussionen eingreifen und Material bieten zu grundsätzlichen
Fragen von Strategie und Taktik. Aus diesem Grund wird nicht auf die jüngsten Konflikte innerhalb
des Gefangenenkollektivs eingegangen. Die in diesem Rahmen vorgebrachten Beschuldigungen sind in
Form und Inhalt zum großen Teil wenig geeignet, produktive Auseinandersetzungen zu befördern. Au-
ßerdem finden wir es als Herausgeber dieser Broschüre wichtig, die Aufmerksamkeit auf bisher ver-
nachlässigte Aspekte zu lenken, die nicht ursächlich in den letzten zwei Jahren liegen. Vielmehr müs-
sen zentrale Fehleinschätzungen der RAF kritisch beleuchtet werden, die sich durch den größten Teil
ihrer Geschichte ziehen. Nur so kann die jüngste Entwicklung verstanden und verarbeitet werden.
Die vorliegende Broschüre versammelt Texte verschiedener, teilweise gegensätzlicher politischer
Richtungen, die sich aber alle mit revolutionärer Politik im allgemeinen oder mit der Politik der RAF
im speziellen befassen. Die Auswahl der einzelnen Beiträge erfolgte nach subjektiven Kriterien, aber
nicht willkürlich.
Broschiiren-Gruppe
Einleitung
Wir greifen als Kommunisten in die aktuelle Debatte zur Neubestimmung revolutionärer Politik ein. Im
Unterschied zu vielen anderen kommunistischen Gruppen postulieren wir jedoch nicht die Existenz des
Hauptwiderspruchs Kapital-Arbeit, dem in hierarchischer Folge Nebenwidersprüche angegliedert werden.
Grundlage unserer Analysen bildet die triple-oppression-Theorie. nach der drei antagonistische Widersprü-
che existieren, die zudem relativ unabhängig voneinander sind. Aufgrund dieser theoretischen Bestimmung
setzt unsere Kritik an der RAF an verschiedenen Funkten an. Sie kann hier allerdings nur skizziert werden.
Schwerpunkt der Broschüre sind Texte anderer Gruppen und Einzelpersonen. Dies ist vor allem der Tatsa-
che geschuldet, daß unser persönlicher Erfahrungshorizont aufgrund der politischen Herkunft oder des Al-
ters äußerst unterschiedlich ist. Wir veröffentlichen im folgenden also Texte, in denen sich unsere Positio-
nen großenteils wiederfinden. Dies bedeutet allerdings nicht, daß alle hier versammelten Materialien unse-
re uneingeschränkte Zustimmung besitzen. Viele haben formale und inhaltliche Schwachen, leiden unter
einer verkürzten, patriarchalen Betrachtungsweise, einer unangemessen heroischen Sprache, einer sche-
matischen Auffassung des Geschlechterverhältnisses oder einem unsachlichen Umgang mit dem Gegen-
stand ihrer Kritik. Nichtsdestoweniger besitzt jeder Texte wichtige, diskussionswürdige Ansätze, die un-
seres Erachtens bei einer Neubestimmung revolutionärer Politik berücksichtigt werden müssen.
Eine solche Ncubcstimmung ist nur möglich, wenn bisherige Versäumnisse und Fehlentwicklungen klar
benannt und in ihrer Ursache bestimmt werden. Dafür ist es erforderlich, bis zum Frontkonzept der RAF,
teilweise noch weiter, zurückzugehen. Nur so erschließen sich Kontinuitäten theoretischer Fehlleistungen,
die fast zwangsläufig zur Erklärung vom 10.4.92 und zur jetzigen Situation der RAF führen mußten.
Zu diesen Fehlleistungen zählt ein schematisches Gcsellschaftsvcrständnis. Hatte sich die RAF anfänglich
noch explizit auf hiesige Widersprüche bezogen (wenn nicht auf Patriarchat und Rassismus, so doch auf
Klassenauseinandersetzungen), machte sie seit dem Scheitern ihrer Offensive vom Mai 1972 drei zentrale
Konfliktlinien aus, die der Gesellschaft äußerlich sind: Metropole-Trikont, West-Ost, -Staat-Gesellschaft.
Ihren theoretischen Niederschlag fand diese Analyse dann im sogenannten Frontkonzept vom Mai 1982.
Eine solche Sicht der Dinge ist undialektisch und führte schließlich aufgrund der Umwälzungen 1989/90
und der Schwäche der trikontinentalen Befreiungskämpfe zur vollständigen Fixierung auf den angeblichen
Widerspruch Staat-Gesellschaft. .
Da der Staat jedoch kein außerhalb der eigentlichen Gesellschaft existierendes Subjekt ist, sondern viel-
mehr Resultat innergesellschaftlicher Widersprüche (daher sein patriarchaler, rassistischer und Klassen-
charakter), ist es unsinnig, zwischen beiden einen Widerspruch oder gar einen Antagonismus suchen zu
wollen. Für sich betrachtet hat auch der Begriff der "Gesellschaft" keinen analytischen Wert. So konkret
die Gesellschaft auf den ersten Blick erscheinen mag, sie bleibt eine inhaltsleere Abstraktion, wenn nicht
die sie konstituierenden Klassenverhältnisse begriffen werden. Die einzelnen Klassen werden wiederum
erst konkret bei Betrachtung der Produktionsverhältnisse, aus denen sie hervorgehen. Eine ernsthafte
Analyse gesellschaftlicher Widersprüche ist also nur möglich, wenn von der materiellen Basis ausgegan-
gen und diese als Ansatzpunkt von Veränderungen begriffen wird (vgl. K. Marx: Einleitung zu den Grund-
rissen der Kritik der politischen Ökonomie, 1857, S. 21 ff.).
Bezog sich die RAF zu früheren Zeiten wenigstens noch auf den Klassenwiderspruch, so hat sie es mittler-
weile geschafft, auch diesen zu eliminieren. Begriffe wie "Klassenkampf ' oder "Proletariat" erscheinen in
den neueren Texten kaum oder gar nicht, das "Kapital" scheint nur eines der vielen Synonyme für das
"System" zu sein. Geschlechterwiderspruch und Rassismus sind Aspekte, die in den Analysen der RAF
traditionell nur marginale Bedeutung besitzen und, wenn überhaupt, als von außen in die Gesellschaft ge-
tragene Manipulation wahrgenommen werden.
Insofern die RAF seit Mitte 1972 statt der Ursache (die Widersprüche in der Gesellschaft) deren Auswir-
kung ((die Existenz desj Staates)) bekämpft, war sie objektiv schon damals reformistisch. Sie war aller-
dings bis 1989/92 subjektiv revolutionär, denn sic faßte den von ihr wahrgenommenen Widerspruch Staat-
8
Gesellschaft als antagonistisch auf. Da sie heute diesen von ihr ausgemachten Widerspruch nicht mehr als
antagonistisch betrachtet, Widersprüche innerhalb der Gesellschaft aber gleichwohl immer noch ignoriert,
ist ihre neue Politik offen reformistisch. Es geht also darum, den Staat ’zurückzudrüngcn' statt ihn zu zer-
schlagen und "wegzukommen davon, in erster Linie darauf zu gucken, wer ist für und wer ist gegen revolu-
tionäre Politik" (August-Erklärung).
Vorrangig geht es der RAF jetzt um "konkrete Veränderungen", die nicht "bis auf die zeit nach der revolu-
tion verschoben werden können" (WWG-Erklärung); um Freiräume, "Gegenmacht von unten" (April-Er-
klärung). Die RAF gibt diese Konzeption als Alternative zum 'Abwarten bis zur Revolution’ aus (was aber
ohnehin nicmandE vorgeschlagen hat). Tatsächlich bedeutet die neue Konzeption der RAF vielmehr nicht
das Abwarten, sondern die Revolution aufzugeben. Denn wenn cs möglich ist, daß nicht nur Reformen im
System , sondern ein tatsächlicher "Entwicklungsraum Für (...) Fundamentalopposition" (August-Erklärung)
bzw. eine "gesellschaftliche Alternative", also doch wohl eine Alternative zum System, schon "hier und
heute" anfangen (April-Erklärung). warum dann überhaupt noch für die Revolution kämpfen?
Die jetzige Situation der RAF ist Resultat einer Entwicklung, in deren Verlauf bewaffnete Aktionen tech-
nisch immer mehr vervollkommnet wurden, das "Primat der Praxis" also realisiert wurde, die theoretischen
Aspekte jedoch in den Hintergrund rückten. Diese beobachtbare Entwicklung darf jedoch nicht darüber
hinwcgläuschcn, daß die RAF natürlich theoretische Analysen besaß und besitzt, auf deren Grundlage die
praktische Politik gestaltet wurde. Die theoriefeindliche Selbstdarstellung der RAF (s. schon Konzept
Stadtguerilla, Abschnitt "Primat der Praxis") bzw. der Vorwurf der Theorielosigkcit mögen also partiell
zutreffen. Dies festzustellen bleibt aber unzulänglich, wenn nicht die Frage nach der Richtigkeit der trotz-
dem entwickelten Konzepte gestellt wird. So werfen die Gefangenen der GRAPO/PCE(r) in ihrem Text
"Zwei unvereinbare Linien innerhalb der europäischen revolutionären Bewegung" der RAF militaristische
Positionen vor, die deren kleinbürgerlichen Charakter nur schlecht verhüllten.
Die hier kurz angedeutetc Kritik an grundsätzlichen theoretischen Positionen der RAF sollte allerdings
nicht dazu führen, daß Verhältnis zwischen alter und neuer Politik als lineare Kontinuität aufzufassen,
vielmehr führten die veränderten Bedingungen nach 1989/90 zum Wegfall einiger Elemente der RAF-Po-
litik und zur Hervorhebung bzw. Neueinfügung anderer.
Ob und welche der in den jeweiligen Beiträgen geäußerten Kritiken zutreffen, soll an dieser Stelle nicht
abschließend beurteilt werden, sondern Gegenstand der sich hoffentlich entwickelnden Diskussion sein.
Diese sollte unseres Erachtens wegkommen von kurzfristigen taktischen Überlegungen und sich stattdes-
sen konzentrieren auf die grundsätzlichen und perspektivischen Fragen revolutionärer Politik. Auf dieser
Prämisse basiert Kapitel VII, in dem die theoretischen Ursachen der Defizite der alten und neuen Politik
beleuchtet werden. So sehen wir das schematische Gesellschaftsverständnis der RAF als ein Resultat des
Einflusses von Georg Lukdcs bzw. der Frankfurter Schule (hier vor allem Horkheimer, Adorno und
Marcuse). Ein falsches Hegel-Verständnis führte zur Übernahme philosophisch eng gebundener Katego-
rien wie "Verdinglichung", "Entfremdung" oder "Totalität" in gesellschaftsanalytische Modelle. Die Ver-
wendung dieser Kategorien im falschen Zusammenhang verdeckt Widersprüche (z.B. wenn von der
"Totalität" des kapitalistischen Alltags bzw. des Metropolenlebens gesprochen wird) und erklärt sie in re-
duktionistischcr Weise zum Ausdruck eines einzigen Prinzips (nämlich der Ware-Geld-Beziehung). In letz-
ter Konsequenz läuft diese Konzeption auf die hierarchische Einteilung in einen Hauptwiderspruch und
mehrere Nebenwidersprüche hinaus und ist zugleich Ansatzpunkt für reformistische Tendenzen, da die
kapitalistische "Totalität" alle Menschen der "Verdinglichung" (oder auch "Entmenschlichung") unterwirft
und eine Umgestaltung (nicht: Umwälzung) bestehender Verhältnisse somit eine die Menschheit als Gan-
zes betreffende Frage ist. Die Bekämpfung spezifischer Unterdrückungsverhältnisse tritt zurück zugunsten
der Bewältigung "globaler Probleme".
Unsere These vom Einfluß der Frankfurter Schule auf die RAF soll auch hier keine Vorstellung von linea-
rer Kontinuität befördern. Die genannten Autoren worden von den Mitgliedern der RAF selbst teilweise
gar nicht gelesen, und doch waren und sind letztere eingebunden in eine Rezeptionskonjunktur spezifischer
9
Texte von oft unterschwelligem Einfluß. Warenkritik und Verdinglichungstheorie sind seit Ende der 60er
Jahre zentrale Topoi des Diskurses innerhalb der "anti-autoritären" bzw. "undogmatischen" Linken. Der
von uns aufgezeigte Einfluß der Frankfurter Schule ist also mittelbarer Natur und bedeutet auch nicht, daß
sich in der Theorie der RAF keine anderen Elemente finden lassen. Diese anderen Elemente werden von
uns nicht explizit behandelt, da wir sie als nicht so problematisch empfinden, wie die der Kritischen Theo-
rie entliehenen.
Die vorliegende Broschüre ist ein Versuch, unterschiedliche Ansätze revolutionärer Politik zusammenzu-
tragen und so eine übergreifende Debatte zu ermöglichen.
Entsprechend unserem Ausgangspunkt, der triplc-opprcssion-Theoric. dokumentieren wir Texte, die sich
primär aus einer feministischen oder kommunistischen Sicht mit einer Kritik an der RAF oder mit revolu-
tionärer Politik allgemein beschäftigen und bisher noch nicht in leicht zugänglicher Form Vorlagen oder
kaum Beachtung gefunden haben. Außerdem dokumentieren wir in Kap. VIII einige antiimperialistische
Stellungnahmen, die zwar nicht auf der Grundlage der triple oppression- Theorie, aber einer unversöhnli-
chen Haltung gegenüber dem Staat, die neue Politik der RAF schon vor dem jetzigen Bruch unter den Ge-
fangenen kritisierten.
Artikel, in denen die Politik der RAF unter antirassistischen Gesichtspunkten diskutiert wird, sind uns lei-
der kaum bekannt. (Vgl. aberden Beitrag von Frauen aus der radikal in Kapitel IV, Feministische Kritiken
an der alten und neuen Politik der RAF.) Wir mußten deshalb für das Antirassismus-Kapitel auf zwei
Texte zurückgreifen, die die von der RAF zu dieser Frage vertretene Position anhand anderer Vertreterin-
nen dieser Position kritisieren.
Nicht in die Broschüre aufgenommen haben wir (wie oben begründet) Texte, die sich mit der Auseinander-
setzung zwischen den Gefangenen und der Mehrheit der Gefangenen und der RAF beschäftigen. Aller-
dings dokumentieren wir im Anhang der Broschüre einen Text von Lutz Täufer, der sich aber nicht mit der
aktuellen Kontroverse beschäftigt, sondern die Ursachen der Spaltung in Differenzen hinsichtlich der Poli-
tik in den 70er und 80er Jahren sieht. Auch wenn wir vieles an der Kritik von Lutz Täufer teilen, ändert
dies nichts daran, daß wir - wie an den anderen Texten in der Broschüre deutlich werden dürfte - die
Schlußfolgerungen, die er und andere daraus ziehen, nicht teilen. Wir legen deshalb - genauso wie die
Celler Gefangenen ihrerseits - Wert auf die Feststellung, daß unsere Entscheidung, hier verschiedene ihrer
Texte zu dokumentieren, nicht Ausdruck eines Konsenses mit ihnen über den Inhalt der Broschüre ist.
Keinen Eingang in die Broschüre fanden außerdem bereits veröffentlichte, leicht zugängliche Texte, die
Ausdruck einer patriarchalen Betrachtungsweise sind. In diesem Zusammenhang ist auf die wichtigen Dis-
kussionsbeiträge hinzuweisen, die die italienischen Gefangenen in den letzten Jahren verfaßten. Von der
"gruppe 2" wurden sie bereits publiziert. Artikel von Gruppen, die der Politik des bewaffneten Kampfes
aus verschiedenen Gründen prinzipiell ablehnend gegenüberstanden und -stehen wurden ebenfalls nicht
berücksichtigt.
Abschließend möchten wir allen danken, die am Vorbereitungstreffcn für diese Broschüre am 14.11.93
teilgenommen haben oder uns anderweitig mit Anregungen und Kritik behilflich waren.
Broschüren - Gruppe
10
3. Für eine produktive De-
batte zwischen Antiimpe-
rialistlnnen, Feministin-
nen und Kommunistin-
nen! Zusammenfassungen
der Texte (abstracts)
Die Gliederung der Broschüre folgt zu-
nächst gemäß der triple oppressinn-
Theorie den drei antagonistischen Wider-
sprüchen:
•f + Kapital - Arbeit I und II (Kap. II und
VI)
f+ Weiße — People of Color (Kap. III)
++ Männer — Frauen I und II (Kap. IV
und V).
Anschließend werden die theoretischen
Ursachen dafür, daß die RAF diese in-
/«■/••gesellschaftlichen Widersprüche
(außer in ihren Anfangsjahren den Klas-
sen widcrspruch) ignoriert hat. unter-
sucht. Wir sehen die Ursache dafür in
dem durch die RAF von der Frankfurter
Schule übernommenen hegelianischen
Totalitäts-Verständnis. In diesem Modell
sind die Widerspreche nicht entschei-
dend (für revolutionäre Brüche), sondern
bloß "Ausdruck" eine.« einfachen, evolu-
tionären weltgeschichtlichen Entwick-
lungsprinzips. (Kap. VII).
In Kap. VIII dokumentieren wir einige
antiimperialistische Stellungnahmen, die
zwar nicht auf der Grundlage der triple
oppression-Theotie , aber einer unver-
söhnlichen Haltung gegenüber dem Staat,
die neue Politik der RAF kritisieren.
II: Der gesellschaftliche Antagonismus
zwischen Kapital und Arbeit I:
Kommunistische Kritiken an der allen
Politik
Das "zwei Linien"-Papier der
GRAPO/PCE(r)-Gefangenen
Die GRAPO/PCE(r)-Gefangcncn vertre-
ten die These, daß die Fixierung der RAF
auf den Staat und seinen polizeilichen
und militärischen Apparat statt auf den
Klassenkonflikt urslchlich für die ihres
Erachtens militaristische Strategie der
RAF (gewesen) sei. Im Gegensatz zur
Politik der RAF. sei es die Aufgabe der
Kommunistinnen, ein revolutionäres po-
litisches und militärisches Programm zu
erarbeiten, sowie 'sich mit den fort-
schrittlichen Arbeitern zu vereinen, sie
zu organisieren und die realen Konflikte
in den Betrieben auszunutzen, um sic an
der Waffe des Marxismus auszubilden
und auf dem Weg der Revolution voran-
zubringen - . Dazu müsse eine Kommuni-
stische Partei geschaffen werden. Wäh-
rend wir die Gründung einer KP in der
BRD für absehbare Zeit für keine aktuel-
le Aufgabe halten, ist der Text u.E. u.a.
deshalb für heute wichtig, weil die Ge-
nossen schon damals bcturchteien. daß
die RAF "früher oder später in opportuni-
stische, bürgerliche Positionen" verfallen
würde. Die Position der RAF. das Ziel
sei der Kampf, charakterisierten sic als
"modernisierte, radikalisierte Version der
alten revisionistischen These Bernsteins,
die Bewegung ist alles '.
Die Stellungnahme des militanten
französischen Kommunisten Fr£d£ric
Oriach
Der Text von Oriach kritisiert ebenfalls
u.a. eine Politik des bewaffneten Refor-
mismus - allerdings nicht vorrangig am
Beispiel der RAF. sondern am Beispiel
autonomer Freiraum-Politik. Dies gibt
dem Text insofern eine Aktualität, als
sich die RAF ja heule positiv auf das au-
tonome Konzept der "Gegenmacht von
unten" bezieht.
Im Gegensatz dazu benennt er (für das
Frankreich der 80er Jahre) - ausgehend
von der These, daß unter heutigen Be-
dingungen die klassische leninsche Auf-
stands-Taktik Überholt sei und durch die
Strategie des langanhaltcnden Volkskrie-
ges. die allerdings ebenfalls auf die
Übernahme der Staatsmacht ziele, ersetzt
werden müsse - drei Schritte als vor-
dringlich: 1. Analyse der aktuellen Reali-
tät und Erarbeitung einer daraus abgelei-
teten revolutionären Strategie 2.
"Politische Einigungsarbeit um die eben
genannte politisch-theoretische Basis." 3.
"Eine militärische Praxis, welche darauf
abzielt, der Organisation die Mittel zur
Durchsetzung ihrer Politik und ihrer wei-
teren politisch-militärischen Entwicklung
in der Guerilla zu geben."
Das "Für den Kommunismus!"-Papier
vom Widerstands-Kongreß 1986
Wie die beiden vorgenannten Texte kriti-
siert auch dieses Papier die
"militaristische politik/praxis" der RAF.
Die Ursache für diese Politik seien Ein-
schätzungen der gesamten antiimperiali-
stischen Bewegung gewesen, die eine
Vcrsimplifizienmg von komplexen Zu-
sammenhängen darsiclltcn. Als Beispiele
nennt das Papier die Thesen vom
"imperialistischen gesamtsystem“, von
der "anglcichung der bedingungen des
europäischen proletiriats" und, daß die
Politik in der Militärstrategie auf ihren
reinen Begriff gekommen sei. Dies be-
deute eine Überschätzung der "Totalität"
des Imperialismus, während wir von
Marx wüßten, daß das Kapital - aufgrund
der Existenz von Ausbeutung und Unter-
drückung - seinen Antagonismus, die
Ausgebeuteten, selbst erzeuge. Anstatt an
deren (zunächst punktuellen) Widerstand
anzuknüpfen, dienten die schematischen
Einschätzungen der antiimperialistischen
Bewegung dazu. "Subjektivismus und
Wunschdenken“ sowie eine
"militaristische politik mit dem anschein
der legitimation / der notwendigkeit zu
versehen". Im Gegensatz dazu plädieren
die Verfasserfinnen?) des Textes dafür,
innerimperialistische Widersprüche zur
Kenninls zu nehmen, "ohne abstriehc an
(...) revolutionärer thcoric und praxis zu
machen“. Anders als diese differenzierte
Position schlug aber die neue Politik
(zumindest im ersten Halbjahr ’92) in ei-
ne einseitige Fixierung auf die Existenz
zweier Fraktionen im Staatsapparat um.
bei der jede revolutionäre Staatsthcoric
(die Einsicht in die Existenz eines ge-
meinsamen HerTSchaftsinteresscs aller
Herrschenden) gekippt wurde.
Unsere Einwände gegen diese kommu-
nistischen Positionen
Wir haben Widersprüche zu den drei
vorgenannten Texten, insofern sic alle
drei allein das Verhältnis Kapital-Arbeit
als antagonistischen gesellschaftlichen
Widerspruch charakterisieren, während
sic zu den anderen Ausbeutungs- und
Unterdrückungsverhältnissen schweigen.
Aber auch in Bezug auf das Klassenvor-
hältnis selbst haben wir in Bezug auf die
Texte der GRAPO/PCE(r)-Gcfangenen
sowie von Oriach Einwände:
++ Gegen die dort zugrunde gelegte es-
sentialistischc (von Essenz = We-
scn/Gcisl) Konzeption des Klassenbe-
wußtseins. Damit wird eine
(vermeintliche) kleinbürgerliche Klasscn-
lage, zum Generalschlüssel, mit dem jede
ideologische Abweichung vom Marxis-
mus auf sehr einfache (zu einfache, wie
wir meinen) Art und Weise erklärt wer-
den kann. Die Kehrseite der gleichen
Medaille ist. daß sieb die Herausbildung
revolutionären proletarischen Klassenbe-
wußtseins als einfazher hegelianischer
Entwicklungsprozeß vom an sich
(latentes Klassenbewußtsein) zum für
sich (manifestes Klassenbewußtsein)
vorgestellt wird. Dies war zwar die Vor-
stellung des jungen, noch von der ideali-
stischen Dialektik Hegels beeinflußten
Marx; dies ist aber nicht die von Lenin in
Was tun? in Ansätzen entwickelte marxi-
stische Theorie revolutionären Klasscn-
bewußtscins.
++ Gegen die damit im Zusammenhang
stehende Neigung zu einem gewissen
Geschichtsdeterminismus / Evolutionis-
mus.
++ Gegen die Tendenz auch der kommu-
nistischen Strömung in der westeuropäi-
schen Guerilla, die legalen Möglichkei-
ten revolutionärer Politik in der imperia-
listischen Metropole zu unterschätzen.
++ Gegen die Neigung von Oriach -
ebenso wie die antiimperialistische Ten-
denz - mit den idealistisch-philosophi-
schen Kategorien der "Totalität“, der
"Entfremdung" / "Verdinglichung" u.ä.
zu operieren.
++ Gegen die mit den genannten dogma-
tischen Positionen (und wohl nicht nur
der Qualität der Übersetzungen) zusam-
menhängende. teilweise recht hölzerne
und formalistische Sprache.
III. Der gesellschaftliche Antagonismus
zwischen Weißen und People of Color:
Antirassismus ist mehr als Antifaschis-
mus und traditioneller Antiimperialis-
mus!
Gleichermaßen wie die RAF den Wider-
spruch zwischen Kapital und Aibcit
ignoricrt(c). ignoricrt(c) sic auch den
Antgonismus zwischen Weißen und Pe-
ople of Color. Dies gilt bezeichnender-
weise auch für beide Gruppen unter den
Gefangenen aus der RAF.
Heidi Schulz, Auszug aus einem Brief
vom Jan. 1993
Die Gefangene aus der RAF betrachtet
die "dcklassicrung weiterer breiterer teile
der gesellschaft" als die “grundlage
(basis, Voraussetzung) dafür", daß "viele
ihre perspeklivlose Situation bei den fa-
schistischen Organisationen zu lösen ver-
suchen". In diesem Sinne müßten in den
"wirklichen Wajje/iverhültnisscn" und in
den "wcrtc-loscn, keputten familienstruk-
turen " die "Ursachen faschistischer ge-
walt” gesucht werden. In diesem Zu-
sammenhang spricht sic von "formen von
Unzufriedenheit und blinder gewalt. die
unbegriffen rechte parolcn übernehmen".
Für den "antirassistische(n) antifaschisti-
sche^) kämpf begrüßt sie deshalb An-
sätze "wie z.b. in mannheim, wo sich aus
den Zusammenstößen zwischen 'rechten
und linken jugendlichen' eine initiative
entwickelt hat, um die Sprachlosigkeit zu
brechen”: "fußballspiele sind da genauso
teil wie gespräche und es wäre nichts als
dumme arroganz. solche initiativen als
'sozialarbeiterfrieden' abtun zu wollen."
Christian Klar, Brief vom Jan. 1992
Eine ähnliche vcrclcndungsthcoretischc
Rassismus-Erklärung vertritt auch der
Gefangene aus der RAF. Christian Klar.
Bei den in die "dcklassicrung rutschen-
den. bei den rechten jugendgangs” macht
er eine "gespaltenheit in revoltc aus dem
gefühl der eigenen entwertung im kapita-
lismus. gegen lüge und das tägliche ablö-
sen von lebenslust/ andererseits die reak-
tionären. ganz konformen träume, auch
Sadismus" aus. Ergänzt wird dieser Er-
klärungansatz von ihm durch eine mani-
pulations-theoretiscle Sicht auf das ras-
sistische Massenbewußtsein. Er schreibt:
Die "eliten" hätten ein "eher taktisches
Verhältnis" zum Rassismus, "indem sic
mit rassistischer (nationalistischer) Ver-
hetzung im volk manövrieren". In dem
Zusammenhang wirft er die Frage auf. ob
"die. die jetzt für den antifa-kampf auf-
stehen. sich in diese Sackgasse bewegen
könnten: dass die herrschenden mit der
Steuerung der rassistischen ausbriiehe
auf der untersten ebene [sic!) 'einen sek-
tiererischen konflikt kreiren', in dem
linke kräfte sich aufreiben (sollen) und
die eliten dabei unangefochten bleiben?"
Und in seiner ProzeBerklärung (in dieser
Broschüre in Kap. VUI abgedruckt) be-
hauptete Christian Klar - ausgerechnet zu
dem Zeitpunkt als sich der Staat ver-
suchte, mit der Inszenierung von Lichtcr-
ketten etwas vom Rassismus von unten
abzusetzen ! -. "daß seit den pogromen in
rostock der rassismus zur offiziellen
deutschen sworrideologie erklärt worden
ist" (Mit dieser Kritik soll nicht bestritten
werden, daß die reale Staatspolitik - all-
erdings vor und nach Rostock! - rassi-
stisch war). Und - auf andere herr-
schende Inhalte bezogen - erklärt er fol-
gendes zum "modcll (...) wcstlichc(r ...)
hcrrschaftstcchnik”: die
"medienmaschine“ projiziere "eine
scheinweit in die wohnstuben" der rei-
chen Zentren. Die dritte Ursache sieht
Christian Klar in der von der bürgerli-
chen Aufklämng bewirkten Spaltung von
Körper und Geist. Der Rassismus sei ein
fchlgclcitctcr Kampf gegen diese Ent-
fremdung ("wird die Ursache des Schmer-
zes projiziert auf die 'sündenböcke'“).
RAF, Auszug aus der Weiterstadt-Er-
klärung (April 1993)
Die RAF schließlich fragt in ihrer Wei-
tcrstadt-Erklärung '(...) was 500 Jahre
kolonialismus im bewußtsein der metro-
polenbevölkerung angerichtet haben"
und gibt folgende Antwort: "rassistische
ideologie" - "in krisenzeiten von Staat
und kapital offen mobilisiert", um die
"hcrrschaft des kapitalistischen Systems
(Iber die menschen” durch "lausend tren-
nungen" zwischen ihnen aufrechtzuerhal-
tcn. Damit erscheinen in diesem Weltbild
auch die Weißen als Opfer des Kolonia-
lismus/Rassismus. Dieselbe Gleichset-
zung von Herrschenden und Beherrsch-
ten nimmt die RAF vor. wenn sie vor ei-
ner Eskalation der “gewalt jcdc/r gegen
jede/n” warnt. Entsprechend fallen die
politischen Schlußfolgerungen aus:
"Rassismus von Staat und Nazis bekämp-
fen! Rassistisches Bewußtsein im Kampf
für das Soziale unter den Menschen auf-
heben.” Man/frau beachte die feinsinni-
II
gen Unterschiede: Staat - Gesellschaft /
Rassismus - rassistisches Bewußtsein /
bekämpfen - auftteben.
Lutz Täufer. Auszug aus dem Text
"Ghetto oder Gesellschaft" (Jan. 1993)
Auch der Gefangene aus der RAF. Lutz
Täufer, sieht die Ursache der "rc-faschi-
sierung" in der “unaufhaltsamen Ver-
wahrlosung der gesellschaft. ihrer sozia-
len bindekräfte" sowie der "fehlende(n)
freude am kind “ und dem 'Wcrtc-Vaku-
um".
Unabhängig von der Frage des Rassis-
mus verweisen wir
— zur Kritik des Erklärungsansatzes, der
das konformistische Masscnbcwußtscin
als Produkt von Manipulation ('Manöver
der Eliten’ / des Staates) sieht, auf den
Aufsatz von Stuart Hall
-- zur Kritik der einseitigen Sicht von
Christian Klar auf die Aufklärung auf
den Aufsatz, von Galvano dclla Volpc
- zum Bezug der RAF auf "das Soziale"
b/.w. die "Gerechtigkeit” auf die entspre-
chenden Texte von Marx und Engels
(alle in Kap. 8).
Unmittelbar zur Frage des Rassismus
drucken wir hier (da wir keine Texte
kennen, die sich mi: der diesbzgl. RAF-
Position direkt auscinandcrsctzcn) zwei
Texte ab. die die auch von der RAF ver-
tretene Position kritisieren.
einige Frauen aus der radikal. Gegen
das organisierte Deutschtum! (Herbst
1992)
Die nutf-Frauen sehen in der
"Armutsargumeniation" die "Weigerung,
die an den Pogromen Beteiligten ohne
jede Beschönigung als Täterinnen und
damit als handelnde Subjekte zu erken-
nen. die auch eine Verantwortung für ih-
re Taten haben und nicht nur fehlgclei-
tctc. bcwußtscinslo5£, arme Opfer sind;
statt dessen wird der Versuch unternom-
men, 'Erklärungen' für das rechte Verhal-
ten in (angenommenen) sozialen Proble-
men zu finden“. Es werde "davon ausge-
gangen (...), daß der Zusammenhalt der
Arbeiterinnen als 'Klasse' einer
'Spaltungsstmtegie' der Herrschenden
(genannt: Rassismus) zum Opfer fällt
und allein durch Irformationsarbcit das
'getrübte', 'verschleierte' Bewußtsein auf-
gehellt werden könnte." Die Verfasserin-
nen widerlegen anhand empirischer Da-
ten die These vom Zusammenhang zwi-
schen Armut und Rassismus und weisen
darauf hin. daß die Bevölkerung durch-
aus nicht nur "von oben" manipuliert
wird, sondern sich "selbstbcstimmt und
sclbstorganisicrt gegen Ausländerinnen
verhält" - sozusagen die etwas andere
"Gegenmacht von unten".
12
Frauen aus verschiedenen politischen
Bereichen, Zur Politik der Frauen aus
dem antirassislischen Zentrum und
grundsätzliche Überlegungen zur anti-
rassistischen Politik (Mär* 1997)
Die Frauen kritisieren “autonome Politik
als ‘lückenfüller' für funktionen, die kir-
chcn, parteien, humanistische kräftc nicht
besetzen, (...) autonome sozialarbeiterln-
ncn". "sozialarbeit und praktische hilfe"
könnte zwar u.U. durchaus richtig sein,
dabei dürften aber nicht andere
"erfahrungen und diskussions- oder pra-
xisansätze (wie z.b. eine umfassende dis-
kussion um intemationalismus oder eine
debatte um militante Organisierung...)
rausgekickt" werden. Vor allem dürfe
nicht vergessen werden, daß "Opfer"
gleichzeitig auch Täter" sein könnten
Darüber hinaus stellen sie einige
"grundsätzliche Üterlcgungcn zur anti-
rassislischen Politik’ sowie zum Verhält-
nis von Kritik und Selbstkritik an.
IV, Der gesellschaftliche Antagonismus
zwischen Männern und Frauen I: Fe-
ministische Kritiken an der neuen und
der alten Politik
Ebenfalls nicht als antagonistisch wurde
und wird in der alten und neuen Politik
der RAF das Geschlechtervcrhältnis be-
trachtet.
Ein Stein in der Sonne
Das Papier Schweizer Feministinncn er-
schien 1990 in der radikal. Sie vertreten
dort in Kritik an Eva Haule (Gefangene
aus der RAF) und Gisela Dutzi
(seinerzeit Gefangene aus dem Wider-
stand) die These, daß das Patriarchat
durch den Verrat, den einzelne Männer
an ihm üben, geniuso wenig gestürzt
werden könne wie der Kapitalismus
durch den Klassenverrat einzelner Ange-
höriger der Bourgeoisie. Sic übertragen
des weiteren den Klassenbegriff auf das
Ccschlcchtcrvcrhültais. wodurch die
Frauen als die unterste Klasse erscheinen,
während das männliche Proletariat als
"Zwischenklasse" bezeichnet wird. Da-
mit wird dem Feminismus als Theorie
und Praxis die Aufgabe zugewiesen,
nicht nur das Geschlechtcrverhältnis,
sondern das 'ganze System von ganz un-
ten bis oben' umzuwälzen.
Stellungnahme von Frauen aus der ra-
dikal aus diesem Text
Die Frauen aus der radikal teilen zwar
ihrerseits die Kritik an der RAF, wenden
aber gegen die "Zwischcnklasscn"-Tlico-
ric der Schwcizcrinr.cn ein, daß diese die
(bspw. rassistischen) Spaltungen unter
Frauen (und Männern) außer Acht ließen.
Es seien eben nicht alle Frauen ‘ganz un-
ten’.
Sterin, Die inhaltliche Debatte weite-
rentwickeln! (Stellungnahme zur Au-
gust-Erklärung)
Die Verfasserin ist der Ansicht, daß das.
was dir RAF in ihrer Erklärung vom Au-
gust 1992 zum Patriarchat schreibe,
"besonders frustrierend, fast schon zy-
nisch" sei. Sie fordert die RAF auf. zur
triple oppression-Theorie Stellung zu
nehmen. Außerdem fragt die Autorin:
"Warum schreibt ihr Frauen aus der RAF
nichts zu eurer eigenen Entwicklung, zu
eurer Unterdrückung als Frauen, aber
mehr noch zu eurem Widerstand als
Frauen in der Guerilla?’ Hatte die Rote
Zora "keinen Einfluß auf euch?" Außer-
dem kritisiert die Verfasserin, daß "in
den letzten zehn Jaliren sehr produktive
und ernsthafte kommunistischen Kriti-
ken" an der aniiirnpjrialisiischen Bewe-
gung in der BRD von dieser "bestenfalls
ignoriert” worden seien. Der von der
RAF aufgegriffene Begriff der
"Gegenmacht von unten“ sei sehr
"undeutlich"; er müsse genauer definiert
werden. Dafür sei auch eine "Selbstkritik
der autonomen und antiimperialistischen
Bewegung" notwendig.
Eine feministische Kritik
Die Verfasserinnen vertreten die These,
daß die antiimperialistische Bewegung
und die RAF bisher zwar nicht gegen das
Patriarchat, aber "auf internationalisti-
scher gjundlage gegen Staat und kapital"
gekämpft hätten. Deshalb sei für Femini-
stinnen bisher sowchl Widerspruch als
auch Solidarität möglich gewesen. Die
neue Politik der RAF ignoriere aber nicht
mehr nur den Gcschlcchtcrwidcrspruch,
sondern sei "ausdnick der Privilegien
weißer männcr (und sich daran orientie-
render weißer frauen)", die es ihnen er-
möglichten, jetzt auch den Frieden mit
Staat und Kapital schließen zu wollen.
Dies bedeute einer. Nachvollzug der
"ncuc(n) rhetorik des revisionistischen
Patriarchats’ vom Ende der 80er Jahre
('globale Menschheitsproblemc’ etc.).
Stellungnahme von deutschen Lesben
aus dem linksradikalen Frauen-
/Lesben-Spektrum
Bezugnehmend auf die These der
"Feministischen Kritik", Frauen könnten
"sich niemals den . luxus erlauben, die
’cskalation zurückzuaehmcn', für frauen
herrscht täglich krieg, der nur mit einem
gegenkrieg von unten zu überleben’ sei.
kritisieren die deutschen Lesben an der
"Feministischen Kritik" "ein undifferen-
ziertes ’fraucn-als-opfcr’-bild’. 'Tür das
blanke überleben gibt es insbesondere für
weiße frauen 1000 Möglichkeiten, die sie
fleißig nutzen: (...).’ Im übrigen sehen
die deutschen Lesben zwar ebenso wie
die Verfasserinnen der feministischen
Kritik, "daß die raf gefahr läuft, reformi-
stische politik als 'das neue' zu verkau-
fen”. Sic kritisieren aber an verschiede-
nen Beispielen, daß die feministische
Kritik "mit Unterstellungen. Pauschalie-
rungen und aus dem Zusammenhang ge-
rissenen Zitaten” arbeite.
V. Der gesellschaftliche Antagonismus
zwischen Männern und Frauen II:
Zur kommunistischen Debatte über das
Patriarchat
Die gleiche Kritik (Ignoranz und dadurch
Apologie des patriarchalen Geschlechter-
Verhältnisses) trifft allerdings auch die
kommunistische Strömung in der revolu-
tionären Bewegung. Dies zeigen die Stel-
lungnahmen der Kommunistischen Bri-
gaden und der Gefangenen aus den belgi-
schen Kämpfenden Kommunistischen
Zellen (CCC) zu diesem Thema.
Die Position der Kommunistischen
Brigaden
Die Kommunistischen Brigaden schrei-
ben. das heutige Patriarchat sei ein funk-
tionales Integral des Kapitalismus. Des-
halb könne es keiner, "antipatriarchalcn
Kampf per sc" geben. Vielmehr müsse er
mit der "Orientierung als Kampf gegen
den Kapitalismus bestimmt werden." Im
Gegensatz dazu sei die "Denunziation
de« Mannes als sexistischer Unterdrücker
(...) bestenfalls reformistisch", im
schlechtesten Fall, wie der Kampf gegen
die Pornographie, eine Stärkung der
Konterrevolution.
Die Stellungnahme der CCC-Gefangc-
nen
Nach Ansicht der CCC-Gcfangcncn hat
der Kapitalismus das Patriarchat hinter
sich gelassen. In Bezug auf das imperia-
listische Zentrum lasse sich nur noch von
Sexismus sprechen. Der Kampf gegen
letzteren sei aber • anders als der
"universelle und antagonistische Wider-
spruch zwischen internationalem Proleta-
riat und imperialistischer Bourgeoisie" -
"nicht der wesentliche Hebel’ revolutio-
närer Politik. Es könne daher keinen
selbstbesiimmten feministischen
"Kampfpol" geben.
Kritik von Pro Kommunismus an die-
sen beiden Texten
ProKo wendet gegen diese Auffas-
sungen) ein. daß die Texte der Kommu-
nistischen Brigaden und der CCC-Gcfan-
genen zu Beginn ihrer Ausführungen
voraussetzten, was sic eigentlich erst
noch beweisen wollten - nämlich, daß es
keinen (relativ) eigenständigen, gesell-
schaftlichen Gcschlechterantagonismus
gebe. Diese Auffassur.g(cn) basierten auf
einer unzureichenden Kenntnis oder Aus-
einandersetzung mit dem Gegenstand ih-
rer Kritik - der feministischen Theorie.
Letztere habe nachgewiesen, daß sich
auch heutige Frauenunterdrückung nicht
allein mit ihrer (vermeintlichen) Kapital-
funktionalität oder als Relikt aus vorkapi-
talistischer Zeit erklären lasse. Ob der
Kampf gegen Frauenunterdrückung revo-
lutionär oder reformistisch geführt
werde, hänge nicht von dessen» Verhält-
nis zum Klassenkampf, sondern davon
ab, ob er die patriarchale Gesellschafts-
struktur angreife oder nur einzelne ihrer
Auswirkungen. In diesem Sinne sei gera-
de die traditionell kommunistische Posi-
tion die reformistische, die sich im übri-
gen insofern von der sozialdemokrati-
schen nicht unterscheide und die deshalb
im Sinne der von Feministinnen längst
geleisteten materialistischen Patriarchats-
Analyse und -Kritik überwunden werden
müsse.
VI. Der gesellschaftliche Antagonismus
zwischen Kapital und Arbeit II:
Die kommunistische Kritik an der
neuen Politik
Trotz dieser Kritik an der kommunisti-
schen Strömung in der westeuropäischen
revolutionären Bewegung, die wir im
Grundsatz teilen, halten wir viele der
Einwände der kommunistischen Genos-
sinnen gegen die reue (und alte) Politik
der RAF fllr richtig. Deshalb veröffentli-
chen wir in unserer Broschüre die Stel-
lungnahmen des ZK der PCE(r) und der
Gefangenen aus den CCC zur April-Er-
kläning der RAF. Außerdem veröffentli-
chen wir zwei Stellungnahmen der sich
als Kommunisten verstehenden Bernhard
Rosenkötter und Michi Dictikcr (1988 -
1993 Gefangene aus dem Widerstand)
sowie Ali Jansen (1970 - 1981 Gefange-
ner aus der RAF; 1988 - 1994 Gefange-
ner aus dem Widerstand).
Stellungnahme des ZK der PCE(r)
vom Juni 1992
Die Genossinnen der illegalen, wieder-
gegrtindeten spanischen KP sind der An-
sicht, daß die Erklärung der RAF vom
April 1992 "in gewisser Weise" eine An-
erkennung der schon früher von der
PCE(r) vorgebrachten Kritik an der anti-
imperialistischen Linie bedeute. Aller-
dings gehe die RAF von dort aus den fal-
schen Weg. Dies zeige sich an deren Ein-
schätzung der Kinkel-Initiative und deren
Konzeption der "Gegenmacht von un-
ten". Schließlich erinnert die PCE(r)
daran, daß die RAF urspriinglich meinte,
mittels des bewatfneten Kampfes die
Bedingungen für den Aufbau einer Kom-
munistischen Partei schaffen zu können.
Später habe die RAF diesen Plan auf-
grund verschiedener Umstände durch
subjektivistische und spontaneiisiische
Ideen ersetzt.
Stellungnahme der Gefangenen der
belgischen CCC
In ähnlicher Weise unterscheiden auch
die Gefangenen aus den Kämpfenden
Kommunistischen Zellen in Belgien zwi-
schen verschiedenen Phasen in der Poli-
tik der RAF. Sie fordern die RAF auf.
über die "wesentliche Dimension des re-
volutionären Kampfes nachzudenken und
ihre allgemeinen Vorhaben, ihre Analy-
sen der objektiven Pealität. ihr Verständ-
nis der historischen Mechanismen, ihre
strategischen und taktischen Auffassun-
gen. ihre kur/- und langfristigen Ziele
etc. darzulegen." Dies wäre die Voraus-
setzung dafür, daß die Selbstkritik der
RAF keine "erneute Demonstration des
Subjektivismus, diesmal im allgemeinen
Rahmen eines opportunistischen Deba-
kels“ darstcllcn müßte.
Bernhard RuscnköUcr / Ali Juuscu /
Michi Dietiker, sag mal wo leben
wir denn ?" (Mai 1992)
Die drei Gefangenen aus dem Wider-
stand kommentieren die von der RAF in
ihrer Erklärung vom April 1992 gegebe-
ne neue Staatseinschätzung so: "wer so-
was denkt und schreibt, der hat sich von
der dringend notwendigen rekonstruktion
revolutionärer politik verabschiedet, der
sucht Zuflucht in den reformismus."
"dieser text ist sowas wie der logische
und beinahe zwangsläufige endpunkt ei-
ner langjährigen fchlcntwicklung; (...).“
Bernhard Rosenkötter / Ali Jansen /
Michi Dietiker, Über das Schleifen von
Messerrücken (Juli 1992)
Die Verfasser rekonstruieren die Entste-
hung der RAF aus der Studentlnnenbe-
wegung und erinnern an folgende Be-
stimmung aus dem ‘Konzept Stadtguc-
rilla“: "Wir sagen nicht (...). daß der be-
waffnete Kampf die politische Arbeit im
Betrieb und im Stadtteil ersetzen könn-
te.". Ein Abgehen von diesem Konzept
sei in den 70er Jahren vom Abflauen der
Außerparlamentarischen Opposition
(APO) und der staa’.Iichen Repression er-
zwungen gewesen. Im Frontkonzept der
RAF vom Mai 1982 sei diese Bewegung
weg vom Ausgangspunkt schließlich
"zum Programm erklärt" worden. So-
lange diese damalige "mutwillige Ver-
ortung des eigenen politischen Stand-
punkts außerhalb der Gesellschaft" -
u.E. wäre es präziser zu sagen: außerhalb
der die Gesellschaft strukturierenden
Widersprüche (s. dazu in der Einleitung
unsere Kritik am Gescllschaftsbegriff der
RAF) - nicht selbstkritisch aufgearbei-
tet werde, könne die jetzt geforderte
'Rückkehr in die Gesellschaft', die sich
dadurch u.E. als Rückkehr in das System
erweist, nur in einer Art und Weise er-
folgen, die undinlektisch ins
13
"scheinbare Gegenteil umschlägt". Im
Gegensatz dazu geh; "es um die Suche
nach Formen, in denen viele Menschen"
den Bruch mit den herrschenden Ver-
hältnissen "vollziehen können“. Dies
kann aber nicht mittels eines kriterienlo-
sen Bezuges auf die "sozialen Prozesse
in der Gesellschaft" erfolgen. Denn "aus
politischer Basisarbeit (läßt sich) nir-
gends unmittelbar revolutionäre Politik
entwickeln". Deshalb ist jene ausschließ-
lich "Voraussetzung für. (...) aber nicht
selbst schon revolutionäre Strategie".
"Erst die richtige Einschätzung aller kon-
kreten Kämpfe, sowohl in ihrer gesell-
schaftlichen Begrenztheit wie auch in der
politischen Brisanz der darin autbrechen-
den Widersprüche, der entstehenden Um-
gangs- und Organisationsformen, der
Mittel und Ziele macht es möglich, auch
aus ihren konkreten Niederlagen nicht als
Verlierer hcrvorzugclicii." "Innerhalb
dieses Rahmens bleiben Sabotage und
bewaffnete Aktion grundsätzlich unver-
zichtbar." In Anbetracht der Grenzen so-
zialer Bewegungen, der Grenzen der
Spontaneität, mündet "jede Konkretion"
unserer Politik "'als Lösung von unten'
(...) zwangsläufig im Reformismus". Eine
Neubestimmung revolutionärer Strategie
ist deshalb - sozusagen - nur 'von oben'
(ausgehend von der zunächst abstrakten
Erkenntnis, daß cs 'keine Lösungen un-
terhalb der Revolution" gibt) möglich. In
diesem Sinne gilt: 'Wenn wir eine wir-
kungsvolle konkrete Praxis entwickeln
wollen. (...). müssen wir die Angst vor
Widersprüchen, die Abneigung gegen
das Abstrakte überwinden.” Denn nur
von der zitierten abstrakten Erkenntnis
aus ist es möglich, zu einer "immer wei-
tergehende(n) Bestimmung von Kriterien
und deren schrittweiser Konkretion in der
Praxis" zu gelangen.
V/. Kritische Theorie: Die Totalität eli-
miniert die gesellschaftlichen Antago-
nismen. Die theoretischen Ursachen der
Defizite der alten und neuen Politik
Einleitung:
Frankfurter oder Rote Armee Frakti-
on - Zum Einfluß der Kritischen Theo-
rie auf die RAF
Wir sehen die Politik der antiimperialisti-
schen Bewegung in mehrfacher Hinsicht
von der Kritischen Theorie beeinflußt
und veröffentlichen deshalb verschiedene
Kritiken an Positionen der Frankfurter
Schule. Wirschen d:n erwähnten Einfluß
insbesondere in folgenden Punkten: in
einer schematischen Gesellschaftsanalyse
("Totalität"), in einer subjcktivistischcn
Strategie ('Sprung heraus aus dieser To-
talität') und in einer idealistischen
(Geschichls)philosophie ("für vernünf-
tige Lösungen"). Vor diesem Hintergrund
dokumentieren wir die folgenden Knti-
kcn an der Frankfurter Schule sowie drei
Auszüge aus Texten von Marx und En-
gels.
Galvano della Volpe, "Kritik eines
spätromantischen Paradoxes (Uber die
'Dialektik der Aufklärung von Max
Horkheimer und Theodor W. Ador-
no)" und "Marcuses Moralismus und
Utopismus "
Der italienische Vertreter einer anti-hege-
lianischen Marx-Interpretation. Galvano
della Volpe. kritisiert die einseitige Be-
wertung der Aufklärung durch Horkhei-
mcr/Adomo und deren damit im Zusam-
menhang stehende romantische Kritik der
Technik und der modernen gesellschaft-
lichen Organisation* und deren aristokra-
tisches Nicht-Ertragen-Könncn der Mas-
sen. Demgegenüber schwanke Marcuse
zwischen der gleichen Technikfeindlich-
keit einerseits und der Vorstellung, dal*
"die bis zu den Grenzen des technisch
Möglichen getriebene Automation" un-
abhängig von der Entwicklung des Klas-
senkampfes "mit einer Gesellschaft un-
vereinbar ist. die auf der privaten Aus-
beutung menschlicher Arbeitskraft be-
ruht.“ Die Kritische Theorie habe auf-
grund dieses Schwankens und ihrer Mas-
senfeindlichkeit keine gesellschaftsvcr-
ändemde Strategie.
Auszug aus dem Kommunistischen
Manifest
Im Gegensatz zu einem solchen Leiden
an der 'Moderne', wie cs u.a. die Kriti
sehe Theorie kennzeichnet, haben Marx
und Engels im Kommunistischen Mani-
fest folgende Position formuliert: "Die
Bourgeoisie hat in der Geschichte eine
höchst fortschrittliche Rolle gespielt. (...)
Sic hat die heiligen Schauer der frommen
Schwärmerei, der ritterlichen Begeiste-
rung. der spießbürgerlichen Wehmut io
dem eiskalten Wasser egoistischer Be-
rechnung ertränkt. (...). Alles Ständische
und Stehende verdampft, alles Heilige
wird entweiht, und die Menschen sind
endlich gezwungen, ihre Lebensstellung,
ihre gegenseitigen Beziehungen mit
nüchternen Augen anzusehen."
Lucio Colletti, Von Hegel zu Marcuse
Der della Volpc-Schülcr, Colletti, zeigt
die Wurzeln der Wissenschaftsfeindlich-
keit von Marcuse im philosophischen
Idealismus Hegels und die politischen
Wurzeln Marcuses in der jung-hegeliani-
schen Bewegung des deutschen Vormärz
auf.
Engels über die Parole "Ein gerechter
Lohn Für ein gerechtes Tagw erk"
Im Gegensatz zu jeder idealistischen Kri-
tik der herrschenden Verhältnisse macht
Engels geltend, daß der Tausch Lohn ge-
gen Arbeitskraft auf der Grundlage kapi-
talistischer Produktionsverhältnisse nicht
ungerecht, sondern gerecht sei. Die For-
derung nach einem 'gerechten Lohn" sei
deshalb durch folgende Parole zu erset-
zen: "Besitzer der Arbeitsmittel - der
Rohstoffe. Fabriken und Maschinen - soll
das arbeitende Volk selbst sein."
Karl Marx über die Forderung nach
"gerechter Verteilung des Arbeitser-
trags"
Und Marx schreibt im gleichen Kontext:
"Ich bin wcitliufigcr auf den
'unverkürzten Arbeitsertrag' einerseits,
'das gleiche Recht', 'die gerechte Vertei-
lung' andrerseits eingegangen, um zu zei-
gen, wie sehr man frevelt, wenn man ei-
nerseits Vorstellungen, die zu einer ge-
wissen Zeit einen Sinn harten, jetzt aber
zu veraltetem Phrasenkram geworden,
unsrer Partei wieder als Dogma autdran-
gen will, andrerseits aber die realistische
Auffassung (...) wieder durch ideologi-
sche Rechts- und andre, den Demokraten
und französischen Sozialisten so geläu-
fige Flausen verdreht.”
Die "realistische Auffassung" erfordert
eine "konkrete Analyse der konkreten Si-
tuation".
Rolf Nemitz, Ideologie als "notwendig
falsches Bewußtsein" bei Lukdcs und
der Kritischen Theorie
Rolf Nemitz vertritt in diesem Aufsatz
die These, daß I.uk&s diese Analyse mit
seinem von Hegel übernommenen Totali-
tätsbegriff - wie schon von Lenin kriti-
siert - nicht leisten könne. Alles sei für
Lukdcs immer nur "Ausdruck” eines ein-
fachen Prinzips - des Warenverhältnisscs.
Aus dieser vermeintlich totalen
"Verdinglichung" finde Lukdcs dann sei-
nen vermeintlichen Ausweg wiederum
mittels der hegelschen Philosophie, hier
der Dialektik von Subjekt und Objekt.
Das Proletariat solle nach Lukdcs durch
bloße Selbsterkenntnis (seiner Lage) fä-
hig sein, "eine gegenständliche, stniktive
Veränderung" der Gesellschaft zu bewir-
ken. Wenn auch diese "spekulative Hoff-
nung (...) auf das Proletariat" bei der
Frankfurter Schule in Enttäuschung um-
geschlagen sei, habe sie doch methodisch
vieles von Lukdcs Übernommen.
Stuart Hall, Ideologie und Ökonomie -
Marxismus ohne Gewähr
Der britische Marxist. Stuart Hall, disku-
tiert ebenfalls Lukdcs' Interpretation der
herrschenden, bürgerlichen Ideologie als
"notwendig falsches Bewußtsein". Er
vertritt die These, diese 'Falschheit' dürfe
nicht als bloße "Illusion, (...) Trick. (...)
Tasche nspiclcrci" verstanden werden. Im
Gegensatz zu einer rationalistischen Gc-
14
genübe rstcllung von (bürgerlicher) Ideo-
logie und (marxistischer) Wissenschaft
müsse anerkannt werden, daß Ideologien
zwar “einseitig". at*r "partiell" richtig
seien.
Desch, Vom Protest zum Widerstand -
aber wie?
Desch wendet sich unter besonderer Be-
rücksichtigung von Stellungnahmen der
Frankfurter Schule zum Gcschlcchtcrvcr-
hältnis einmal mehr gegen den (wert)-
konservativen Charakter der Kritischen
Theorie. Des weiteren: Die Frankfurter
Schule kritisiere kapitalistische Herr-
schaft als Manipulation und setze
"Aufklärung“ als Mittel dagegen. Die
RAF habe dieses Strategie - unter Radi-
kalisierung der eingesetzten Mittel (“Die
Bomben gegen den Untcrdrückungsappa-
rat schmeißen wir auch in das Bewußt-
sein der Massen.") - übernommen. Die
Folge sei eine pädagogische Konzeption
des Klassenkampfcs und ein Avantgarde-
Verständnis, nach ihm die Avantgarde
den Massen nicht "einen Schritt" (Lenin),
sondern eine Idee voraus sei.
Kap. VIII: antiimperialistische Kritiken
an der neuen Politik
Wir veröffentlichen schließlich aber noch
jene Stellungnahmen von Gefangenen
aus RAF und Action Dircctc, die mehr
oder minder auf der Grundlage der alten
antiimperialistischen Konzeption, die
neue Politik kritisieren. Außerdem doku-
mentieren wir die Erklärung von Karl-
Heinz Dcllwo (auch im Namen von Irm-
gard Möller, Hanna Krabbe, Christine
Kuby. Lutz Täufer, Knut Folkcrts und
Stefan Wisniewski) vom November
1992, weil sich ein Teil der hier abge-
druckten Kritiken direkt auf diesen Text
beziehen.
Wir veröffentlichen die genannten kriti-
schen Stellungnahmen hier, weil wir
diese Kritiken (wenn auch nicht unbe-
dingt deren dürftige Altemativ-Vor-
schlägc) teilen. Wir verstehen diese Ent-
scheidung auch als ein Zeichen dafür,
daß wir den subjektiv revolutionären
Charakter der alten Politik anerkennen,
wahrend die neue Politik - weil sie das
Ziel der Umwälzung der Staatsmacht
aufgegeben hat und die Unterscheidung
zwischen revolutionär und reformistisch
zurückweist - diese Gemeinsamkeit ver-
lassen hat. Schließlich denken wir. daß
die Zur-Kcnntnisnahme dieser Kritiken
an der neuen Politik von Ende letzten /
Anfang diesen Jahres die Verwunderung
Uber den jetzt scheinbar überraschend
eingetretenen Bruch zwischen der Mehr-
heit der Gefangenen einerseits und der
RAF und einer Minderheit der Gefange-
nen andererseits beseitigen kann.
15
Nalhalie Menigon, Gefangene aus der
AD, Brief vom 14.06. 1992
Die Gefangene aus der Aciion Dircctc.
Nalhalie Menigon. kritisierte - früher als
alle Gefangenen aus der RAF - bereits im
Juni 100? die "Inhaltslosigkeit der erklä-
rung" der RAF vom April 1992. Das
Einzige, was dem Text entnommen wer-
den könne, sei die "aufforderung zur dis-
kussion". Diese wolle sie "nicht mit Kri-
tik (...) stören".
Joellc Aubron, Gefangene aus der AD,
Brief vom 12.06.1992
Etwas deutlicher äußerte sich schon zwei
Tage zuvor die Gefangene aus der AD,
Joellc Aubron. Sie sah in der Erklärung
der RAF vom April 1992, insbesondere
in deren positiven Bezug auf eine
"politische Lösung", die Gefahr "das
kind mit dem bad auszuschütten" - also
nicht (nur) die Fehler der bisherigen Poli-
tik zu berichtigen, sondern revolutionäre
Politik überhaupt aufzugeben. Allerdings
sieht sie in einer Position - wie wir sie
bspw. in dieser Broschüre vertreten -, die
die jetzige Entwicklung der RAF als Be-
stätigung der älteren kommunistischen
Kritik an der antiimperialistischen Linie
betrachtet, als "sterile Abrechnung". Lei-
der begründet sie diese Auffassung außer
damit, daß sie die GRAPO-Kritik an der
RAF als "alte Geschichten" abtut, nicht.
Zu der von der RAF für ihre Entschei-
dung u.a. angeführte Begründung
(verändertes globales Kräfteverhältnisse /
Zusammenbruch der Sowjetunion)
schreibt Joöllc Aubron: Dieser Zusam-
menbruch bedeute gerade das Scheitern
des "revisionistischen modells" einer
"idealen fixiemng auf eine Zukunft ohne
ende". Demgegenüber bedeuteten 25
Jahre westeuropäische Guerillapolitik die
"radikale infragesiellung der linearen
prozcssc der akkumulation der Kräfte“
zugunsten des "dialektischen moment(es)
des aufbaus des revolutionären pols".
Wir verstehen dies als Kritik an der Su-
che der RAF nach einer "alternative hier
und heute", bei der die RAF die Macht-
fragc auf den St. Nimmcrlcins-Tag (erst
"längerfristig" gehe cs darum, den
"herrschenden die bestimmung über die
lebensrcalitüt ganz (zu] cntrcißlcn]") ver-
schiebt. Ist das Konzept der
"Gegenmacht von unten" nicht die Wie-
derbelebung der Vorstellung von
"linearen prozesse(n) der akkumulation
der kräftc"?
Christian Klar, KONKRET -Userbrief
und Prozeßerklärung (Herbst 1992)
Der Gefangene aus der RAF. Christian
Klar, sicht in der neuen Politik der RAF
die Gefahr einer Kapitulation vor
"Kleinmut und links-dcutschcr Einseife-
rei". Die "neu aufbrechende und sich or-
ganisierende linke hier im land" solle
"ihre Strategie entwickeln (...). ganz ohne
sich von den drohungen des apparats be-
eindrucken zu lassen, daß er ja die ge-
fangenen in der haad hat." Damit hatte
sich Christian Klar (nach den Wider-
stands-Gefangenen Michi Dictiker. Ali
Jansen und Bernhard Roscnkütter). wenn
auch mehrere Monate nach der April-Er-
kläning, so doch als erster RAF-Gcfan-
gener öffentlichen gegen die Konzeption
der RAF gewandt, durch "rücknahmc der
cskalation" den "politischen raum" für
staatliche "Zugeständnisse für politische
lösungen" für die Gefangenen
"aufzumachen" (April-Erklärung).
Karl-Heinz Dellwo, Erklärung vom
Nov. 1992
Im November 1992 legte der Vertreter
der neuen Politik, Karl-Heinz Dellwo, ei-
ne Zwischenbilanz der staatlichen Reak-
tion auf die neue Politik der RAF vor:
Die "'Kinkel-Initiative' sei ihren Rcali-
tütsbeweis schuldig' geblieben. Die Kon-
sequenz daraus war aber nicht eine Infra-
gestellung der neuen Politik, sondern de-
ren radikalisicrtc Fortsetzung. Karl-Heinz
Dellwo erklärte (nicht nur als persönliche
Entscheidung, sondern politisch begrün-
det): "(...) keiner von uns wird nach sei-
ner Freilassung zum bewaffneten Kampf
zurilckkchrcn. (...). Aus <len tiefgreifen-
den globalen und innergesellschaftlichcn
Umbrüchen ~ war "der Schritt der RAF
überfällig und hat die Suche nach N'eu-
bestimmung (...) erleichtert". (Die RAF
selbst hatte sich zuvor nicht - eindeutig
geäußert: In ihrer WWG-Erklärung hatte
sie für heute jedwede bewaffnete Aktio-
nen für den von ihr für nötig befundenen
Prozeß fiir schädlich erklärt. In ihrer Au-
gust-Erklärung habe sie sich dann die
Option auf den bewaffneten Kampf,
wenn auch nicht als Strategie, so doch als
taktisches Mittel, offen gehalten).
Rolf Heißler, Brief vom Jan. 1993
Im Jan. '93 widersprach dann Rolf Heiß-
1er, ein anderer Gefangener aus der RAF,
der Einschätzung von Karl-Heinz Dell-
wo, "die 'kinkel-initiative' sei gescheitert
oder tot, im gegenteil, sic steht in vollster
blüte und erntet ihre ersten erfolge”. Die
Erklärung der RAF vom April 1992 si-
gnalisiere: "die raf in ihrem jetzigen zu-
stand der desorientierung ist mit sich
selbst beschäftigt, und damit handlungs-
unfähig und brauch* nicht mehr ernst ge-
nommen zu werden."
Heidi Schulz, Auszug aus einem Brief
vom Jan. 1993
In diesem Kontext wirft die Gefangene
aus der RAF. Heidt Schulz, anderen Ge-
fangenen aus der RAF vor, sic würden
mit ihrer Politik "nicht mehr von der rea-
len Wirklichkeit ausgehen.'' sondern den
Eindruck erwecken, "man könne mit die-
sem Staat einig werden". Tatsächlich
könne der Kampf für die Zusammenle-
gung und Freiheit der politischen Gefan-
genen nur erfolgreich geführt werden,
wenn er "in den gesellschaftlichen klä-
mngsprozeß gegen die reaktionäre ent-
wicklung als kampf gegen staatliche Un-
terdrückung. (...) in den prozeß der ncu-
formicrung des revolutionären projekts"
integriert sei.
Dieter These können wir hei ollen Diffe-
renzen. die wir zur dien Politik der RAF
haben, zustimmen. Wir hoffen, daß sie
der Ausgangspunk für eine produktive
Debatte zwischen Antiimperialistlnnen,
Feminislinncn und Kommunistinnen über
die Neubestimmung revolutionärer Pra-
xis ist.
Dokumentalion
Lutz Täufer, Gesellschaft oder Isola-
tion
Ausgehend von den Diskussionen, die
sich an der Spaltung des Gcfangcncnkol-
lektivs entwickelt haben, unternimmt
Lutz Täufer einen kritischen Rückblick
auf die Politik der RAF seit 1977. Er the-
matisiert die inhaltliche Ausrichtung des
Front-Konzepts und kritisiert den Mangel
an Diskussionen zwischen RAF und Ge-
fangenen einerseits und anderen gcscl-
schaftlichen Kräften andererseits. Bezüg-
lich der RAF-Erklämng vom April 1992
weist Täufer darauf hin. daß es damals
"niemanden gegeben hat. der Irmgard
Möllers Erklärung widerspricht” (in der
Erklärung wurde die Entscheidung der
RAF, auf tödliche Angriffe zu verzichten,
begrüßt). Wir haben als BroschU-
rengruppe zwar erhebliche Differenzen
zur politischen Position der Ccllcr Ge-
fangenen, denken aber, daß der doku-
mentierte Artikel eiae hilfreiche Analyse
der letzten 17 Jahre ist und zahlreiche
diskussionswürdige Aspekte enthält.
PS: Wir haben versucht, offensichtliche
Rechtschreib-, Grammatik- und Überset-
zungsfehler. soweit sic nicht die inhaltli-
che Aussage berührten, stillschweigend
zu korrigieren. Wir hoffen, dabei keine
neuen Fehler produziert zu haben.
Broschüren-Gruppe
16
II. Der gesellschaftliche Antagonismus zwischen Kapital
und Arbeit I:
Kommunistische Kritiken an der alten Politik der RAF
"Westeuropa als Schnittpunkt der Linie Ost - West. Nord - Süd, Staat - Gesellschaft
RAF, Front-Konzept
"solange eine solche gesdlschafi\icbc alternative zur Zerstörung im systen nicht spürbar und greilbar existiert.
RAF, April- Erklärung
"Der Staat ist (...) keineswegs eine der Gesellschaft von außen aufgezwungene Macht; (...). Er ist vielmehr ein
Produkt der Gesellschaft auf bestimmter Entwicklungsstufe; er ist das Eingeständnis, daß diese Gesellschaft sich
in unversöhnliche Gegensätze gespalten hat. (...). Damit (...) ist eine scheinbar über der Gesellschaft stehende
Macht nötig geworden, die den Konflikt dämpfen (...) soll; diese (...) Macht ist der Staat. (...). Da der Staat ent-
standen ist aus dem Bedürfnis, die Klassengegensätze im Zaum zu halten, da er aber gleichzeitig mitten im Kon-
flikt dieser Klassen entstanden ist. so ist er in der Kegel Staat der mächtigsten, ökonomisch herrschenden Klasse,
die vermittels seiner auch politisch herrschende Klasse wird und so neue Mittel erwirbt zur Niederhaltung und
Ausbeutung der unterdrückten Klasse.”
Friedrich Engels, in: Marx/Engels, Werke, Bd. 21, 165, 166 f.
"(...) Erkenntnis, daß die Völker der Dritten Welt die Avantgarden sind. (...) in den Metropolen (... scheinen) die
Massen das Gefühl für ihre Lage als Ausgebeutete und Unterdrückte, al> Objekt des imperialistischen Systems weit-
gehend verloren zu haben (...). so daß sic fUr’s Auto, ein paar Plunncn. ‘ne Lebensversicherung und ’nen Bausparver-
trag jedes Verbrechen des Systems billigend in Kauf nehmen, (...)."
RAF, Die Aktion des Schwanen September in München. Zur Strategie des antiimperialistischen Kampfes (Nov.
1972)
"Es ging (...) dämm, in dieser politischen Wüste, in der alles nur Schein. Ware, Verpackung, Lüge und Betrug ist,
(...) aus der Verbindung und der Identität mit den Kämpfen in Südostasien. Afrika und l-itcinamerika gewaltsam hier
hrreinzuhrechen (...)."
RAF, Guerilla, Widerstand und antiimperialistische Front (Mai 1982)
"All theses options” - die Verdinglichungs-Theorie, die Entfremdungs-Theorie und die Kritik des ungleichen
Tausch s • "say something true and important about capitalism, and they give an ideological judgement which can
be used in the strugglc to destroy it and rcplacc it with a socialist society. But (...) from the point of view of
Science as a guide to political action, all these variants have to bc rcfutcö. (...). In the scicncc of history." d.h. im
historischen Materialismus, "capitalism is a specific mode of production, characteri/ed hy a specific combinalion
of forccs and relations of production. (...).
Now wc have alrcady sccn that, far from conceiving society as a complen structure, historicist theories of sociely
look for an inner cssencc revealed in all parts. If fhis esscnce is oppressive, the source for a transformation cannot
be found inside sociely, for all its manifcstations share the oppressive naturc of esscnce. The agent of transforma-
tion can only bc an externa I Negation Subject. (...). But the Proletariat no longer seems ’absolutely’ miserable and
exeluded in the so-callcd wclfarc state. (...). But was the role of the Proletariat in Marx's theory ever that of an
absolute negation of capitalist sociely? (...). Thc(...) productive forccs. which comc into contraction with the pri-
vate mode of their appropriation, includc the incrcasing usc of scicncc, dcvclopcd Communications, a high educa-
tional level and an internalized discipline in the work force. Their effccts on the working dass are not immisera-
tion but rather the Provision of greater facilities for Organization and a greater capacily to replace the capitalist
regimenution of production by social appropriation und working-class controll from bdow. (...). Hencc Marxist
theory does not need a conception of the Proletariat as a incamation ofthe negation of human existence."
Göran Thcrborn, in: Western Marxism. A critical reader, London, 1977, 83 • 139 (99, 115, 116)
1 . Gefangene aus d:r PCE(r) und der GRAPO. Zwei unvereinbare Linien in der europäischen revolutionären Bewegung
(1986)
2. Frcdcric Oriach, Der bewaffnete Kampf als strategische und taktische Notwendigkeit des Kampfes für die Revolution
3. o. Vcrf.. Für den Kommunismus! (Papier vom Widerstands-Kongreß 1986)
17
Kommune CARLOS MARX, politische
Gefangene der l’CE(r) und der
GRAPO; Gefängnis von Soria
Zwei unvereinbare Linien
innerhalb der europäi-
schen revolutionären Be-
wegung
Es wäre absurd zu meinen, das Problem,
das sich gegenwärtig der europiiischen
revolutionären Bewegung stellt, die Exi-
stenz zweier divergierender Linien, sei
lediglich ein Problem für oder gegen die
Partei; als würde man sich einer "Mode"
anschließen, der Rekonstruktion der
Kommunistischen Partei, der Par.ci der
Arbeiterklasse. Das jedoch scheint die
"antiimperialistische" Strömung darunter
zu verstehen, so argwöhnisch, wie sie in
bezug auf alles ist, was nach Arbeiter-
klasse und kommunistischer Bewegung
riecht.
Aber im Grund; handelt cs sich im die
Existenz von unvereinbaren Divergenzen
(in der Einschätzung des Charakters der
Revolution in Fumpa. des proletarischen
Internationalismus, der politischen Orga-
nisierung der Massen, der Rolle und den
Zielen des bewaffneten Gucrillakampfes.
der Strategie und Taktik etc.). In diesem
Artikel wollen wir diese Unterschiede
unter dem Gesichtspunkt des Manismus
untersuchen; das heißt, eingehend die
ökonomischen Wurzeln und die Klasscn-
herkunft der Politik untersuchen, die die
"Antiimpcrialistcn" machen, ihre grund-
legenden Ideen und Konzepte und letzt-
lich die Beziehung ihres politischen Pro-
jekts. ihrer Taktik und ihrer .Strategie zu
den jüngsten historischen Tatsachen, die
sich in Europa ereignet haben, besonders
in ihrer Verbindung mit der kommunisti-
schen Arbeiterbewegung.
Diese Untersuchung wird es uns ermög-
lichen zu beweisen, daß die
"Antiimperialisten" kein kommunisti-
sches Programm haben, daß ihre ganze
Taktik sich um die "antiimperialistische"
Aktivität dreht. anti-USA. anti-NATO.
und daß ihre Ziele und ideologischen Po-
sitionen zum großen Teil korrespondie-
ren mit den Klrescnpositioncn wichtiger
Teile des Kleinbürgertums, die sich
durch das Vordr.ngen der Monopole und
Multis ruiniert und enteignet von seinen
alten Klassenvorrechten sehen, wai ihre
Verzweiflung und Radikalität erklärt. In
jeder Hinsicht handelt cs sich um einen
Linksopportunismus, der seine Kraft aus
der ständigen Repression zieht, die diese
Sektoren aufgrund der Ausbreitung des
Staatsmonopolismus bis in alle Ecken
der Gesellschaft hinein, bis zu ihrer Pro-
Ictarisierung, erleiden. So ist zu verste-
hen. daß ihre Aufrufe zur antiimperiali-
stischen 'Einheit" keine andere Grund-
lage haben, als den blinden Kampf gegen
die NATO und die Monopole: militaristi-
scher Kampf, dessen einziges Ziel es ist.
die Militarapparatc des Imperialismus
anzugreifen.
Ihre fortgesetzten propagandistischen
Aktionen enthüllen uns überdies, daß sie
mit ihrem vergeblichen Vorsatz nur dar
auf aus sind, "den Drachen zu töten", die
eigenen Kräfte zu vergeuden und die
Aufmerksamkeit der Revolutionäre und
der Massen von den wirklichen Proble-
men ab/uJenken. die sich der Bewegung
heute stellen.
An diesem Punkt muß daran erinnert
werden, daß die Guerilla-Bewegung, die
Anfang der 70er Jahre in Europa aufge-
kommen ist, es schon vor einiger Zeit er-
reicht hat. mit dem falschen bürgerlich-
reformistischen Frieden zu brechen. Sic
hat ca erreicht, die Aufmciktamkcit der
Massen auf die revolutionäre Perspektive
zu lenken. Aber einige Gruppen, die ver-
blendet sind durch die Resultate der Gue-
rilla-Aktivität, bedenken nicht, daß das
wichtigste Ziel, das man in dieser ersten
Phase des bewaffneten Kampfes in Fum-
pa verfolgt hat, schon erreicht ist. Sie be-
denken nicht, daß es genau ifcshalb jetzt
darum geht, die anderen revolutionären
Aufgaben anzupacken, die historisch ver-
nachlässig! wurden, und daß die Gueril-
la-Aktivität sich in den Rahmen der brei-
ten politischen, militärischen und organi-
satorischer. Bewegung cinfügcn muß. die
sich nach allen Seiten ausdehnt. Sie be-
strafen sich selbst damit, sich auf diese
Weise unwiderrufbar von der revolutio-
nären kommunistischen Bewegung in
Europa zu trennen.
Es ist unverzichtbar aufzuzeigen, daß -
wie die Ereignisse es bewiesen haben - in
dem Zeitraum der 70er Jahre jene Form
des bewaffneten Kampfes notwendig
war, weil sic weitgehend die einzige
Möglichkeit war, revolutionäre Politik in
den imperialistischen Metropolen zu ma-
chen. Aber die Entwicklungen sind schon
so weit vorangeschritten, daß man, wenn
man so weiter machen würde wie früher,
nicht nur eine theoretische Dummheit
begeht, sondern ungcrcchtfertigterweisc
auf einer einseitigen und kontiaprudukti-
ven Praxis für die revolutionäre Bewe-
gung in Europa insistert.
Heute ist die Wiedervereinigung aller re-
volutionären kommunistische Kräfte
unter der gleichen Fahne des Marxismus-
Leninismus nicht mehr aufzuschieben:
ihre Anstrengung geht dahin, ein proleta-
risches Programm Für die sozialistische
Revolution auszuarbeiten und eine trag-
fähige und ideologisch festgefügte leni-
nistische Partei aufzubaucn. Ausgehend
von der umfassenden politischen und mi-
litüriichen Vorstellung, die man mit der
Partei erreichen kann, ausgehend von den
proletarischen Klassenpositionen und
angesichts der Nah- und Fernziele, die
die sozialistische Revolution dem Prole-
tariat vorzeichnet; So müssen alle politi-
schen und militärischen Aufgaben ent-
worfen werden. Die wichtigsten Aufga-
ben heißen heute, die kommunistische
Partei zu stärken und eilt Minimalpro-
gramm der sozialistischen Revolution in
jedem Land auszuarbeiten.
Dazu gehört ebenso die Organisierung
und Erziehung der Arbeiter in den Ideen
des Kommunismus, die Demaskierung
der bürgerlichen Politik und ihrer refor-
mistischen und revisionistischen Allian-
zen etc... . Die Formierung einer kleinen
Armee von proletarischen Kämpfern, die
es lernen, den langandauemden Volks-
krieg zu führen, die modernen Techniken
der Kriegsführung zu beherrschen etc.,
unter den In Europa herrschenden Bedin-
gungen. Sic führen die militärischen An-
griffe immer unter der Führung und Ori-
entierung der proletarischen Politik durch
und mit dem Blick auf den Volksauf-
stand und die Bewaffnung des Volkes.
Unter Berücksichtigung der existierenden
Kräfteverhältnisse muß die Führung der
Guerilla in der Anfangsphase skrupelhaft
genau die Ziele auswählsn. die Ansamm-
lung von revolutionären Kräften auf der
Seite des Proletariats ermöglichen, indem
sic die Durchsetzung der politischen
Ziele erleichtert, aul die die organisierten
Kräfte hinarbeiten. Dieses und kein ande-
res ist das militärische Programm der so-
zialistischen proletarischen Revolution in
Europa.
Bis vor kurzem konnte man cs aufgrund
politischer und historischer Bedingungen
noch zulassen, daß sich revolutionäre
Aktivität vor allem auf den militärischen
Kampf konzentrierte. Aber heute ist es
schon dringend notwendig, die oben be-
schriebenen Ziele in Angriff zu nehmen.
Je länger cs dauert, diese politischen und
militärischen Aufgaben des revolutionä-
ren Kampfes in Europa zu begreifen und
anzupacken, umso schwieriger und stei-
niger wird der Weg zur sozialistischen
Revolution sein.
Sich als Kommunist zu bezeichnen,
heißt nicht, es auch zu sein
Eine Sache ist es. für den Kommunismus
zu sein, wie das alle Organisationen sein
wollen, und eine ganz andere Sache ist
cs. in jedem Moment den Klnwnkampf
zu verteidigen, gegenüber jedem konkre-
ten Problem die Positionen des Kommu-
nismus zu vertreten. Eine Sache ist cs.
großspurige, populäre sozialistische Er-
klärungen abzugeben und von Befreiung
zu reden, und eine ganz andere Sache ist
18
cs. sich darum /u bemühen, in Theorie
und Praxis die universellen historischen
Prinzipien des Marxismus-Leninismus
und die Erfahrungen des Proletariats und
der Völker der ganzen Well in ihrem
Kampf für die nationale Befreiung an-
zuwenden, den Sozialismus und den
Kommunismus zu erreichen. Eine Sache
ist es, sich antiimpsrialistisch zu nennen,
und eine andere Sache ist es, sich als
Feind dieser Prinzipien und der kommu-
nistischen Aufgaben zu entpuppen.
Jeder halbwegs ernsthafte und bewußte
Arbeiter begreift leicht, daß man in ei-
nem bestimmten Moment kein revolutio-
näres Programm und auch kein militäri-
sches Programm der Proletarier hat. Das
ist eine Aufgabe, die viel Zeit braucht.
Viele Kampferfahrungen und verschie-
dene kommunistische Traditionen müs-
sen zusammengefaSt werden etc... . Aber
dieser gleiche Arbeiter wird es als schwe-
ren Fehler bezeichnen, wenn man immer
wieder aufs Neue die Ausarbeitung des
kommunistischen Programms von sich
weist und verweigert. Diejenigen, die ei-
ne solche Haltung einnehmen, beweisen,
daß ihre hochtönenden, sozial-befreien-
den Erklärungen und Manifeste lediglich
ein Wortschwall sind, mit dem sie nur ih-
re irrigen politischen Positionen mit re-
volutionärer Phraseologie verbrämen
wollen. Angesichts der politischen Be-
dingungen in der Welt können sich die
Opportunisten nur so präsentieren, als
wären sie Kommunisten.
Für jeden, der die Doppelbödigkcit dieser
Haltung analysiert, ist der Unterschied
zwischen den Worten und den Taten sehr
schockierend. Für diejenigen, die vorge-
ben. für die sozialistische Revolution zu
sein, während sie in Wirklichkeit noch
nicht einmal hören wollen, daß vom Pro-
letariat. der modernen Arbeiterklasse der
kapitalistischen Lander, geredet wird,
wäre es besser, klar und offen zu sagen,
daß sie nur dis Ziel haben, sich mit den
imperialistischen Institutionen herumzu-
schlagen. aber daß es nicht ihre Sache ist.
die Arbeiterklasse und die Volksmassen
in ihrem Land zu organisieren, um mit
ihnen zusammen auf dem Weg zur sozia-
listischen Revolution und der Diktatur
des Proletariats voranzukommen. Es ist
klar, daß die revolutionäre kommunisti-
sche Bewegung erstarkt. Die Opportuni-
sten sehen sich immer mehr in ihrem
Spiel entlarvt, und die wirklichen Kom-
munisten und die bewußten Menschen
beginnen, ihnen die kalte Schulter zu
zeigen, weil sie merken, daß man auf
diesem Weg nirgendwo hinkommt.
Die politische Posilion von Gruppen wie
der RAF. ihre militaristische Taktik, ihre
Interpretation des Kräfteverhältnisses
zwischen den sozialen Klassen, ihre anti-
leninistischen Erklärungen (gegen die
Partei etc.), ihre ideologischen Positionen
(die inncrimpcrialistischen Widersprüche
zu negieren) und viele andere Einschät-
zungen machen deutlich, daß sic zwi-
schen den Klassen Stehen, machen ihren
kleinbürgerlichen Klassencharakter klar.
Es ist offensichtlich, daß eine enge Ver-
bindung zwischen diesen politischen,
ideologischen und organisatorischen Po-
sitionen und der Geschichte und den
Ideen des Klassensektors, den sie reprä-
sentieren, besteht. Genauso ist die wach-
sende Isolictung zu konstatieren, die
diese Tendenz wegen ihres Herauslas-
sens von Positionen und ihrer Entwick-
lung zu mehr und mehr antileninistischen
und antiproletarischen Positionen hat. Es
gibt genügend Beispiele für unsere Be-
hauptung. Da gibt
++ es ihre klare Entwicklung zu strikt
militaristischen Positionen mit der Schaf-
fung dieses "deutsch-französischen"
Hirngespinstes der westeuropäischen
"antiimperialistischen" Guerilla;
++ die Verweigerung der brüderlichen
und offenen ideologischen Auseinander-
setzung mit anderen revolutionären Or-
ganisationen;
++ ihre Manie, jeefc ernsthafte Analyse
über jede für die Bewegung wichtige
Angelegenheit in eine Demonstration
von Omnipotenz der NATO zu verwan-
deln;
die Erklärung - ohne rot zu werden -. daß
jede Verurteilung eines Revolutionärs
oder eine Verurteilung zum Tode auf
machiavcllistische Weise von der höch-
sten Kommandostcllc der NATO geplant
ist...
Wir negieren im übrigen nicht die gewal-
tige Vorstellungskraft dieser
"antiimperialistischen" Genossen, aber
wir stellen gleichzeitig fest, daß cs sich
um eine sehr kurzsichtige, preußische
Vorstellungskraft handelt, wenig ge-
wohnt an die dialektische Analyse aller
Faktoren, die in den sozialen und politi-
schen Phänomenen eine Rolle spielen.
Obwohl das dialektische Genie Hegel in
diesem Land geboren wurde.
Wenn diese Gruppen jetzt wütend auf die
"Linke" schießen und sich über die Auf-
gaben lustig machen, die die Kommuni-
sten in Europa in. Angriff nehmen, und
wenn sie ihren Antiimperialismus mit
noch kühneren und spektakuläreren Ak-
tionen akzentuieren, so versuchen sic
doch in Wirklichkeit nur. ihre natürliche
Unvereinbarkeit mi: den proletarischen
Positionen zu verbergen Sie. ziehen ei-
nen dichten Schleier über die kleinbür-
gerlichen Motivationen und anarchisti-
schen Tendenzen, de ihren Aktionen ei-
gen sind. Gleichzeitig versuchen sic. die
geringe oder nicht vorhandene politschc
revolutionäre Effektivität, die sie mit ih-
ren militaristischen Aktivitäten erreichen.
dadurch zu erhöhen, daß sie heute die
angebliche militärische Bedeutung des
imperialistischen Angriffsziels maßlos
übertreiben. Das sind nicht die Aufga-
ben, Genossen Artiimpcriulistcn, die
jetzt für das revolutionäre europäische
Proletariat anstehen. Wenn ihr wirklich
die sozialistische Revolution in eurem
Land machen wollt, führt der Weg, den
ihr gehen müßt, heute in eine andere
Richtung als in die. in die ihr uns Führen
wollt.
Deshalb muß betont weiden, daß die
Konzeptionen der RAF vom Leninismus
weit entfernt sind; und daß der Kampf
gegen jede Art von Opportunismus stets
eine Konstante der leninistischen Partei
gewesen ist. Wir müssen uns deshalb
fragen, welche Umstände den Opportu-
nismus der "antiimperialistischen Strö-
mung" möglich gemacht haben. Wir
glauben, es sind ohne Zweifel die fol-
genden:
Zum einen die offensichtliche Desorien-
tierung der Arbeiterklasse in bezug auf
die revolutionären Prinzipien. Die Grün-
de Für diese Desorientierung müssen vor
allem in den revisionistischen Theorien
gesucht werden, die im Zusammenhang
mit dem XX. Kongress der KPdSU ent-
standen sind. Man muß außerdem be-
rücksichtigen. daß dres in einer Periode
des ökonomischen Aufschwungs des Ka-
pitalismus nach dem 2.Weltkrieg ge-
schah.
Der andere Punkt ist das Fehlen von
wirklich kommunistischen Parteien, die
sich der neuen Situation cntgcgenstcllen
könnten. Das hat dazu geführt, daß zahl-
reiche revolutionäre Gruppen entstanden
sind, die zu einem guten Teil die revolu-
tionären Traditionen des Marxismus-Le-
ninismus nicht kennen. Diese Gruppen
haben die Konfrontation mit dem Staat
mit der wirksamsten Methode geführt,
die ihnen am Anfang zur Verfügung
stand: der bewaffnete Kampf. Aber cs
fehlt ein gefestigter leninistischer Geist,
genauso wie die Absicht, eine Partei zu
schaffen, die die Arbeiterklasse organi-
sieren. erziehen und Führen kann. Sie
verfallen deshalb früher oder später in
opportunistische, bürgerliche Positionen:
die ideologischen Konzeptionen, die sic
verteidigen, sind Proudhon oder Bakunin
näher als dem Marxismus. In Wirklich-
keit sind sie eine Mischung aus beiden.
Ein politischer Prozeß, der sich heute in
Europa abspielt, ist für alle Kommuni-
sten und Revolutionäre von Bedeutung:
das wachsende Zusammenwirken der
Kommunisten mit den fortschrittlichsten
Sektoren und Elementen des Proletariats.
Wir müssen mit unserer Arbeit dazu bei-
tragen. daß dieser fest spontane Prozeß
sich bewußt vollzieh; und auf organisier-
te und gelenkte An und Weise geschieht.
19
Die objektiven Bedingungen um diese
Aufgabe zu erfüllen, sind bereits gege-
ben: große Teile der Arbeiterklasse, die
kämpferischsten und fortschrittlichsten,
suchen eine proletarische und kommuni-
stische Organisation für ihre Führung.
Gleichzeitig Führt die gegenwärtige kapi-
talistische Wirtschaftsdepression, die
Kürzung der bürgerlichen Sozialpro-
gramme. die Arbeitslosigkeit und die Ve-
relendung großer Teile des Volkes, die
ständige Entlassung großer Massen von
Arbeitern durch die staatsmonopolisti-
schen Pläne der Umstrukturierung etc.
dazu, daß tausende und abertausende von
Arbeitern anfangen, aufzuwachen und
für den Sozialismus zu kämpfen. Sie sind
sich ihrer historischen Verantwortung
bewußt und identifizieren sich mit ihrer
Klasse. Sie sind zu höchsten Opfern be-
reit, um die Sache des Proletariats vor-
wärts zu treiben. Die reformistischen Fal-
len und Vorurteile, die von der
"Wohlstands-" oder "nachindustriellen"
Gesellschaft ausgcbcutct wurden, liegen
bereits hinter uns. Das sind alte ideologi-
sche Reliquien des Monopolismus der
Nachkriegszeit.
Unser internationalistischer Beitrag
Aufgrund des zuvor Gesagten und ange-
sichts derjenigen, die die Praxis des pro-
letarischen Internationalismus gegenwär-
tig darin sehen, kleine supranationale mi-
litärische Organisationen zu schaffen
(bedeutungslose Nachahmung der
NATO), verteidigen wir die immer noch
gültige Konzeption: der proletarische In-
ternationalismus heißt für Kommunisten
die Pflicht, die Revolution im eigenen
Land zu machen und entsprechend ihrer
Kräfte dazu beizutragen, daß sie überall
triumphiert. Dazu beizutragen heißt fun-
damental heute in Europa:
I. aktiv an der ideologischen Diskussion
teilnehmen, an der Debatte Uber die Prin-
zipien, die Strategie und Taktik und die
unmittelbaren Aufgaben der Kommuni-
sten, die gerade allerorts anstchcn.
In dem Maße, wie «Jas unsere materiellen
Bedingungen ermöglichen, beteiligen wir
uns schon seit längerer Zeit an dieser
Diskussion, indem wir unsere Erfahrun-
gen beitragen, unsere grundlegenden Po-
sitionen verteidigen und brüderlich die
Positionen der anderen kritisieren. So
haben wir auch in der kleinen Debatte in-
terveniert. die es zum Internationalismus
gegeben hat, welche Aufgaben unserer
Meinung nach unaufschiebbar sind für
die Kommunisten (wie die Schaffung der
marxistisch-leninistischen Partei und die
Denunzierung und Demaskierung jeder
Art von Opportunismus), wie die Rolle
und die Gestaltung der Partei zum ge-
genwärtigen Zeitpunkt sein muß. Uber
die Rolle und Funktion des bewaffneten
Kampfes, der Guerilla, welchen Charak-
ter heute die innerimperialistischen Wi-
dersprüche haben ctc... Wir haben ver-
schiedene Artikel dazu geschrieben.
2. moralisch und materiell den ideologi-
schen und politischen Kampf unterstüt-
zen. den unsere Genossen in anderen
Ländern führen. Wir glauben, daß die be-
ste Form der moralischen Unterstützung
die direkte und offene Kritik ist. die
Schwächen der anderen und ihre Ursache
aufzuzeigen, uns die gerechte Verteidi-
gung der kommunistischen Positionen zu
eigen zu machen, ihren Kampf gegen op-
portunistische und militaristische Posi-
tionen zu unterstützen etc...
Angesichts der Situition. in der die revo-
lutionäre Bewegung in Europa sich be-
findet, ist es uns auferlegt, mit aller Klar-
heit und Entschiedenheit die grundlegen-
den Unterschiede aufzuzeigen, die zwi-
schen den zwei Linien bestehen, die sich
endgültig herausgeschält haben. Dieser
unverzichtbaren ideologischen Aufgabe
auszuweichen, würde bedeuten, der revo-
lutionären Bewegung enormen Schaden
zuzufügen.
Deshalb heißt das Ziel: Gehen wir ent-
schlossen den Weg, den uns die proleta-
rische Partei, die Organisation der Arbei-
terklasse und der langandauemde Volks-
krieg weisen; kritisieren wir unermüdlich
die kleinbürgerliche militaristische Ten-
denz der "Antiimperialisten"; kämpfen
wir unerbittlich gegen den pan-curopäi-
schcn Nationalismus; kämpfen wir ohne
Aufschub für die sozialistische Revolu-
tion und die Diktatur des Proletariats in
Europa, indem wir Schritt lUr Schritt die
Brüderlichkeit aller Proletarier des Kon-
tinents verstärken, dadurch, daß wir uns -
in erster Linie - auf unsere eigenen Kräf-
te verlassen, auf die immensen Kräfte al-
ler Arbeiter, die den Kapitalismus in je-
dem Land bekämpfen.
Ohne Zweifel finden wir zwischen die-
sen zwei Haupttcntfcnzcn. in die sich die
revolutionäre Bewegung in Europa ver-
zweigt. auch einige Gruppen, die un-
schlüssig schwanken. Ohne Zweifel kann
kein Kommunist, der wenigstens mini-
mal dem Kampf seines Volkes verpflich-
tet ist, Übersehen, daß angesichts der si-
gnifikanten Entwicklung hin zur Radika-
lisierung. die die Kämpfe und Streiks der
Arbeiter allerorten nehmen (die sich ge-
gen die Projekte der dekadenten Krisen-
lösung richten), die revolutionäre kom-
munistische Tendenz großen Rückhalt
und Unterstützung erhält. Deshalb ist ih-
re Verstärkung, Verwurzelung und Ent-
wicklung vorauszusehen.
In der BRD gibt es schon eine begin-
nende kommunistische Strömung, die die
Kritik an der 'antiimperialistischen"
Strömung angefangen hat. Obwohl in Ita-
lien die Bewegung in zahlreiche Sektoren
aufgespalten ist. entwickelt sich immer
klarer eine kommunistische Strömung.
Die Roten Brigaden für die kämpfende
kommunistische Partei, die beachtliche
Fortschritte machen und sich Bahn bre-
chen gegenüber den reformistischen und
"guerilleristischen" Varianten. Unter den
Franzosen - wenn wir Action Directe bei-
seite lassen, die mit den Budgets der
RAF einen Pinienkern spaltet - sind die
Dinge weiter zurück. Man könnte sagen,
daß einigen französischen Gruppen die
entsprechende praktische Aktivität fehlt,
obwohl sie in bestimmten theoretischen
Fragen weit fortgeschritten sind. Das ist
ein Fehler, der ein enormes Hindernis
darstellt, wenn wir uns die Aufgaben vor
Augen halten, die auf die Kommunisten
warten. Obwohl die Belgier noch jung
sind in ihren Aktivitäten, haben sic nicht
aufgehört, einen frischen Wagemut in
den Kampf einzubringen, indem sie die
Theorie mit der revolutionären Praxis zu
verbinden versuchen und mit Entschlos-
senheit die anstehenden Probleme ange-
hen. Und sie lassen sich nicht von den
Sirenengesängen der "Antiimperialisten”
ködern. Sic haben sich den Aufbau der
kommunistischen Partei von den Positio-
nen des Proletariats zum Ziel gesetzt.
Unsere Position ist genügend bekannt.
Man versteht den Wutanfall der
"Antiimperialisten", wenn die proletari-
schen Positionen und das kommunisti-
sche Programm der Arbeiterklasse ver-
teidigt werden, weil dadurch offenbar
wird, daß sie selbst kein proletarisches
Programm haben. Ihr Geschnatter über
"Internationalismus' ist nichts weiter als
ein chauvinistischer Pan-Europäismus,
ohne daß ein anderes Ziel zum Vorschein
käme, als ein alomfrcics Europa, ein grü-
nes Europa und eines ohne die NATO.
Ein utopisches und nicht zu verwirkli-
chendes Ziel, das das Ideal und die
kleinbürgerliche Illusion einer Welt ohne
Kriege repräsentiert (was nur in einer
völlig sozialistischen Welt möglich ist).
Diese Tendenz der Bewegung, die wir
gerade untersuchen, ist deshalb in ihren
Zielen reaktionär, da sic sich «km fort-
schrittlichen Lauf der Geschichte, den hi-
storischen Zielen «Ls Proletariats eilige-
genstellt; und das ist so. trotz ihrer krieg-
stüchtigen und kämpferischen Entschlos-
senheit. antiimperialistisch. anti-NATO,
anti- multinationale Konzerne und anti-al-
Ics mögliche.
Eine Karikatur des Marxismus
Die Komponenten der antiimperialisti-
schen Strömung nennen sich gewöhnli-
chcrwcisc marxistisch. Aber nichts ist
weiter weg von der Wirklichkeit. Ihr
Marxismus Ist eine wahrhafte Karikatur
20
der fundamentalen Ideen von Marx, En-
gels und Lenin, eine grobe Deforrration
des historischen und dialektischen Mate
rialismus.
Charakteristisch für die Marxisten ist
immer gewesen, daß sic sich immer auf
eine ökonomische und soziale Klassen-
analyse bezogen haben, um dementspre-
chend das proletarische Programm und
die kommunistische Strategie auszuarbei-
ten. Um diese Aufgaben zu verwirkli-
chen. unterscheiden sie die sogenannten
objektiven Bedingungen (jene, mit denen
das Proletariat und seine kommunistische
Avantgarde konfrontiert sind) von den
subjektiven Bedingungen (woran das
Proletariat entscheiden kann, welches
seine Taktik und seine Strategie sein muß
etc.). Was einem bei den Dokumenten
der RAF als erstes ins Auge springt, ist
das Fehlen einer Analyse dieser An. Im
Rahmen der Analyse, an die uns die RAF
gewöhnt hat. wollen wir das Irrige ihrer
Konzepte von der Proletarisicrung und
dem internationalen Proletariat hervorhe-
ben. Der erste Einblick in diese Konzepte
zeigt uns schon ihre Haltlosigkeit und
Schwäche. Mehr noch: die RAF bringt
einen extremen Subjektivismus zum
Ausdruck und erklärt immer mehr in ih-
ren veröffentlichten Dokumenten, daß
die sozialen Klassen sich nicht mehr
"durch die Position, die sic im Produkti-
onsprozeß einnehmen," definieren kön-
nen. Für Marx und Engels dagegen, und
auch für Lenin, war in den Analysen der
Klassen und des Klassenkampfes in der
kapitalistischen Gesellschaft jene Klas-
sendefinition immer eine unangreifbare
Festung des Marxismus, des Materialis-
mus. Und bei vielen Gelegenheiten ha-
ben sie darauf hingewiesen, daß, wenn
man sich davon entfernt, dies in den
Sumpf des Idealismus, des Opportunis-
mus und des Chauvinismus führt.
Hinter der Terminologie, die durch die
RAF benutzt wird, wie z.B. die "militante
Proletarisicrung". die Entfremdung und
Verbürgerlichung der Arbeiter, die Ba-
sisprozesse etc., verbirgt sich ein Angriff
auf den Marxismus, von dem sie nichts
wissen wollen. So schreiben sie. daß "die
Klasse" - so abstrakt benannt - diejenigen
sind, die "den destruktiven Charakter des
Systems begriffen haben“, und daß "von
diesem Fundament der Proletarisierung
aus die Personen, die in den Basisprozes-
sen. im Widerstand etc. präsent sind, aus
allen Schichten des Volkes kommen."
Unzweifelhaft haben die ungestüme
Ausbreitung und der Vormarsch der Mo-
nopole und Trusts in allen Wirtschafts-
bercichcn der kapitalistischen Gesell-
schaft und die Unterdrückung und Be-
schneidung der Interessen des Kleinbür-
gertums eine große allgemeine Unzufrie-
denheit hervorgerufen. Doch es kann si-
cher nicht zugebilligt werden, daß diese
Sektoren, die sich abrupt durch ihre spe-
zielle Situation rndikalisiert haben, die
Interessen des Proletariats repräsentieren,
genausowenig wie dessen Ziele, noch
seine Klassenpositionen. Das Ziel der
Kommunisten besteht angesichts der be-
sonderen Situation, in der sich diese
Schichten im Prolctarisicrungsprozcß be-
finden, darin, sic zu einem proletarischen
Programm hinzuzichcn; ihnen begreifbar
zu machen, daß es keinen anderen Weg
als die Diktatur des Proletariats und den
Sozialismus gibt. Kritisiert werden müs-
sen ihre Verzweiflung und ihr Opportu-
nismus, ihr Mangel an längerfristigen
Vorstellungen und die Beschränktheit ih-
res Blickwinkels etc.
Aber das ist nicht die Haltung, die die
Genossen der RAF angesichts dieses
Phänomens cinnchmen. Vielleicht weil
sic ebenfalls von dort herkommen und cs
noch nicht geschafft haben, sich wirklich
ganz von den kleinbürgerlichen Vorurtei-
len zu befreien und sich die kommunist-
ische Ideologie zu eigen zu machen.
Ganz im Gegenteil: um noch tiefer in den
Sumpf der idealistischen Konfusion zu
fallen, bringen sic ein ganz besonderes
Schmuckstück "marxistischer" Analyse
hervor: den Widerspruch Staat-Gesell-
schaft als den Hauptwiderspmch in den
Metropolen.
Niemals hat der Marxismus von einem
Widerspruch zwischen Staat und Gesell-
schaft gesprochen - einfach weil der
Marxismus immer von einer Klassenana-
lyse ausgegangen ist. vom Widerspruch
zwischen Bourgeoisie und Proletariat.
Wenn er vom Staat gesprochen hat, dann
immer als von dem, der er ist: ein Rc-
picssionsappaiat einer Klasse über eine
andere, ein in seiner Essenz repressiver
Militärapparat, organisiert gerichtet ge-
gen die ausgebeutete und unterdrückte
Klasse, das Proletariat. Der Staat ist das
bedeutendste Instrument, das die Bour-
geoisie hat, als Instrument des Klassen-
kampfs von oben gegen das Proletariat.
Das ist das Wesen des Staates. Von daher
muß das Proletariat seine ganzen An-
strengungen darauf richten, den Staat der
Bourgeoisie zu stürzen, um ihn durch ei-
nen anderen zu ersetzen, den proletari-
schen Staat, die Diktatur des Proletariats.
Den Staat gegen "die Gesellschaft" zu
stellen, wie das die "Anti-Impcrialistcn”
machen, würde bedeuten, den Staat au-
ßerhalb der Gesellschaft zu stellen als ei-
ne Art höhere Einheit, die über ihr steht.
Das heißt, den Klassencharakter des
Staates zu negieren. Das bedeutet dann
gleichzeitig, ihn für eine bösartige und
überflüssige Einheit zu halten. Das Ziel
der Revolutionäre wäre dann, jede Spur
von Staat zu tilgen, so wie cs seinerzeit
Bakunin vorschlug. Zusammen mit ihrer
anti-staatlichen Voreingenommenheit
und dem Fehlen eines kommunistischen
Programms, schlagen uns die “Anti-Im-
pcrialisten" (im Einklang mit diesem Wi-
dersprach Staat-Gesellschaft) eine Interk-
lasscn-Allianz vor. um den Staat zu be-
kämpfen, der in ihren Augen der einzige
Verursacher allen Übels ist. das die
“Gesellschaft" erleidet,
übwebl sie in einem ihrer Dokumente
sagen, daß ihre revolutionäre Politik in
den Metropolen "nichts mit einer Welt-
Konzeption" zu tun hat, zeigen wir auf,
daß dis falsch ist. Ihre weltweite Analyse
(Konzeption) ist die des Kleinbürgers,
der von den Multis erdrückt wird, der in
seiner Verzweiflung seine ganzen wüten-
den Angriffe gegen den imperialistischen
Staat richtet, besonders gegen seine Mili-
tärapparate und seine Allianzen. Diese
Angriffe haben keine andere Perspektive,
als den gleichen Kampf, den sic hervor-
rufen, sie erinnern an die Arbeiter, die
die Maschinen zerstörten, damit dadurch
die Ausbeutung des Proletariats zu Ende
ginge: das waren vor allem alte, ruinierte
Sektoren des Handwerks und des Klein-
handels. die sich aus ihren Werkstätten
und kleinen Geschäften vertrieben sahen.
Der Kampf der Opportunisten unter-
scheidet sich radikal vom Kampf der
Kommunisten, von ihrem anti-imperiali-
stischen Kampf, von ihrer Organisierung
der Arbeiter, vom Aulbau der proletari-
schen Partei, von der Vorbereitung der
organisierten Arbeiterkrätte im Geist und
im Kampf des verlängerten Volkskrieges.
Die politischen Konzeption der "Anti-
Imperialisten" besitzt zwei ausgeprägte
theoretische Schnittlinien, zwei zentrale
Punkte, die klar ihre Vision revolutionä-
rer Politik definieren. Ihre Idee von der
"militanten Proletarisicrung" und ihre In-
terpretation der Entfremdung und Ver-
bürgerlichung, die die Arbeiter in den
Metropolen Europas erleiden.
Für sic ist das Proletariat nicht ein objek-
tives Produkt der kapitalistischen Gesell-
schaft. sondern ein Bewußtseinsakt.
Deshalb vertreten sie, daß das Subjektive
das Wesentliche und "dis Entscheidende
für den Kampf in den imperialistischen
Zentren" ist. Die imperialistischen Zen-
tren - so fahren sie fort - schaffen
"überhaupt keine revolutionäre Bedin-
gung (ausgehend von den objektiven
Widersprüchen und den existierenden
Bedingungen), sondern nur Zerstörung
und Verelendung.“
In einem unserer vorhergehenden Artikel
haben wir gesehen, daß es bestimmter
revolutionärer Bedingungen bedarf, da-
mit die Revolution triumphiert. Dieses
sind in erster Linie objektive Bedingun-
gen. Wir fügen hinzu (entsprechend der
Analyse Lenins in dieser Frage), daß die
objektiven revolutionären Bedingungen
21
nicht genügt haben, um ein Regime oder
eine Regierung zu stürzen, weil diese
nicht fallen, wenn man sie nicht stößt.
Deshalb ist eine reife und disziplinierte
proletarische Partei unverzichtbar und
eng verbunden mit der revolutionären
Massenbewegung. Aber davon reden die
"Anti-Imperialisten" nicht. Für sie exi-
stiert das Proletariat objektiv nicht, son-
dern einzig dutxli einen Akt des Bewußt-
seins; mittels der Aneignung der Posi-
tionen des internationalen Proletariats; so
würden die Individuen dazu kommen,
Proletarier zu sein. Für den Leninismus
hingegen, besteht die einzige Art und
Weise, die "Klasse an sich" in die
"Klasse für sich" zu verwandeln, in der
Arbeiterpartei. Die "Klasse an sich" ist
die Arbeiterklasse, so wie sie im Prozeß
der kapitalistischen Produktion existiert:
auscinandcrgcrissen, uneinig und ohne
Bewußtsein über ihre Situation. Ledig-
lich durch die proletarische Partei ist cs
zu erreichen, die Arbeiterklasse zu orga-
nisieren und zu vereinigen, damit sic po-
litisch als unabhängige Kraft in der. Klas-
senkämpfen ihres Landes interveniert - in
dem Bewußtsein ihrer historischen Rolle
und den Zielen des Sozialismus und
Kommunismus: das ist die "Klasse für
sich".
Im Gegensatz dazu ersetzen die •Anti-
Imperialisten" die marxistische Analyse
der ökonomischen und politischen Be-
dingungen des Landes durch ein subjek-
tivistisches Verhältnis von Haß und Wut.
Das ist an sich sehr wichtig für den
Kampf gegen die Bourgeoisie, aber in je-
der Hinsicht unzureichend. Auf dieser
Grundlage • der Grundlage des Hasses
und der Wut - sagen sie, "jetzt entwickelt
«ich die revolutionäre Front im Zen-
trum." Nicht auf den Schultern des Prole-
tariats, wie Marx und alle Marxisten ver-
sicherten. sind wir aufgerufen, die kapi-
talistische Gesellschaft zu stürzen, die
Totengräber der kapitalistischen Gesell-
schaft zu sein! Der subjektive Ansatz der
RAF in bezug auf die Klasse und den
Klassenkampf wird durch den Trug-
schluß der Veibürgcrlichung und Ent-
fremdung der europäischen Arbeiterklas-
se vervollständigt. Der Nco-“Marxist"
H.Marcuse sagt, daß die Arbeiteiklasse
in der moderner kapitalistischen Gesell-
schaft unterwürfig allen Interessen der
Bourgeosie dient, und daß sie, weil sie
objektiv an der Ausbeutung anderer Völ-
ker teilnimmt, sich in ihrer privilegierten
Position sehr wehl fühlt. Etwas ähnliches
sagt die RAF. Im Gegensatz dazu be-
zeichnet Marx mit dem Begriff der Ent-
fremdung den Produktionsprozeß im Ka-
pitalismus selbst, die Beeinträchtigung,
die der Arbeiter als Produzent erleidet,
weil er von den Produkten, die er produ-
ziert, enteignet wird. Das ist es. was den
Arbeiter als Klasse wirklich interessiert,
weshalb er auf seine Fahnen die Losung
"ENTEIGNUNG DER ENTEIGNER"
schreibt. Und dieser Widerspruch, der in
jeder kapitalistischen Produktionseinheil
steckt, ist auch das Samenkorn, aus dem
das proletarische Bewußtsein erwächst,
die mächtige, kämpferische Kraft des
Proletariats. Das ist was anderes als das.
was die RAI' verteidigt. Deshalb wundert
es uns auch nicht, daß ihnen mit diesem
subjcktivistischcn und proudhonistischen
Gepäck nicht in den Kopf geht, daß es
einen anderen revolutionären Weg gibt,
einen kommunistischen Weg. Sic sind so
sehr von ihrer kleinbürgerlichen anti-im-
perialistischcn Ideologie gepackt, daß al-
les. was nicht Kugeln auf die Dächer der
NATO schießt, für sic keinen Sinn
macht. So weit geht ihre Blindheit, daß
sie mit Naivität und ohne rot zu werden
vertreten, daß die militärische Struktur
des NATO-Oberbefehls Uber alle Ange-
legenheiten der Welt entscheidet. Sie
glauben felsenfest, daß die Intemationali-
sierung des Kapitals (ein Prozeß, der mit
dem Handels-Kapitalismus begonnen hat
und dann durch die Monopole beschleu-
nigt wurde) zuvor von den "I_ehnstühlen"
des Kapitals beschlossen wird; als ob die
eigene kapitalistische Entwicklung, die
Gesetze des Gewinns, die ungleiche
Entwicklung und die Konkurrenz - alles
objektive Faktoren, wie Marx bewiesen
hat - überhaupt keinen Einfluß hätten.
Vielleicht stellen sic sich deshalb mit
Hingabe gegen jeden neuen Plan der
NATO und des IWF, das konterrevolu-
tionäre Sancta Sanctorum, siatt für die
Schaffung eines proletarischen und
kommunisiischen Programms zu arbeiten
und dafür Propaganda zu machen.
Man versteht so ihre Aversion gegen jede
kommunistische Aktivität, ihren Angriff
gegen das kommunistische Programm
der Revolutionäre in Europa, ihre Ver-
achtung der Arbeiter und der Rolle und
historischen Verantwortlichkeit des Pro-
letariats. Aber, wie das immer dem
Kleinbürgertum passiert, bleiben ihnen
gegenüber dem festen und entschlosse-
nen Vorankommen des Proletariats nur
noch zwei Optionen: sich entweder mit
Leib und Seele mit dem Proletariat zu
vereinigen, mit der Diktatur des Piulcta-
riats und dem Sozialismus, oder leichte
Beute zu werden für den Imperialismus,
von dem sie sagen, daß sic ihn mit aller
Kraft bekämpfen. Christian Klar sagt,
daß das Proletariat "diejenigen verkör-
pern. die den Imperialismus bekämpfen".
Aber auf welchen Kampf bezieht ersieh?
Ohne Zweifel auf den Kampf der "anti-
imperialistischen Guerilla". Die Arbeiter,
die in ihre: Fabrik kämpfen, um ihre Le-
bens- und Arbeitsbedingungen zu verbes-
sern. und die sich den Plänen der kapita-
listischen Überausbeutung entgegcnstcl-
Icn, sind in ihren Augen keine Proletarier
und lohnen keinerlei Interesse. Es sei
denn, die Streiks in den Unternehmen
verlassen das institutionalisierte und ge-
ring zu schätzende "Terrain der einfachen
Opposition". Aber worin besteht die Ar-
beit der Kommunisten, wenn nicht darin,
sich mit den fortschrittlichsten Arbeitern
/.u vereinen, sie zu organisieren und die
realen Konflikte in den Betrieben auszu-
nutzen, um sie an der Waffe des Mar-
xismus auszubilden und auf dem Weg
der Revolution voranzubringen?
Der Opportunismus der RAF versucht
eine Ausbeutung der Arbcitcrkämpfc.
wenn sie aus den etablierten Gleisen
rauskommen (was gegenwärtig durchaus
häufig ist. wenn wir die kapitalistische
Krise in Betracht ziehen), um sie in eine
weitere Waffe im Kampf gegen die
NATO zu verwandeln. Kommunisten
machen etwas ganz anderes. Sie versu-
chen jede Fabrik in eine Festung der pro-
letarischen Partei zu verwandeln und den
Kampf gegen die NATO in eine weitere
Front des Kampfes gegen den Kapitalis-
mus und für die Diktatur des Proletariats.
Die Aufgabe der Revolutionäre im Öko-
nomischcn Kampf der Arbeiter ist seit
langem von Lenin klargcstcllt worden:
"Der ökonomische Kampf ist ein unver-
meidbarer Konflikt im Kapitalismus und
er ist eine unverzichtbare Waffe, damit
die Arbeiter ihre Lei>ensbedingungcn
verbessern können. Gleichzeitig ist er ei-
ne sehr nützliche Waffe des Kommunis-
mus. um die Kampffähigkeit der Arbei-
ter, ihr revolutionäres Bewußtsein zu
stärken, um das proletarische Programm
zu verbreiten.’ Es geht nicht um die Poli-
tisierung der Arbeiterstreiks, wie manche
denken, die schon genügend politisiert
sind, und sie in "revolutionären Kampf
um die Macht” zu verwandeln, "Bollwerk
der Guerilla" etc. Wer den ökonomischen
Kampf mit dem politischen Kampf ver-
mischt, begünstigt die Konfusion und die
Pläne der Bourgeoisie und des Refor-
mismus. Die proletarische Partei muß ih-
re Aktivitäten auf die großen Betriebe
des Landes konzentrieren, aber nicht um
Gewerkschaften zu konstituieren, son-
dern um die Arbeiter nach den Prinzipien
des Kommunismus zu organisieren, des
Programms der sozialistischen Revolu-
tion und der proletarischen Strategie und
Taktik. Sic muß mit aller Kraft die Revi-
sionisten bekämpfen, die Umstrukturie-
mngsplänc der Monopole denunzieren,
im Kampf Arbeiterorganisationen schaf-
fen. die unabhängig von der Bourgeoisie
und den Reformisten sird.
Wenn die Geschichte etwas bewiesen
hat, und sic hat cs oft bewiesen, dann
das. daß die Revolution dort siegt, wo die
Revolutionäre sich auf ihre eigenen Kräf-
22
ic verlassen haben, auf die Kräfte ihres
Proletariats und ihres Volkes, indem sie
den revolutionären Kampf entwickelten.
Das erfordert, daß an der Verstärkung der
revolutionären Arbeiterbewegung gear-
beitet wird, und daß deshalb alle Aufga-
ben angepackt werden, die hier aufge-
führt wurden.
Die übrigen revolutionären, sozialisti-
schen und fortschrittlichen Länder der
Welt haben immer das Land unterstützt,
das eine Revolution macht; ohne die
Voraussetzung, sich auf seine Kräfte zu
beziehen, ist nichts zu machen. Und sich
auf die eigenen Kräfte stützen, heißt in
Europa, sich auf die mächtige Kampffä-
higkeit des Proletariats zu beziehen, die
wichtigste und (ährende Kraft der Revo-
lution. Die Arbeiterklasse ist diejenige
Klasse, die mi: Entschlossenheit und
Hingabe gegen die kapitalistische Gesell-
schaft kämpft. Die einzige, die sic stür-
zen und den Sozialismus aulbauen kann.
Etwas anderes denken heißt, sich vom
Abc des Marxismus zu trennen.
Kommunistische Partei oder
nationale Befreiungsbewegung?
Auf die Frage nach den Übereinstim-
mungen innerhaJD der europäischen revo-
lutionären Bewegung, /.wischen der anti-
imperialistischen und der kommunisti-
schen Tendenz, würden wir sagen, cs
gibt sehr wenige. Allgemein könnten wir
sagen, daß die einzigen Übereinstim-
mungen der Kampf gegen den Imperialis-
mus und der bewaffnete Kampf sind. Das
ist sehr weniß. wenn wir uns klarmachen,
was die jeweilige Strömung unter Kampf
und unter Imperialismus versteht, und
wie sie jeweils den bewaffneten Kampf,
seine Ziele und Verbindungen mit dem
revolutionären Kampf des Proletariats
bestimmen. Der Kampf der anti-imperia-
listischcn Strömung konzentriert sich in
erster Linie auf die Vorbereitung und
Ausübung von bewaffneten Aktionen
gegen die Institutionen der atlantischen
Allianz, die NATO. Ihre Aktionen im
Rahmen dessen, was sie "Strategie gegen
ihre Strategie" nennen und die suprana-
tionale "Einheit” der revolutionären Gue-
rilla-Organisationen sind eine grobe Ver-
drehung des Internationalismus. Aber um
welche Strategie kann es sich denn han-
deln. wenn man im Schlepptau der impe-
rialistischen Strategie läuft? Sicherlich
um gar keine. Di: bewaffneten Aktionen
der RAF, Action Directe und anderer
ähnlicher Gruppen, die kein proletari-
sches politsches Programm für den
Kampf für den Sozialismus haben, sind
durch ihren Radikalismus. Spontaneis-
mus und Opportunismus gekennzeichnet;
sic haben kein anderes Ziel als das Mili-
tärische. was angesichts der gegenwärti-
gen Situation mehr eine Bremse darstellt
als ihre Weiterentwicklung oder einen
Impuls; cs handelt sich um eine moderni-
sierte. radikolisicrtc Version der alten re
visionistischcn These Bernsteins, "die
Bewegung ist alles."
Das ist um so deutlicher, je mehr man die
desorientierende und anachronistische
Rolle versteht, typisch für die kleinbür-
gerlichen, anarchistischen Positionen und
ihr politisches Credo - zucam menge faßt
in der Aktion und der Bombe gegen die
NATO.
Wir müssen für alle klarstclkn. daß der
Ursprung dieses schlimmen Anti-Impe-
rialismus in der Enge seiner politischen
Vorstellung wurzelt und in der Armut
ideologischer und organisatorischer Ge-
sichtspunkte, die schlecht von den Erfah-
rungen anderer Völker kopiert wurden.
Wir müssen uns am Ziel orientieren, den
ideologischen Kampf und den Kampf um
die Prinzipien gegen diese opportunisti-
sche Strömung unterstützen.
Wir sollten uns daran erinnern, daß das
alte Territorium Deutschlands der Ort des
Zusammenstoßens zweier antagonisti-
scher Lager ist; des Sozialismus und des
Kapitalismjs. In der BRD kann man bes-
ser als an jedem anderen Ort die Rolle
sehen, die in der heutigen Welt die mili-
tärischen Organisationen der anti-kom-
munistischcn Allianz spielen. Es ist des-
halb leicht zu verstehen, daß die revolu-
tionäre Bewegung dort mehr auf der
Form der militärischen imperialistischen
Allianz insistiert hat, als auf ihren Klas-
seninhalt. Mehr auf die äußere Macht des
Imperialismus, als auf die Aufgaben der
Organisierung, der Aufklärung und des
Bemühens, sich an die Spitze der Arbei-
terklasse zu stellen, um nicht nur mit den
Allianzen des Imperialismus fertig zu
werden, sendem. wps wichtiger ist. mit
den Klassen und der Produktionsweise,
die jene ermöglichen.
Es spricht wenig für die RAF. wenn sie
nach 15 Jahren bewaffneten Kampfes
gegen den Imperialismus noch nicht die
Gnindzügc ihrer anti-imperialistischen
Strategie skizziert hat. Die übrigen revo-
lutionären Bewegungen Europas haben
schon wichtige und entscheidende Schrit-
te nach vorne gemacht in der politischen,
organisatonschen und ideologischen Ge-
staltung ihrer Organisationen auf dem
Weg zum Kommunismus, während die
RAF weiterhin in den alten Vorstellun-
gen cingeszhlossen bleibt, ehe sie zum
Entstehen gebracht haben; die Unterstüt-
zung der nationalen Befreiungsbewegun-
gen in den Kolonien und die direkte
Konfrontation mit dem Imperialismus,
ohne sich an Klassenkonzeptionen zu
halten.
Ihr alter und geliebter Vorschlag einer
westeuropäischen Front hat eine durch-
schlagende Zurückweisung erfahren sei-
tens der kommunistischen Strömung. Ihr
ist allein die "Vereinigung" mit Action
Dircctc gelungen, einer Gruppe ohne die
Geschichte der RAF, obgleich mit den
gleichen politischen Vorstellungen anar-
chistischer Tendenz. Diese westeuropäi-
sche Front ist außerdem die schlechteste
Parodie der Fronten der nationalen Be-
freiungsbewegungen der Kolonien und
der Halbkolonien, die cs auf europäi-
schem Boden geben kann. Die Deutschen
neigen sehr dazu, diese Bewegungen als
politische Modelle universeller Gültig-
keit inzusehen. obwohl der so einschnei-
dende Unterschied zwischen Europa und
Ländern der 3.Welt unmittelbar ins Auge
springt; sie haben immer versucht, sich in
solch eine Bewegung zu verwandeln.
Diese vereinfachende und eindimensio-
nale Analyse, die häufig von den ver-
schiedenen revisionistischen Strömungen
vertreten wurde - besonders von den
jruchovisias [... - gemeint sind die An-
hängerinnen Chruschtschows. Anm. d.
Hg.) - wurde von Mao Tsc Tung hart kri-
tisiert. "weil sie dazu tendiert, alle Wi-
dersprüche, die cs auf der Welt gibt, sub-
jektiv durch einen einzigen zu ersetzen.”
Mit solch einem speziellen Schema ist
auf dem revolutionären Terrain in West-
europa sehr wenig zu machen Besonders
dann, wenn man sich das Schlechteste
zum Vorbild nimmt; das heißt, wenn wir
uns an den Äußerlichkeiten fcsthalten
und unfähig sind, den politischen und
militärischen Inhalt zu begreifen, den
diese Bewegungen in sich tragen. Es
steht fest, daß die Völker und Nationen
der 3. Welt den Proletariern Europas sehr
wertvolle Lehren zur Verfügung gestellt
haben. Aber ihre Formeln einfach nur ab-
zupausen und nachzumachen, ist eher
kennzeichnend für Dunmköpfc als für
Revolutionäre.
Wir können uns eine umfassendere Vor-
stellung von ihrem Opportunismus und
Spontaneismus machen, wenn wir uns
aufmerksamer mit der Interpretation aus-
einandersetzen. die sie von ihrem Vor-
schlag der "Einheit" geben. In Wirklich-
keit schlagen sic überhaupt keinen über-
zeugenden Grund vor, Jcr cs rechtferti-
gen und erlauben würde, diese "Einheit"
zu begreifen, es sei denn "die Schaffung
von reuen Bedingungen für den Kampf
im eigenen Land.“ Aber als Marxisten
müssen wir uns fragen: neue Bedingun-
gen aufgrund welcher Prinzipien? Ohne
Zweifel kommen unsere Genossen von
der RAF sehr schwach daher, was Prinzi-
pien inbelangt: deshalb ist ihre Antwort
auf diese Frage eher praktischer Art. man
beabsichtigt, "die Reaktion im Kampf zu
antizipieren." Diese Meinung wiederho-
len sic in ihren neuesten Dokumenten
hartnäckig, was uns jedenfalls an ihre In-
23
terpretation der revolutionären Politik als
' Strategie gegen ihre Strategie" erinnert.
Sie sind so sehr besessen davon, ihren
'anti-impcnalisiischen" Kampf In den
Kontext der Weltrevolution zu stellen,
die weltweite "anti-imperialistische
Front” etc., daß sie die Entstehung und
Entwicklung der neuen revolutionären
Bewegung in Europa auf externe Gründe
zurückführen, anstatt auf interne Ursa-
chen: sie versichern, daß die Niederlage,
die der Imperialismus in Vietnam erlitten
hat (sicher ein sehr wichtiger Faktor für
seine Schwächung) Hauptursache der
ökonomischen urd politischen Kris: des
Imperialismus gewesen sei. Wenn wir
uns jedoch an die Dialektik halten (ein
Wort mit merkwürdigem Klang für die
RAF. wie wir weiter oben gesehen ha-
ben). erkennen wir. daß die Hauptursa-
che für die gegenwärtige tiefe Wirt-
schaftskrise des Kapitalismus eine Krise
der Überproduktion und der Restruktu-
rierung des Kapitals ist. Dies ist dem Ka-
pitalismus immanent. Die Krise gehorcht
einem neuen Entwicklungsgrad des Wi-
derspruchs zwischen den Produktivkräf-
ten und den ererbten Produktionsverhält-
nissen aus der Nachkriegszeit.
Die Genossen der anti-imperialistischen
Strömung müssen die Lektion lernen, die
wir in "Der revolutionäre Kampf ver-
schärft die inncrimperialistischen Wider-
sprüche" vertreten haben. Da machen wir
klar, daß der beste Anti-Imperialismus
und proletarische Internationalismus der-
jenige ist. der sich dem Kampf gegen
seine imperialistische Bourgeoisie ver-
pflichtet. weil dadurch, daß man die ei-
gene Bourgeoisie bekämpft und sie
stürzt, man dem Imperialismus eine Nie-
derlage bereitet und er auf allen Ebenen
zurückgeschlagen wird.
Klar ist. wie sic sagen, daß die Kon-
frontation zwischen Imperialismus und
"Befreiung" verliuft. nicht zwischen Ka-
pitalismus und Sozialismus, nicht zwi-
schen nationaler imperialistischer Bour-
geoisie und dem revolutionären nationa-
len Proletariat, das dafür kämpft, die
Diktatur des Proletariats durchzusetzen,
seinen Staat.
Ihre so ersehnte Befreiung hat einen
"intcrklassistisch:n" Charakter, was sehr
viel eher den revolutionären politischen
Konzeptionen anderer Gefilde entspre-
chen würde, wo zusammen mit einem
schwachen Proletariat eine Bauernschaft
existiert, die die Hauptkraft der Bevölke-
rung ausmacht und eine kleine und mitt-
lere Bourgeoisie.
ln Europa hingegen machen die Bauern
im allgemeinen weniger als lOft aus.
während das Proletariat die immense
Mehrheit der Bevölkerung ist. Wir haben
keine nationale Bourgeoisie, die die Re-
volution fordert, unter anderem weil die
Epoche der bürgerlich-demokratischen
Revolution in Europa schon lange Zeit
vorbei ist.
Kein Zweifel, die Anti-Imperialisten
werden deshalb nicht von ihren Vorstel-
lungen ablassen. Sie sehen die Radikali-
sierung bedeutender Sektoren des Klein-
bürgertums. die ihre alte Rolle der
"Intclligcnzia" (Techniker. Lehrer. Jour-
nalisten. Studenten etc.) entwertet sehen
durch die großen monopolistischen
Trusts (die ohne Mitleid die alten libera-
len Berufe opfern, die mehr oder weniger
freien Berufe, die von der Gesellschaft
der liberalen Bourgeoisie geerbt wurden).
Sic versuchen, die Interessen dieser Sek-
toren in der politischen Szene zu reprä-
sentieren. Man begreift so die mutigen
Angriffe auf die großen Indistrie- und
Militäruntemehmen der SchHisscIsckto-
ren des Imperialismus und auf die reprä-
sentativsten Institutionen der imperialisti-
schen Bourgeoisie.
Trotz allem ist es in Europa das revolu-
tionäre Proletariat, das auf die Bourgeoi-
sie zielt, das sie stürzen will ctc. Sein
Programm ist ein Klassenprogramm, ver-
tritt die Strategie des langandaucmdcn
Volkskrieges, der im Volksaufstand
mündet, um die Diktatur des Proletariats
durchzusetzen. Das Kleinbürgertum hin-
gegen richtet seine Anstrengungen gegen
die Militärapparate der imperialistischen
Allianz, gegen die NATO ctc.. und in
seiner Strategie taucht weder die Diktatur
des Proletariats, noch die These vom lan-
gandauemden Volkskrieg auf. noch
stützt es sich auf die Basis d:r Arbeiter-
klasse.
Die Kommunisten jedes Landes hinge-
gen helfen bewußt dem Proletariat ihres
Landes im Kampf gegen ihre Bourgeoi-
sie. gegen deren Ausbeutungs- und Un-
terdrückungplänc, und den bürgerlichen
Opportunismus zu demaskieren. Sie or-
ganisieren die Arbeiterklasse unabhängig
von der Bourgeoisie und von den kor-
rumpierten und integrierten Gewerk-
schaften. um die Klasscnkollaboration
der reformistischen und revisionistischen
Parteien zu denunzieren und gegen sie zu
kämpfen etc. Davon ausgehend müssen
sich die Kommunisten bemühen, eine
mächtige marxistisch-leninistische Partei
zu schaffen, mit dem Ziel, das Proletariat
gegen die Finanzpligarchie und die
Großgrundbesitzer und ihren Staat zu
führen. Ohne diese proletarische Partei
ist die Revolution der grandiosesten Nie-
derlage ausgeliefcrt. Ohne diese Partei
werden alle Versuche nutzlos, den be-
waffneten Kampf für den Kommunismus
zu organisieren.
In einem von der RAF radikal verschie-
denen Sinn artikulieren sieb die Roten
Brigaden für den Aufbau der kämpfen-
den kommunistischen Partei etc. in ihren
letzten Dokumenten, wo sic sich auf die
Notwendigkeit "der proletarischen und
revolutionären Alternative zur Krise der
Bourgeoisie und dem imperialistischen
Krieg" beziehen. Die Roten Brigaden sa-
gen in ihrem Text "Strategische Achse
für die Konstruktion der Partei”, daß sic
früher aufgrund ihrer "relativen Unerfah-
renheit und politischen Jugend” ihren
damaligen Charakter als kämpfende re-
volutionäre Kraft nicht wcitcrcntwickcln
konnicn. Es ist kein Zufall, daß die Wi-
dersprüche in den Brigaden sich in dem
Moment verschärften, wo "sie die ganze
Gültigkeit und Tiefe ihrer Erfahrungen
beweisen, die sic in den Jahren des
Kampfes aufgebaut haben.” In diesem
Moment war die Grenze der Entwicklung
erreicht, die durch die bis dahin konzi-
pierte Strategie des bewaffneten Kamp-
fes ermöglicht wurde.
Wir haben am Anfang dieses Textes ge-
sagt. daß der bewaffnete Kampf, so wie
er konzipiert und bis vor kurzem durch-
gcfiihrt wurde, die Aufgabe reichlich er
füll! hat. die ihm durch historische und
politische Bedingungen der ersten Phase
des revolutionären und proletarischen
Kampfes bestimmt war die Demaskie-
rung der bürgerlichen Demokratien, des
Klassencharakters der monopolistischen
und chauvinistischen Bourgeoisie, der
Rolle der rcformisliscten und revisioni-
stischen Parteien als Lakaien der Mono-
pole. Außerdem eine praktische Tatsache
von großer Bedeutung auf dem politi-
schen Terrain zu beweisen: daß man den
monopolistischen Staat, den Imperialis-
mus bekämpfen und besiegen kann.
Wenn jetzt diese Ziele erreicht sind, ist
es logisch, daß ohne Verzögerung die
Aufgaben angcpackt werden müssen, die
zu einer marxistisch-leninistischen Partei
führen, fesl verankert in den Prinzipien
und verwurzelt im revolutionären Prole-
tarial. Ohne Zweifel ist der bewaffnete
Kampf weiterhin die Lanzenspitze der
Widerstandsbewegung, die vom Proleta-
riat angeführt wird und von der Partei ge-
leitet.
Diese Grenze, von der wir schon oft ge-
sprochen haben, kann man nur zerbre-
chen (wie das schon einige revolutionäre
und proletarische Organisationen ma-
chen). indem man sich bemüht, alle Auf-
gaben ideologischer, politischer und or-
ganisatorischer Art auszuführen, die auf
die Konstruktion und Ausbreitung aller
Sektoren des Proletariats in den Fabriken,
den Schichten, den Stadtvierteln ctc. ab-
zielen. Denn nur ausgehend von der brei-
ten Perspektive, die die Partei bietet,
kann die Guerillaaktivität und die Orga-
nisierung der fortschrittlichen proletari-
schen Massen simultan und sich ergän-
zend entwickelt werden.... die bereit und
entschlossen zum mutigen Kampf eegen
24
den kapitalistischen Staat der Monopole
sind.
In die ökonomische Sponaneität zu fal-
len. kann nur überwunden werden, wie in
einem Dokument der BR für die FCC
versichert wird, "wenn die Prinzipien des
Marxismus und alle historische Erfah-
rung des internationalen Proletariats si-
cher festgehaltcn werden.” Schließlich
besteht für die Roten Brigaden, im Ge-
gensatz zu dem. was die RAF aufrcchtcr-
halt, die Hauptaufgabe fUr die europäi-
schen Revolutionäre im Aufbau der
kämpfenden kommunistischen Partei,
denn: "das ist die Forderung, die die
Massenmobilisierungen ausdrückcn, die
Forderung. Für die möglichen Transfor-
mationen zu kämpfen, die die Situation
braucht: auf dem politischen revolutionä-
ren Terrain zu kämpfen für die Verände-
rung des Kräfteverhältnisses zugunsten
des Proletariats, die proletarische revolu-
tionäre Offensive aufzubaucn, ausgehend
von der Einheit und Autonomie, die die
Massen gegen die Umstrukturierung und
gegen den imperialistischen Krieg zum
Ausdruck bringen."
'Die revolutionäre Alternative konkreti-
sieren und verstärken, zu der die proleta-
rischen Mobilisierungen objektiv tendie-
ren. und was zum Teil den Kommunisten
und revolutionären Avantgarden subjek-
tiv auferlegt, die Reihen fester um die
Hauptaufgaben der aktuellen Situation zu
schließen. Das ausgehend von einer poli-
tisch-militärischen Praxis gegen die anti-
proletarische und reaktionäre Politik der
sozialen Befriedung, gegen die militari-
stische Politik des westlichen Imperia-
lismus."
Die Roten Brigaden führen voller Mut,
trotz der Hindernisse und der Schläge der
Opportunisten und Abenteurer unter die
Gürtellinie, eine wertvolle Selbstkritik
durch, in der sie die politische revolutio-
näre Arbeit auf theoretischer und prakti-
scher Ebene neu bestimmen, unter dem
Licht der Erfahrungen von 15 Jahren be-
waffneten Kampf für den Kommunis-
mus. Mit ihrer Kritik stellen sie die leni-
nistischen Organisationsprin/ipien. den
demokratischen Zentralismus, gegen den
kleinbürgerlichen, individualistischen
Egoismus. Sic schützen die proletari-
schen Interessen und Prinzipien der Klas-
se gegenüber den monopolistischen In-
teressen, die zur Zeit die Aufgabe und
Auslieferung des Kampfes verfechten.
Die Regierungen der Monopole sind jetzt
daran interessicti, diese abschwörcrischc
Haltung zu schüren, angesichts der
mächtigen revolutionären Bewegung der
Arbeiterklasse, die überall in dieser Si-
tuation der akuten Krise des Imperialis-
mus anwächst. Einer Krise, die die politi-
schen und ökonomischen Fundamente
der kapitalistischen Länder erschüttert.
Die Roten Brigaden stellen den proletari-
schen Kampf dagegen, der darauf ausge-
rüstet ist, die politische Macht zu ergrei-
fen, gegen den Opportunismus derjeni-
gen. die den bewaffneten Kampf in der
gleichen Weise rrchtfertigen. wie der
bürgerliche Soziologe die Explosion ge-
walttätiger Radikalität aufgrund der
Mängel der kapitalistischen Gesellschaft
erklärt und nicht aufgrund ihrer wirt-
schaftlich-historischen Wurzeln. Klein-
bürgerliche Soziologen, die jetzt begei-
stert das Wohlwollen des imperialisti-
schen Staates suchen.
Wie wir sehen, favorisiert die Kritik der
Roten Brigaden, die sic an
“guerillcristischcn" Positionen haben, die
Absicherung der kommunistischen Posi-
tion und die Klärung der Strategie der
Kommunisten.
Über diesen letzten Punkt haben wir un-
sere Meinung bereits in unserem Artikel
"Partei und Guerilla" erklärt, den wir
gerne allen geben, die an einer detaillier-
teren Diskussion Uber die Strategie der
Kommunisten in Europa interessiert sind.
Deshalb müssen zwei fundamentale
Schlußfolgerungen aus unserer Kritik ge-
zogen werden:
1. es gibt zwei unterschiedliche Arten,
revolutionäre Politik in Europa durch den
bewaffneten Kampf zu machen:
- eine kommunistische, die sich auf Er-
gebnisse stützt, die es bis jetzt im Kampf
gegeben hat, und die die These vom lan-
gandauemden Volkskrieg vertritt, der
notwendigerweise in den Volksaufstand
mündet;
- die andere Richtung, die anarchistisch,
kleinbürgerlich und opportunistisch ist,
der eine revolutionäre Strategie fehlt und
die kein anderes politisches Ziel hat, als
den militärischen Institutionen des Impe-
rialismus Schläge zu versetzen.
2. daß auch aus den Erfahrungen, die bis
jetzt gemacht wurden, in erster Linie jetzt
die Schaffung der kommunistischen Par-
tei, der Organisation der kämpfenden
Arbeiter herausragt. Diese Position wird
von der kommunistischen Strömung ver-
treten, die das Militärische vom Politi-
schen abhängig macht. Die "anti-imperia-
listische" Strömung hingegen beachtet
diese Aufgaben der Kommunisten nicht,
führt die Entfremdung und Verbürgerli-
chung der Arbeiter an und läßt sich auf
ein intcrklassistischcs Terrain ein, das
nach außen hin sehr bombastisch wirkt,
wie die "westeuropäische Guerilla", aber
ohne jeden proletarischen Inhalt und oh-
ne jede Perspektive ist.
Eine unverzichtbare Aufklärung
Unsere Aufmerksamkeit wird besonders
auf die Haltung gelenkt, die in Italien als
“zweite Position" eingenommen wird, die
als eine Strömung aus den Roten Briga-
den hervorgegangen ist. und die heute
von dieser Organisation getrennt ist.
Wegen der Vcrwinungcn, die dos Vertr-
eten der unterschiedlichen Positionen in
die Reihen der revolutionären Bewegung
tragen kann, wollen wir kurz auf die
Konsequenzen eingehen, welche unserer
Meinung nach gegen diese Posilions-
nahme sprechen. Das ist notwendig gera-
de zu diesem Zeitpunkt, in dem ein wich-
tiger Sprung nach veme gemacht wird.
Ebenso wie die Mehrheit der revolutionä-
ren Gruppen in Europa, läßt diese Positi-
on zu, daß eine Etappe bereits zu Ende
ist und jetzt eine andere innerhalb der
Bewegung beginnt.
Aber trotzdem sind für sie die Konzepte
des langandauemden Volkskrieges und
des bewaffneten Kampfes für den Kom-
munismus veraltet. Sie (diese Position)
verteidigt dagegen eine klassische Kon-
zeption des Aufstandes. Das heißt, sie
negieren, daß es gegenwärtig ohne die
Entwicklung des langandauemden
Volkskrieges unmöglich ist, alle notwen-
digen Bedingungen für den Aufstand zu
schaffen, um im richtigen Moment das
bürgerliche Regime stürzen zu können.
Wie sie sagen, ist der bewaffnete Kampf
weiterhin die Form, kommunistische Po-
litik zu machen. Aber ihre Indefinition
(ihre Undenniertheit) der Art und Weise,
wie Politik mittels des bewaffneten
Kampfes zu machen ist, macht cs not-
wendig. daß wir das aus dem Rest ihrer
Erklärung erraten. Auf den ersten Blick
fällt einem auf, daß ihre Positionen des
bewaffneten Kampfes ausschließlich de-
fensiv sind, sowohl auf dem politischen,
wie auch auf dem militärischen Terrain.
Bezüglich der kommunistischen Partei,
ihrer Aktivitäten und Ziele, Propaganda.
Organisierung etc. kann man einige ihrer
Vorschläge akzeptieren. Natürlich ist
klar, daß die Tatsache, daß man für die
Diktatur des Proletariats ist und Für den
Sozialismus, nicht viel klar macht über
die Aufgaben der Kommunisten, wenn
diese strategischen Ziele in keiner Weise
präzisiert werden - ohne die geringste
Konfusion oder Unsicherheit.
Die passive Rolle, die sie in der Theorie
und in der Praxis dem bewaffneten
Kampf zuordnen, korrespondiert mit ih-
rer Einschätzung der Situation als nicht
revolutionär. Scheinbar ist dies ihre
große Entdeckung. Außerdem scheint es
Für sic schon eine ausgemachte Sache zu
sein, daß der Aufstand losbricht, wenn es
eine revolutionäre Situation gibt. In unse-
rem Artikel "Partei und Guerilla" haben
wir gesagt, daß wir uns in der Entwick-
lung in eine revolutionäre Situation be-
Fmden, und wir haben dafür zahlreiche
wirtschaftliche, politische und selbst
psychologische Tatsachen angeführt, die
25
wir hier nicht wiederholen wollen. Die
"/.weite Position' ignoriert die Tatsache,
daß einzig durch die Entwicklung des
langandauernden Volkskrieges auf lange
Sicht die Entfesselung des Aufstands
hervorgerufen werden kann, daß der lan-
gandauemde Volkskrieg, die politische
Widerstandbewegung der breiten Massen
und die Guerilla der aktive Faktor und
das auslösendc Moment sind, wenn be-
reits die politischen und Ökonomischen
Bedingungen geschaffen wurden, und
wir direkt mit der extremen Verschirfung
der sozialen Widersprüche und der ob-
jektiven Bedingungen konfrontiert sind.
Deshalb ist cs von vitaler Bedeutung von
jetzt ab (und entsprechend wie es die Si-
tuation der revolutionären Kriifte in je-
dem Land erlaubt), die Aufgaben in An-
griff zu nehmen, die dazu führen, die
Guerilla in jeder Hinsicht zu stirken;
nicht den "bewaffneten Kampf als
"Unterstützung" der kommunistischen
Politik, sondern die Guerilla mit ihrer ei-
genen Wcscnsesnhcit im Militärischen,
Organisatorischen und mit ihren Zielen.
Natürlich werden diese immer in ihren
grundlegenden Linien orientiert urd ge-
führt sein durch die Partei der Arbeiter-
klasse. Aufgrund ihrer Äußerungen über
die Rolle des bewaffneten Kampfes kann
die Position, die von ihnen vertreten
wird, nur als beschämend qualifiziert
werden, weil sie diese wichtige Methode
des modernen revolutionären Kampfes
nicht so bewerten, wie es sein müßte.
Weil sich gänzlich gegen den bewaffne-
ten Kampf zu stellen bedeuten würde,
mit rasender Geschwindigkeit auf das
Terrain des opportunistischen Revisio-
nismus abzugleiten, schreiben sie ihm
weiterhin eine Bedeutung zu; nur tun sie
das, weil es ihnen von den Ereignissen
aufcrlcgt wird und nicht, weil sie eine
marxistisch-leninistische Bewertung der
Situation der am meisten entwickelten
kapitalistischen Länder machen und ohne
die entsprechende Verantwortung auf
sich zu nehmen, die das in sich trägt.
Diese Bewertung kann nur darin beste-
hen, daß in den Ländern des modernen
kapitalistischen Staatsmonopolismus
keine Bedingungen bestehen, um eine
Politik durchzufJhren, die auf friedliche
Weise revolutionäre Kräfte ansammclt,
die "im Kalten" die politischen und mili-
tärischen revolutionären Kräfte der Partei
und der politischen Organisationen der
Arbeiter und der Guerilla ansammelt.
Es handelt sich um eine historische Cha-
rakteristik des Imperialismus. Eine Cha-
rakteristik, die strategisch von den revo-
lutionären Kommunisten in Betracht ge-
zogen werden muß. Es handelt sich in
keinem Augenblick um ein taktisches
Problem, um eire Möglichkeit oder Zu-
fälligkeit. sondern um eine fundamentale
Grundlinie der Zeit, in der wir leben.
Wenn wir außerdem in Betracht ziehen,
daß die Entwicklung der revolutionären
Situation in jeder Hinsicht und Perspek-
tive progressiv ist. autcrlegt uns diese
Tatsache noch dazu wichtige Bezüge zur
militärischen Aktivität und zur politi-
schen Aktivität. Die Zukunft der revolu-
tionären kommunistischen Bewegung
läuft darüber, daß sie es lemt. in der rich-
tigen Bestimmung die militärische Akti-
vität der Guerilla und die politische Ak-
tivität der Partei miteinander zu verbin-
den.
Nur auf diese Weise kann längerfristig
garantiert werden, daß, wenn die politi-
sche Widerstandsbewegung der breiten
Massen genügend gereift ist, ebenso wie
das Proletariat, die Guerilla und die Par-
tei, und wenn die objektiven notwendi-
gen Bedingungen erreicht sind, sowohl
das militärische als auch das politische
Programm der proletarischen Revolution,
das Zusammenflüßen des Volkshceres
und der Aufstand für die Zerschlagung
des bürgerlichen Regimes gesichert wer-
den können.
Sich von diesen grundlegenden Linien zu
trennen bedeutet heute, sich vom Kom-
munismus zu trennen.
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KAPITALISMUS UND LEBENSWEIT
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INTERVIEW: CETO BOYS
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Nummirii 2V- |>M \ vhniMli vml knnf Mm
N r |.»i K | ( «. im am/ im.vi.
Fredtfric Oriach
Der bewaffnete Kampf als
strategische und taktische
Notwendigkeit des Kamp-
fes für die Revolution
I. Einführung
I. Du- Revolution ixt nicht ein Existentia-
lismus sondern ein konkretes Projekt
Wir bezeichnen uns als Kommunisten,
was aber weder als Anspruch einer Iden-
tität noch als moralische Aussage zu ver-
stehen ist. da der Wille zum Kommunis-
mus zweifelsohne auf ganz, unterschiedli-
chen philosophischen Motivierungen be-
reiten kann, sondern als Sinnbezug und
vor allem als Bezugsrahmen auf ein kon-
kretes präzises materielles Projekt. Eine
Gesellschaft ohne Klassen und damit oh-
ne Staat, die Entfaltung der Menschheit
im Sinn ihrer Bedeutung durch die dia-
lektische Auflösung der Widerspreche,
welche die potentielle Menschheit in ei-
ner primitiven Phase halten, in der das
menschliche durch die Beherrschung und
Ausbeutung des Menschen durch den
Menschen negiert wird. Diese Hoffnung
ist Triebkraft und Ziel unseres Kampfes,
das revolutionäre Einwirken auf die Ge-
schichte ist somit die Praxis, die diese
Zielsetzung verwirklichen soll. Wir stel-
len das klar, da allzu häufig unter dem
Gewicht der Entfremdung. Verfall der
Willenskräfte, zermürbende Mittelmäßig-
keit und Herdentrieb Hoffnung und Wille
in eine feige und ängstliche Flucht in ei-
ner Art Gewerkschaftsbewegung des All-
tags umgekehrt werden.
Dann sprechen wir von Revolution und
geben dabei diesem Wort seinen ganzen
Sinn, sein ganzes Gewicht, seine extreme
Genauigkeit und seine absolute Globali-
tät wieder. Unser Ziel ist es, die Revolu-
tion zu machen und nicht.
"Kommunisten zu sein", sondern den
Kommunismus als neue soziale Bewe-
gung einzusetzen.
Dieses legt politische Bestimmung mit
strategischer Bedeutung fest. In der Tat.
um unsere Befreiung von Ausbeutung
und Unterdrückung zu erreichen, müssen
wir unsere Lage innerhalb der Geschichte
in den Griff bekommen. Durch unser
Handeln in der Gegenwart errichten wir
unsere Zukunft. Aus diesem Grund wäre
es historisch selbstmörderisch, die revo-
lutionären Bestrebungen in Richtung ei-
nes (wenn auch unbewußt) in der Ver-
gangenheit anknüpfenden Willens, sich
dem Sinn der Geschicke zu widersetzen,
umzulcnken. Das gescheht jedoch, wenn
manche dazu kommen, als Alternative
den Rückschritt auf vorkapitalistische
Formen der gesellschaftlichen Produk-
tion und Organisation vorzuschlagcn
««kr aber (bei den angeblich radikalsten)
wenn das politische Handeln sich darauf
beschränkt, gegen alles zu sein, was die
kapitalistische Entwicklung kennzeich-
net. Wir weisen hier auf den Aniiimpc-
rialismus. wem er sich darauf be-
schränkt. sich den Wirkungen des Impe-
rialismus entgegensetzen zu wollen, den
Antimonopolistnus. den Antifaschismus,
das gegen alles und jedes sein, wobei die
gesellschaftliche Problematik auf
Schnickschnack-Ideen in Form von
Zwangsmonormnien beruht. wobti z.B.
als prinzipielle Frage die Politik der
Kernenergie oder des Rassismus oder des
amerikanischen Imperialismus oder der
"Kriegsvorbereitungen" usw. gestellt
werden. Genug Schnickschnack! Die
Realität läßt sich nicht zerstückeln, ent-
weder faßt man sie in ihrer komplexen
Totalität oder trän begreift sic nicht und
bleibt ein Reformist oder versucht, ir-
gendwelche Errungenschaften zu wah-
ren. die integraler Bestandteil der bour-
geoisen Hcrrschaftsmcchanismcn sind.
"Menschenrechte". "Freiriumc".
"Demokratie". “Unterschiede".
"Autonomie" usw. eine lange Litanei
bourgeoiser Werte.
Wir wollen damit nicht sagen, man solle
nicht bei Gelegenheit das verteidigen,
was ab und zu die Brutalität cinKhrän-
ken kann. Das ist notwendig, wie für die
Arbeiterklasse der wirtschaftliche Kampf
in den Betrieber notwendig ist. Wir wol-
len nur sagen, daß es objektiv reaktionär
ist. wenn man aus der Defensive eine Po-
litik machen will (und wenn cs die
"Antiimperialistische" Abwehr ist». Re-
volutionär /u sein, bedeutet nicht gegen
die historische Entwicklung des Kapita-
lismus zu sein, sondern ganz im Gegen-
teil fUr dessen Überwindung einzutreten.
Man muß für die Vernichtung des Kapi-
talismus durch seine historische Über-
windung eintreten und nicht für das ver-
gebliche Bemühen, seinen unerbittlichen
Gang zu verlangsamen. Revolutionär
sein heißt entschlossen in die Zukunft
blicken, ein Projekt milleben, eine Zu-
kunft errichten, neue im Kampf ge-
schmiedete Werte entstehen lassen.
2. Die imperialistische Realität, in der
wir uns befinden
Unsere Absicht ist hier nicht, die derzei-
tige Lage und dis Arbeitsweise des Impe-
rialismus zu analysieren, sondern die
Entscheidung iUr eine bewalfnete Politik
zur Machtübernahme und zur Durchset-
zung der Revolution zu erklären. Im üb-
rigen ist es nicht die objektive augen-
blickliche Lage, die unsere strategischen
Projekte und Entscheidungen bestimmt,
sondern erst ausgehend von unseren hi-
storischen Plänen analysieren wir dann in
der Folge die jeweilige Situation, um ihr
unsere Taktik möglichst wirkungsvoll
anzupassen (viele, auch kämpfende
Gruppen, tun das Gegenteil und lassen
sich ihre strategischen Entscheidungen
von der jeweiligen Situation diktieren,
was dazu führt, daß sic etwas als
"strategische Projekte" vorstellen, was
nur der mehr oder weniger partielle Ver-
such ist. Probleme des Imperialismus
usw. zu analysieren und was zeigt, daß
sie keinerlei historische Perspektive ha-
ben). Doch da nicht jeder unbedingt alle
unsere Analysen und Vorschläge kennt,
ist es vielleicht in dieser Einführung
nützlich, in großen Zügen die imperiali-
stische Lage kurz zu skizzieren, in der
unser Kampf stattfinden muß.
Die derzeitige Entwicklungsphasc des
Imperialismus ist gekennzeichnet durch
eine strategische Umorientierung, wobei
es in erster Linie um die Herausbildung
der imperialistischen Zentren selbst geht,
während sich die imperialistische Pro-
duktionsweise in der vorherigen Phase
zunächst in Richtung Peripherie aus-
dchntc. Das bedeutet natürlich nicht, daß
sich der Imperialismus aus der 'Dritten
Welt“ (= 3/4 der Welt) zurückzicht. cs sei
denn, er ist angesichts des Aufstiegs der
revolutionären und nationalen Befrei-
ungskämpfe dazu gezwungen. Ganz im
Gegenteil, in den beherrschten Ländern
erleben wir eine Verstärkung der immer
brutaler werdenden Ausbeulung, deren
krimineller Charakter erst ganz zu Tage
tritt, wenn man weiß, daß dank der sozi-
al-ökonomischen Strukturen dieser Pro-
duktionsweise die mittlere Lebenserwar-
tung in der Dritten Welt bei nur 54 Jah-
ren liegt und daß liier über 300 Millionen
Menschen voll arbeitslos sind. Die Ent-
wicklung des Imperialismus, innerhalb
dessen Frankreich eine treibende Kraft
ist, besonders als zweiter Unterdrücker
nach den USA und als Vektor des ameri-
kanischen Imperialismus, führt zu einer
ständigen Vergrößerung der Ungleichhei-
ten. Während im 17. Jahrhundert der Ab-
stand zwischen dem reichsten und dem
ärmsten Land 1:2 betrug, liegt er jetzt bei
1:40. Und cs wird immer schlimmer, da
es der Weltbank zufolge im Jahr 2000 in
den "Entwicklungsländern" 700 Millio-
nen Menschen geben wird, die in absolu-
ter Armut leben. Das wird dieser höchst
amtlichen Stelle zufolge dazu führen, daß
selbst unter den "Entwicklungsländern"
mit dem schnellsten Wachstum nur 9
daraut hotten können, die Industriestaa-
ten einzuholcn und auch das erst in 100
Jahren! Außer natürlich, wenn es eine
radikale Änderung der Produktionsweise
gibt.
Wenn man das wahre Wesen der impe-
rialistischen Produktionsweise verstehen
will, um ihr die großen strategischen Li-
nien. welche die revolutionäre Bewegung
cinschlagen muß, anzupassen, so muß
man sich ganz klar machen, daß die
Tremungslinie nicht mehr zwischen den
beherrschten Formationen und den impe-
rialistischen Metropolen verläuft, son-
dern diese selbe Linie sich auch in den
imperialistischen Zentren fortsetzt. Es
wäre ein großer Irrtum, eine revolutio-
näre Analyse auf rein ideologische oder
moralische Kriterien zu gründen und da-
von auszugehen, daß die Ausbeutung der
Völker der Dritten Welt sehr viel krasser
erscheint und daß im Vergleich die Lage
des Proletariats im Westen bevorzugt er-
scheint. Einige gehen in ihrer ideologi-
schen Beurteilung soweit, die Existenz
des Proletariats im Westen überhaupt zu
leugnen, weil sie angeblich an der Aus-
beutung der Völker der Dritten Welt be-
teiligt sein sollen, was allerdings dazu
führt, daß inan den revolutionären Kampf
auf den Ausdruck einer einfachen inter-
nationalistischen, auf db Dritte Well aus-
gcrichtctcn Solidarität verkürzt, die au-
ßerhalb des Hauptrahmens für jede natio-
nale, sozial-ökonomische Formation
steht nämlich dem Klassenkampf auf na-
tionaler Ebene. Solche Standpunkte, die
charakteristisch sind für den kleinbürger-
lichen Intellektualismus, treffen sich mit
dem Kretinismus der unwissenschaftli-
chen subjektivistischcn Auffassungen
von einer angeblichen Verbürgerlichung
der Arbeiterklasse (was dann durch die
Anziehungskraft der Randgruppenexi-
sten/ ausgeglichen würde).
Das sind nur rein kulturelle Rechtferti-
gungen der derzeitigen Passivität jener,
die sich als Revolutionäre bezeichnen
und sich nur der Radikalisierung des
Klassenkampfs durch einen kommuni-
stisch bewaffneten Kampf unter proleta-
rischer Führung widersetzen wollen.
Weit davon entfernt, sich in einem mate-
riellen Wohlstand aufzulösen, der die
Unterschiede zwischen den Klassen
durch eine gerechte Neuverteilung der
den Völkern der Dritten Welt abgepreß-
ten Superprofite einebnet, vergrößern
sich die sozialen Ungleichheiten auf al-
len Ebenen nur noch mehr. In Frankreich
z.B. besitzen der INSEE zufolge 1980
5% der reichsten Haushalte 69 % des
Gesamtvennögens; die Kluft zwischen
den Einkünften der 125.000 reichsten
Haushalte und den 10% der ärmsten hat
das Verhältnis 1:1000, und übrigens mit
steigender Tendenz seit dem 2. Welt-
krieg. Außerdem ergeben sich hierbei
sehr starke regionale Unterschiede (was
übrigens dazu beiträgt, die schwachen
Versuche, Westeuropa als ein vereinheit-
lichtes Feld zu betrachten, in dem sich
eine einheitliche revolutionäre Politik
entfalten könnte, in Frage zu stellen).
27
wenn man weiß, daß über 5 % der Be-
völkerung Südeuropas in absoluter Ar-
mut lebt.
Diese Lage verschlechtert sich für das
Proletariat laufend. 1985, also dieses
Jahr, weist die INSEE auf. daß bei den
Nettolöhnen für 1984 72 % der Lohnab-
hüngigen des privaten und halböffentli-
chen Bereichs weniger als 5660 FF pro
Monat verdienen. In vier Jahren
"Sozialismus auf französische Art" sind
die Löhne der 10% Bestverdienenden
schneller gestiegen als die der untersten
10%. Die Frauen werden auch 84 im
Durchschnitt rund 1/4 schlechter bezahlt
als die Männer. Allein 1984 ist die Zahl
der 15- bis 24jährigen Erwerbstätigen um
326686 Personen jurilckgegangen; von
334306 Jugendlichen unter 24 Jahren,
die zwischen März 83 und März 84 ins
Berufsleben eingetreten sind, sind
140193 arbeitslos geworden und 124889
haben einen nicht gesicherten Status (nur
669224 sind "normale“ Erwerbstätige
geworden).
Der Klassenkampf als natürlicher Aus-
druck des Konflikts zwischen Arbeit und
Kapital stößt auf Wirtschaftsmechanis-
men. welche die Gesetze des Marktes
und der kapitalistischen Akkumulation
und Reproduktion regeln, und diese Kon-
frontation hinsichtlich des Preises der
Arbeitskraft trügt zur natürlichen Ten-
denz des Sinkens der Profitrate bei. die
sich in der derzeitigen historischen Peri-
ode nur noch weiter beschleunigt, weil
sich diese durch das imperialistische
Phänomen als Ausdruck der erweiterten
Reproduktion des Kapitals außerhalb der
ursprünglichen Produktionszentren ge-
kennzeichnet hat ur.d weil sie durch die
nationalen Befreiungskämpfe und die
Ausweitung der sozialistischen Regimes
auf den Widerstand des Weltproletariats
gestoßen sind.
Um diese Tendenzen des Sinkens der
Profitrate aufzufangen, muß natürlich die
Ausbeutungsrate erhöht werden. Das ver-
sucht man durch eine Verlagerung der
imperialistischen Entwicklung der kapi-
talistischen Produktionsweise in die Be-
reiche mit hoher Produktivitütsrate. der
imperialistischen Metropolen selbst, zu
erreichen. Es ergibt sich eine intensivere
Ausbeutung der Arbeit und somit auch
eine Erhöhung der Produktivitätsrate. Die
Entsprechung dieses Prozesses in den be-
herrschten Ländern ist in diesem Fall die
verstärkte Unterentwicklung durch eine
Übcrspezialisicrung in den Leichtindu-
strien (als Unterlieferanten der Industrien
der imperialistischen Metropolen) mit ge-
ringer Qualifikation und sehr niedrigen
Löhnen. Diese imperialistische Umglie-
derung erfolgt in dem Rahmen, der durch
die sogenannte Winschafts"krise" vorge-
zcichncl ist. Doch täuschen wir uns
nicht. Es handelt sich mehr um eine
Wachstums"krisc" als um die Ankündi-
gung eines bevorstehenden spontanen
Bankrotts. Nicht umsonst sind wir zu
dem Punkt gelangt, daß Finanzkreise be-
unnihigt einer möglichen Wahlniederlage
der Sozialisten bei den bevorstehenden
Wahlen cntgcgenschen: In vier Jahren
Sozial-Faschismus hat sich der Börsen-
umsatz vervierfacht, während er unter der
vorherigen Regierung rückläufig war. der
Gesamtwert der Aktien der Pariser Börse
ist von 200 Milliarden FF 81 auf über
500 Milliarden FF 85 gestiegen, die Dar-
lehen sind von 580 Milliarden FF in 81
auf 2112 Milliarden in 84 gestiegen, die
französischen Werte (Aktien und Obliga-
tionen) sind 84 um 16,4 % gestiegen und
83 sogar um 56 %.
Es steht also nicht alles so schlecht für
das Kapital! Die Krise bedeutet also
nicht eine wirkliche Schwächung des
Kapitalismus, der in seine entwickelte
imperialistische Phzsc gelangt ist. son-
dern im Gegenteil die Geschichte zeigt
uns. daß der Kapitalismus foitschrcitet
und sich durch die Krisen hindurch ent-
faltet, welche das Spiel seiner inneren
Widersprüche offenlcgcn. In diesem
Kontext müssen wir unsere heutige Lage
sehen.
//. Bewaffneter Kampf und legale poli-
tische Aktion
I. Der bewaffnete Kampf kann nicht das
spontane Produkt der Massenbewegung
sein
Alles hängt davon ab. was man unter
bewaffnetem Kampf versteht und welche
Rolle man ihm zuerkennt. Es kann sich
um eine einfache Ferm des Kampfes han-
deln. deren Besonderheit nur darin liegen
würde, sich dort anzusiedeln, wo man ein
erhöhtes Gewaltniveau wahmimmt. Die
bewaffnete Struktur würde also darauf
abziclcn, der bewaffnete Arm der Mas-
senbewegung zu sein, der die Ebenen der
Konfrontation übernehmen würde, die
für die legalen Strukturen zu hoch sind.
In diesem Fall würde die bewaffnete
Struktur aus der legalen Struktur hervor-
gehen und damit aus einem Prozeß, der
zumindest teilweisen Radikalisierung
dieses legalen Teils, was von vornherein
enge Bindungen zwischen den beiden
und die Beibehaltung dieser Verbindun-
gen durch eine gegenseitige Durchdrin-
gung der beiden Strukturen impliziert. In
dieser Perspektive kann man also als
Hauptaufgabe festhalten, die durch die
Legalität definierten Räume maximal zu
besetzen. Die Entwicklung der Guerilla
erfolgt dann in Form einer bewaffneten
'Bewegung', als Fortsetzung der legalen
Bewegung. Schematisch ist das etwa die
Entscheidung, die Gruppen wie Prima
Linea ausgehend von der autonomen
Bewegung, die Bewegung 2. Juni, die
abgcspaltcnc Gruppe der Napap. die sich
gegen uns gestellt hat. Acliun Diicele
(deren Problem cs am Anfang ist, daß
das rasch schief gelaufen ist) usw. getrof-
fen haben.
Diese Konzeptionen von bewaffnetem
Kampf entsprechen aus theoretischer
Sicht dem. was die Theorien der autono-
men Bewegung waren (in ihren subjekti
vistischen wie in ihren arbeitcrorienticr-
ten Versionen). Auf der subtilsten Ebene
entspricht dies den Gedankengängen im
Stil von Guaterri-Ddeuze, einer Molcku-
larisicrung der Kümpfe durch ein Netz
von Kluften und Frcihcitsrüumcn. die
«ich au« Strömen von Wünschen ergeben
und die man soziologisch als die Forde-
rung nach zu erfüllenden Unterschieden
(Selbstaufwertung dieser oder jener Ka-
tegorie usw.) bezeichnen könnte. Es han-
delt sich dabei um den Willen zur Deko-
dierung. das heißt nzch Überwindung der
von den herrschenden Strukturen z.uge-
wiesenen Territorien. Das klingt verfüh-
rerisch, doch muß man sehen, daß diese
Entterritorialisiemng nur auf Wünschen
und Realitäten beruhen kann, die Produk-
te oder Bestandteile der strukturellen Tä-
tigkeit selber sind (es sei denn man ist
philosophisch völlij Idealist). Das be-
wirkt, daß die Beheizung sogenannter
entkodierter Räume faktisch nur der Aus-
füllung und Verstärkung der Räume ent-
spricht. die strukturell durch das System
mit dem Ziel, seine eigenen Funktions-
bedürfnisse zu erfüllen, definiert sind
(Räume der Machtausübung oder Aus-
beutung). Diese Entscheidungen schei-
nen mir somit voll den Interessen des
derzeitigen Systems und seines perma-
nenten historischen Entwicklungs- und
Ausbauprozesses zu entsprechen. Und
das in der von Wirtschaftlern, Soziolo-
gen, Politikern und verschiedenen Zu-
kunftsforschem der bourgeoisen Herr-
schaft empfohlenen Entwicklung in
Richtung auf das. was sie eine "duale"
Gesellschaft nennen (in einer Umgrup-
pierung der Machtzentren, die man mili-
tärisch als strategische Zentralisierung
und taktische Dezentralisierung bezeich-
nen könnte).
Natürlich preist dies alles in einer pseu-
domarxistischen“ Sprache, gespickt mit
unverständlichen Wortneuschöpfungen
und Italialismussen. die außerhalb
Italiens keinen verständlichen Sinn ma-
chend), einen perfekten klassenübcr-
greifenden Standpunkt, der auf dem
Vorrang des kulturellen Verhaltens ba-
siert.
Doch der subjektivistisch aufgefaßte be-
waffnete Kampf als sozialkulturelles
Verhalten, der Ausdruck eines besonde-
ren "Raumes" in einem Mosaik weiterer
28
Räume, als "Unterschied” als einer der
"1000 Plattformen" ist. kann nur eine
geitoisierende. selbtamörderische Praxis
sein. Auch suchen wir ganz im Gegenteil
nach dem Zutagetreten und der Entwick-
lung eines fortschreitenden Prozesses,
der organisiert und politisch zentralisiert
ist und nicht mit zerstückelten Rächen
Ubereinstimmt. sondern ganz im Gegen-
teil die Vollständigkeit der historischen
Formation durchdringt. Wir seh:n im
bewaffneten Kampf ein Instrument der
organisierten Klasse mit historischer
Funktion. Dabei ist jeder dieser Begriffe
in seiner vollsten Bedeutung zu verste-
hen.
Das bedeutet, daß es sich nicht um eine
von mehreren Formen des Kampfes han-
delt, sondern daß er sich als Ausdruck
einer Politik versteht, die auf die gesamte
Umwandlung der Gesellschaft abzielt.
Also unterscheidet es sich sehr von ei-
nem beschränkten beanspruchenden
Vorgehen und anstatt sich an strukturel-
ler Zerstückelung zu heften, wird hier
versucht, die zahlreichen Widersprüche
ins Lot zu bringen, indem klar gemacht
wird, was letzter» Endes das Hauptmittel
zum Lösen des sozialen Widerspruchs
ist. Und das mit einem vollständigen
Verstehen der Realität, nicht schematisch
oder durch verkürzenden Dogmatismus,
sondern weil die Wahrheit in dieser Tota-
lität der objektiven Realität steckt, einer
Totalität, die sich aus der Tatsache erhält,
daß es praktisch keinen Aspekt der Exi-
stenz mehr gibt, der sich der kapitalisti-
schen Produktionsweise entziehen könn-
te. Die andere Quelle dieser Zusammen-
rechnung ist selbstverständlich die ge-
schichtliche Bewegung (und oberhalb der
Geschichte gibt es noch einmal eine wei-
tere zusammcnrcchnendc Kraft, doch das
ist ein anderes Problem!) und die Eigen-
art dieser geschichtlichen Bewegung ist
es, Fragen klassenbezogen zu stellen, als
Zusammenstoß zwischen Klassen, als zu
erleidende oder auszutlbende Kraft.
Allerdings ist zu präzisieren, daß diese
Konzeption nicht in Sektierertum führen
soll, was die Verschiedenartigkeit der
Praxen und der Meinungen betrifft, da
wir denken, daß die organisierte Bewe-
gung des bewaffneten Kampfes sich
nicht in der Form zeigen wird, daß die
heute bestehenden Strömungen zerfallen,
sondern durch paralleles Auftreten eines
wirklich neuen Prozesses: in gleicher
Weise wie die bolschewistische Bewe-
gung nicht das Auslöschen der revisioni-
stischen Sozialdemokratie und der sozial-
revolutionären oder freiheitlichen Strö-
mungen gebraucht hat. auch wenn sie
sich auf die Kritik an diesen stützte, son-
dern sic hat sich als neue Alternative
durch Rückgriff auf die wissenschaftli-
che Methode eines authentischen Mar-
xismus als Instrument zur Analyse der
Totalität der russischen Realität dieser
Zeit entwickelt.
2. Die Probleme des Übergcngs von le-
gal zu illegal
Das Verhältnis zwischen dem Raum für
die legale politische Arbeit und den ille-
galen Strukturen kann nicht als von vorn-
herein bestimmt betrachtet werden, son-
dern in der dialektischen Perspektive der
Bewegung, die passend für diese zwei
Strukturarien ist. Dies ermöglicht es, drei
Schemata hervomiheben:
1. Daß die Guerilla als das Ergebnis der
Entwicklung der internen Widersprüche
der legalen Bewegung und des Prozesses
der Radikalisierung/Bewußtseinsbildung
erscheint;
2. Daß die legale Bewegung die Periphe-
rie des radikalsten und damit organisier-
ten und bewaffneten Kems ist, und daß
sie sich um die Guerilla herum
entwickelt;
3. Daß die legale Bewegung und die be-
waffnete Struktur sich paralbl in dieser
organisierten dialektischen Wechselwir-
kung entwickeln, wie wir weiter unten im
Text präzisieren werden.
Die zweite Perspektive scheint schwer zu
realisieren, da die Guerilla historisch ge-
sehen sekundär gegenüber der legalen
Bewegung ist, man würde also eine Zer-
setzung von diesen benötigen, damit die
Guerilla zum zentralen Raum werden
kann, um den sic sich entwickeln würde.
Außerdem ist klar, daß die Entwicklung
des bewaffneten Kampfes ein Bewußt-
werden mit sich bringen muß, die ideo-
logische und politische Umwandlung, die
Ausdehnung der revolutionären Ideen,
doch ist nicht sicher, daß diese Ausdeh-
nung zu einer Entwicklung der legalen
Bewegung führt, denn die Guerilla wirkt
zwar auf das Kräfteverhältnis ein, jedoch
durch die Zuspitzung der Widersprüche,
wodurch sie zur Erhebung de? Gewallni-
veaus des Zusammenstoßes beiträgt. Das
impliziert eine stärkere allgemeine Mili-
tarisierung und Unterdrückung, wodurch
der Raum der legalen Freiheiten einge-
engt wird und damit objektiv die Mög-
lichkeit der legalen Bewegung einge-
schränkt werden.
Die erste Perspektive, daß ramlich die
Guerilla das Ergebnis der (teilweise oder
allgemeinen) Radikalisierung der legalen
Bewegung ist, stellt den Fall dar, der uns
am meisten entgegcngcstcllt wird. Wenn
die legale Bewegung zwar direkt zum
bewaffneter» Kampf fuhren kann, dann
nur über einen Aufstandsprozeß. Damit
verfällt man wieder in die Illusion der
linksradikalen Gruppen, die denken, daß
das leninistische Schema von 17 auf jede
beliebige historische Lage übertragbar
sei, und cs gehe darum die Missen durch
legalen Militantismus Carauf vorzuberei-
ten (was sie seit 60 Jahren tun ohne auch
nur einen Schritt vorangekommen zu
sein) bis die Lage wunderbarerweise reif
ist für den großen Abend. Wenn cs ange-
sichts dieser Perspektive nur das Projekt
des Aufstands geben kann, dann weil
man sich nur schlecht vorstellen kann,
wie die Guerilla, die eine klandestine po-
litisch-militärische Stnikturierung vor-
aussetzt, sich auf derselben Ebene wie
die legale Bewegung entwickeln soll, in-
sofern deren offenes Auftreten die Gue-
rilla durchlässig für Gcheimdienstaktivi-
täten und Angriffe des Feindes machen
würde.
Weiter gibt es zwei Sperren, die eine ist
ideologisch, die andere politisch.
Auf ideologischer Ebene. Der Unter-
schied zwischen bewaffnetem Kampf
und legaler Aktion ist nicht quantitativ,
sondern qualitativ. Der Übergang von der
einen zur anderen Form kann somit nicht
durch eine lineare und homogene Ent-
wicklung. sondern nur sprungweise er-
folgen. Das führt dazu, daß cs für jedes
Problem zwei Möglichkeiten geben kann,
die eine illegal, die andere legal. Man
darf nie vergessen, daß wir in einem Sy-
stem des politischen Liberalismus leben,
die politische Form der bourgeoisen Dik-
tatur ist hier die Demokratie, und wenn
wir mit etwas unzufrieden sind, so gibt cs
eine Auswahl legaler Mittel, um uns aus-
zudricken: Demos. Flugblätter, Zeitun-
gen, Wahlzettel usw. Auch ist der be-
waffnete Kampf etwas ganz anderes als
ein äußeres Mittel, das man aus Ver-
zweiflung cinsetzt. Robespierre hat mit
Rech; gesagt. Ludwig den XVI. zu töten,
sei kein Akt der Gerechtigkeit oder Aus-
druck der Unmöglichkeit cs anders zu
machen sondern eine "politische Ent-
scheidung" und genauso müssen wir hier
den bewaffneten Kampf betrachten: nicht
als äußerstes Mittel, sondern als mit küh-
lem Kopf getroffene, rein politische Ent-
scheidung. die wissenschaftlich durch ih-
re Funktion in einer rational überlegten
revolutionären Strategie gewählt wurde.
Andererseits denken wir nicht, daß man
den bewaffneten Kampf nicht richtig in
seiner allgemeinen strategischen Funkti-
on sieht, und somit die illegale Aktion als
einzige Antwort aur eng begrenzte Pro-
bleme begrenzen würde (Wir denken, ge-
meint ist folgendes: Andererseits denken
wir, daß man den bewaffneten Kampf
nicht richtig in seiner allgemeinen stra-
tegischen Funktion sieht, wenn man die
illegale Aktion einzig oh Antwort auf eng
begrenzte Probleme betrachten würde.
Anm. d. Hg.] (Antifaschismus, Antiras-
sismus, Antiatomkraft »;sw.). Denn man
begreift, außer man hat nur eine be-
grenzte und brachstückhafte Sicht, daß
diese Fragen nicht von ihrem Kontext
29
abgesondert werden können, und daß
man sich zur Ohnmacht verurteilt, wenn
man einen radikalen Ansatz auf beson-
dere Bereiche beschränkt.
Es gibt eine Vielzahl von Strukturen, die
sich im legalen Raum entwickeln und
mehr oder weniger radikal sind; Protest
oder Forderungen, die durch die Tatsache
gekennzeichnet werden können, daß sie
nicht die Machtfragc stellen, sondern ein-
zig und allein [durch, Erg. d. Hg.| den
Grad der Autonomie und der Einrichtung
innerhalb dci geltenden Rahmen. In dein
Maß, in dem es sich um vereinzelte Be-
reiche handelt, die immer mit einem gan^
spezifischen Problem verbunden sind,
kann es in ihrem Innern keine Umwand-
lung in Richtung des bewaffneten Kamp-
fes geben (sofern man in ihm die Funkti-
on einer echten revolutionären Strategie
steht, daß heißt einschließlich der Erobe-
rung der Staatsmacht). Diese legalen
Räume, in denen sich die sogenannte
"zivile Gesellschaft” gegen den Staat äu-
ßert, diese sind ein bißchen mit den Ge-
werkschaften vergleichbar, die die Hoch-
burgen des Widerstands der Arbeiter
sind, was eine notwendige Funktion ist,
die jetzt auch in den nicht produzieren-
den Bereichen ausgeweitet werden kann,
da sich die kapitalistische Produktions-
weise inzwischen auf alle Lebcnsbcrci-
che erstreckt. Aber, in gleicher Weise
wie früher die Gewerkschaften weder mit
der Partei identisch waren, noch die
Struktur bildeten, die auf die Gründung
der Partei abzielte, kann die Gesamtheit
der legalen Organe nicht Träger der Er-
fahrung, der Fähigkeit, der Synthese und
der organisatorischen Strukturierung
sein, die für die Entwicklung eines
bewaffneten Kampfs mit wirklich
strategischer Funktion erforderlich sind.
Wie soll auch ein Kollektiv, das durch
Antifaschismus od:r gegen Repression
oder durch die Unterstützung von Gefa-
ngenen oder irgend etwas anderes
vereinigt ist, im Rahmen dieser
spezifischen Aktivität die für ein wahres
revolutionäres Projekt erforderliche
historische Analyse durchführen?
3. Grenzen der Legalität und Klassen-
standpunkt
Ein revolutionäres historisches Ver-
ständnis kann sich nur aus einem Klas-
senstandpunkt ergeben. Das ist sicher das
Hauptproblem, radikal sämtliche sozialen
Strukturen durch die Zerstörung des
bourgeoisen Staats und der Machtüber-
nahme verändern zu wollen, auf den
Kommunismus hinzugehen. Das setzt
voraus, die Bewegung der Geschichte
verstanden zu haben und sich in sic cin-
zuordnen. Diese Bewegung ist die des
Klassenkampfs, es geht daher darum,
sich als Klasse eirzuordnen, das heißt.
sich die praktischen und theoretischen
Mittel dieser Dialektik zu verschaffen,
die aus der Verwirklichung des Proleta-
riats als Klasse die Voraussetzung für
seine Abschaffung macht, Vciwirkli-
chung impliziert: Klassenidentität. Klas-
senbewußtsein. Klissenstundpunkt. Da
die Kräfte, die die Geschichte machen,
die Klassen sind, kann das revolutionäre
Projekt nur mit dem Prozeß des Erwerbs
eines KlassenbewuOtseins durch das Pro-
letariat zusammenfallen. Und man kann
sich schlecht vorstellen, wie dieser Pro-
zeß aus dem Spiel zerstückelter legaler,
beschränkter Strukturen entstehen soll,
die im allgemeinen keinen Klassenstand-
punkt annchmcn, sondern im Gegenteil
einen klassenübergreifenden Standpunkt
aufgrund von mehr oder weniger oppor-
tunistischen Begriffsverwirrungen be-
fürworten, mit denen der Antagonismus
der objektiven Klassenintcrcssen durch
die Widersprüche zwischen Kategorien
ersetzt werden soll, die durch sozial-
kulturelle Verhaltensweisen bestimmt
sind (das "Individuum", gegen den Staat,
der "Jugendliche", eine individuelle Sen-
sibilität für dieses oder jenes besondere
Problem usw.). Die komischsten Bei-
spiele finden sich in dem, was die
"autonome Bewegung” war. die davon
noch verbliebenen Einflüsse, wenn wir
etwa sehen, wie das Konzept des "jungen
Proletariers" erfunden wird (oder noch
aktueller und no:h komischen der
"Stadt-Proletarier”, was überhaupt nichts
aussagt); ein Konzept, das für die. die da-
mit umgehen, den jungen Arbeiter
bedeutet (als wenn er andere Interessen
hätte als der ältere Arbeiter!), den Vor-
städter, den Gymnasiasten in der Phase
des Umbruchs zun Erwachsenwerden,
den Studenten, der in den Ferien arbeitet
und sich kulturell etwas anders verhält
als wenn er einige Jahre später zum lei-
tenden Angestellten oder Unternehmer
geworden ist [Wir denken, gemeint ist:
(-): ein Konzept, nach dem - für diejeni-
gen, die mit ihm umgehen - 'junger Ar-
beiter' (als wenn er andere Interessen
hätte als der ältere Arbeiter!) bedeutet:
der Vorstädter: der Gymnasiast in der
Phase des Umbruchs zum Erwachsen-
werden: der Student, der in den Ferien
arbeitet und sich kulturell etwas anders
verhüll, als wenn er einige Jahre später
zum leitenden Angestellten oder Unter-
nehmer geworden ist. Anm. d. Hg.). Die-
ser Raum der legalen politischen Tätig-
keit ist somit in klasscnübcrgrcifcude
Spezialisierungen zerstückelt, während
der bewaffnete Kampf der Ausdruck ei-
nes organisierten revolutionären Projekts
sein muß. dessen Existenz nur auf Klas-
senstandpunkten. auf der Herausbildung
des Klassenbewußtseins beruhen kann.
Auf politischer Ebene haben die Ent-
wicklungsgren/en der legalen Strukturen
externe und interne Gründe. Die externen
Gründe beruhen insbesondere auf der
Entwicklung der Mechanismen der sozia-
len Macht, entsprechend den Erforder-
nissen der Entwicklung des Imperialis-
mus. Wir sehen darin die außerordentli-
chen Fähigkeiten der bourgeoisen Macht.
Dinge aufzunehmen und sich zu regene-
rieren (cs ist nicht umsonst, wenn Sozio-
logen. Psychologen usw. vom Staat be-
zahlt werden, um "alternative" Bewegun-
gen und 'neue soziale Bewegungen" zu
studieren und anzuregen). Es gibt die
Tendenz einer Ausweitung der lohnab-
hängigen Arbeit und der Proletarisierung
in Richtung einer wachsenden sozialen
Bipolarisicrung. Die politische Macht
muß sich dieser Realität anpassen, deren
Eigenart darin besteht, daß sie (um den
Bruch zu vermeiden) eine verstärkte Füh-
rung. eine vollständigere und wirksamere
Beherrschung erfordert, was zu dem Ver-
such führt, den Klassenkampf zu zersplit-
tern. indem die inmre Geschlossenheit
der Übereinstimmung der Klasse gebro-
chen wird. Die bourgeoise Macht ver-
sucht. das Klassenkonzept im kollektiven
Bewußtsein durch den Begriff der Zuge-
hörigkeit zu sozial kulturellen Verhal-
tensweisen zu ersetzen ("Jugendliche".
Ökos. Homosexuelle, Punks, "linkes
Volk" und wie sie alle heißen). Ein per-
fektes Beispiel ist die Erfindung des Be-
griffs der "Buren" durch die Manager des
Sozialfaschismus und des Zionismus, um
damit einerseits zu versuchen, die ara-
bisch-islamische Identität zu zerbrechen
und andererseits auch, um die soziale
Klassenidentität des arabischen Gastar-
beiterproletariats zu Fall zu bringen.
Wenn es nicht durch das kulturelle Ver-
halten oder die ideologische Sensibilität
geschieht, dann lassen sieh diese Katego-
rien mittels einer untergeordneten wirt-
schaftlichen Eigenschaft fabrizieren, die
jedoch so herausgcstcllt wird, daß sie ge-
genüber den Produktionsverhältnissen als
überragend betracht:! wird. Indem die
bourgeoise Diktatur (ihre Massenmedien
und Intellektuellen, Machtstrukturen) die
Überlegenheit ( die Überlegungen'!, Anm.
d. Hg.) der Soziologie über die Volks-
wirtschaft organisiert, wird dem Freiraum
der Legalität, der durch den Nebelstonn
\-sturm od. -ström. Anm. d. Hg.) der
Vereinigungskollcktivc und der soge-
nannten Altemativbewegungcn durchzo-
gen ist. die Aufgabe übertragen, die
Klasscnintcressen heterogen zu machen,
die Proteste aufzusaugen. Indem sic mit
neuen Freiheitsräurren versorgt werden,
in denen sie sich austoben können, die
subversiven Tendenzen lahmzulegen, in-
dem sic im Sinn der herrschenden Ord-
nung lahmgelegt werden.
30
Während der Imperialismus die große
monopolistische Konzentration und die
weltweite Erfassung der kapitalistischen
Produktionsweise organisiert, kann er es
sich leisten, soziologisch und ideologisch
Räume für Formen der Selbstverwaltung
freizugeben (die allerdings von jeder Ent-
scheidung in Grunikatzfragen verschlos-
sen bleiben). Räume für die Meinungs-
äußerung und das Abreagieren, die bis
ins Unendliche besetzt weiden können,
denn wenn eine Gruppe oder eine Strö-
mung nicht mehr gefällt, braucht man ne-
benan nur eine neue zu gründen, was zu
noch mehr Verschiedenartigkeit und
Ohnmacht führt. Man muß also begrei-
fen. daß der durch die Legalität begrenzte
Raum der politischen Existenz genau der
ist. durch den die imperialistische Macht
selbst wirkt, sich entwickelt und ent-
faltet. Je besser der Raum der Legalität
ausgefüllt ist. um so mehr wird seine
Funktion verwirklicht und um so weniger
kann es der wahre Ort für eine wahre
Subversion sein.
Es gibt auch noch interne Gründe, wes-
halb ein evolutionärer Übergang der le-
galen Bewegung zum bewaffneten
Kampf unmöglich ist. Dieser sogenannte
Raum der Legalität funktioniert, indem er
Kräfte schafft und verteilt. Mächte, die
also nur durch die Tätigkeit der Legalität
weiterbestehen können. So wird er zum
bevorzugten Raum der Klcinbourgeoisie.
weil sic dort spezifische, ihr zugewiesenc
politische Funktionen ausüben kann, das
heißt dort, wo die Verwaltung der Ideo-
logie und der Polilik der bourgeoisen
Diktatur stattfindct. Das Kleinbürgertum
ist der politische Transmissionsriemen
zwischen der kapitalistischen Bourgeoi-
sie und den proletarischen Massen, es ist
voll und ganz Treuhänder und Wächter
der Interessen des Kapitals.
Und so verwaltet dann das intellektuelle
Kleinbürgertum die legalen Bewegungen,
alle "Alternativen", Antirepressiven Be-
wegungen, die linksradikalen Gruppen,
die Solidaritätsbewegungen, kulturelle
Kreativbewegungen, philosophische Be-
wegungen, alle Organe des Ausdrucks.
Wie soll man sich vorstcllen. daß die In-
haber einer solchen politischen und ideo-
logischen Macht darauf lächelnd verzich-
ten könnten? Denn der Übergang zum
bewaffneten Kampf setzt die Aufgabe
dieser Macht voraus, nicht weil sic die
Hierarchie oder weil sie die Beteiligung
von Kleinbürgern ausschiicßt. sondern
einzig und allein, weil in diesem Raum
der Legalität die Macht dieser Kategorie
über die politischen und ideologischen
Bewegungen wesentlich zu ihrer offiziel-
len Funktion gehört, so wie sie ihr durch
die Produktionsverhältnisse zugewiesen
und im allgemeinen vom Staat belohnt
wird, ein Verhältnis, daß natürlich un-
möglich ist. wenn man einen bewaffne-
ten Kampf führt!
Jeder hat unzählige Beispiele im Kopf,
die aus den gcnaiin(t:ii Gründen deutlich
die Unmöglichkeit zeigen, sich schritt-
weise von der Macht des Kleinbürger-
tums in legalen Strukturen zu lösen. So-
bald diese Kategorie sicht, daß die Macht
ihr entgleitet, reagiert sie mit Gegner-
schaft und sabotiert, verrät, vernichtet die
Strukturen, deren tatsächliche Leitung sic
hat. Diese Macht entgleitet ihr in der Il-
legalität und wenn auch nur auf Grund
des konspirativen Charakters des Vorge-
hens. das notwendig ist, und das zum
Bruch zwischen der beruflichen und der
halbbeiuflichcn öffentlichen Tätigkeit ei-
nerseits und der politischen Aktivität an
dererseits führt (während die existentielle
Eigentümlichkeit des intellektuellen
Kleinbürgertums gerade auf der "Nicht-
Trennung" zwischen bezahlter und ko-
stenloser sozialer Aktivität beruht). Übri-
gens ist das auch bestimmt der Grund da-
für. daß die psychologische Charakteri
stik des intellektuellen Kleinbürgertums
in Fragen des bewaffneten Kampfs zuge-
spitzte Paranoia ist, man hält sich für das
Ziel eines Komplotts, übernimmt eine
Bullcnsichtwcise de' Geschichte, indem
man überall Infiltrationen oder Manipu-
lationen sicht, glaubt sich vom Faschis-
mus. vom Krieg oder was sonst noch be-
droht. gefällt sich in der beschreibenden
Analyse der Repressionspraxis, um sich
nur umso mehr davon zu überzeugen,
daß man besser zuhause bleibt. Das ist
also ein weiterer Grund, weshalb der
Übergang von der legalen Bewegung
zum bewaffneten Kampf nicht in einer
linearen Vorwärtsentwicklung erfolgen
kann, weil es zu viele politische, ideolo-
gische, aber auch psychologische und po-
lizeiliche Sperren gibt, die sich einer
schrittweisen Radikalisierung innerhalb
eines legalen Rahmens entgegenstellen,
der zu einem wirkl:chcn revolutionären
Prozeß und damit zum bewaffneten
Kampf führen könnte.
Diese Zeilen verfolgen ein deutliches
Ziel, nämlich über die Funktion des be-
waffneten Kampfes zu sprechen, so wie
er hier und heute notwendig ist. deshalb
werden wir auch nicht über die legale po-
litische Arbeit sprechen, sondern nur in
ihrem Bezug auf den bewaffneten Kampf
darauf hinweisen. Die legale politische
Aktion gehört in andere Diskussionen.
Wir wollen hier nur. ehe wir sic hier ge-
nauer wiederfmrien werden, die großen
Grund/Uge der legalen Aktion in ihrem
Verhältnis zur bewaffneten Aktion und
in ihrer allgemeinen Notwendigkeit dar-
stellen:
- Das ist der Rahmen, in dem der kom-
munistische Kämpfer die militante politi-
sche Erfahrung erwerben muß. die not-
wendig für seine Wirksamkeit in der
Guerilla ist.
- Die legale Aktion fördert die revolutio-
näre Bewußtseinsbildung der Volksmas-
sen, die damit empfänglicher werden für
die Ziele des revolutionären bewaffneten
Kampfes und natürlich auch für die Not-
wendigkeit seiner quantitativen Entwick-
lung (ohne Verbindung mit einer legalen
politischen Aktion, die weitergehend-öf-
fcntlich ist. wäre eine Guerilla von den
Massen isoliert und damit zum Vegetie-
ren verurteilt, sie könnic sich nicht mehr
entwickeln und ihr Schicksal wäre einzig
und allein von den Risiken der Repres-
sion abhängig).
- Die legale Aktion bildet den Raum,
durch den die kämpfenden
kommunistischen Kräfte ihre politische
Linie aufbauen und die richtige
strategische Richtung einschlagen
können, sowie ein: korrekte Praxis
hinsichtlich der objektiven und subjek-
tiven Interessen der breiten prolc-
larischcn Massen verfolgen können.
Denn die legale politische Aktion ist der
Hauptrahmen für die Anwendung der
Massenlinie: von den Massen ausgehen,
um zu ihnen zurilckzukehren. Durch die
systematische politische Untersuchung
müssen die wirklichen Bedürfnisse und
Kapazitäten der Volksmassen ergriffen
werden und dann muß daraus eine Akti-
onslinie entwickelt werden, welche die
Synthese der fortgeschrittensten Ideen
der Massen darstellt (denn richtige Ideen
von den Massen kommen einzig und al-
lein von den Massen und nicht von den
Analysen dessen, was die Verwalter des
Feindes erzählen. Man erfährt mehr an
der Theke einer volkstümlichen Kneipe
als in den neuesten Berichten der Trilate-
ralcn. der NATO oder anderer, zumindest
wenn man die Revolution machen will).
Diese Synthese muß mit Hilfe verschie-
dener uns zur Verfügung stehender In-
strumente ausgefUhrt werden, insbeson-
dere des Marxismus-Leninismus, aber
auch der Intuition, für das. was richtig ist
und für den tiefen Sinn unseres langen
Marsches. Diese Synthese muß dann an
die Massen zurückgeben werden durch
Information. Agitation, militante Propa-
ganda und revolutionäre Aktion. Die
Wirkung der politischen Intervention, be-
waffnet oder nicht, muß dann innerhalb
der Massen abgeschitzt werden und zu
einer neuen Synthese führen, usw. - in ei-
nem dialektischen Verrücken.
- Die legale politische Aktion ist der
Rahmen, in dem der Kämpfer seine Mo-
tivierung und seine ideologische Entschl-
ossenheit erwirbt, was nur möglich ist,
wenn er die wirklichen Lebensbedingun-
gen der Proletarier kennt. Kenntnis, die
voraussetzt, um objektiv zu sein, daß
man auch die Kämpfe der Massen teilt.
- Der für die kommunistischen Kümpfe
vorzugsweise in Frage kommende Rah-
men der politischen Aktion ist nicht der
der "alternativen” Strukturen oder des
Protestes gegen diese und jene Institu-
tion. insofern, daß diese Strukturen häu-
fig klassenübergreifend sind und beson-
ders kleinbürgerliche Kategorien oder
Randgruppen betreffen, die zwar unruhig
sind, jedoch für die Revolution von kei-
nerlei Interesse sind. Der Rahmen der
legalen politischen Aktion muß somit
einzig und allein durch die Klassenanaly-
se bestimmt werden, durch eine objektive
Analyse der sozialen Zusammensetzung
des Kreises in dem man tätig wird, an
den man sich wendet. Folglich muB die-
ser Rahmen proletarisch sein, wir müssen
uns an die Arbeiterklasse und die übrigen
authentischen proletarischen Schichten
wenden, was objektiv und nicht subjektiv
betrachtet werden muß. Das Proletariat
ist festgesetzt durch seinen objektiven
Platz in den Produktionsverhältnissen
und nicht durch subjektive Kriterien wie
die "Revolte”. Kriminalität oder andere
Verhaltensweisen von Minderheiten,
zumal diese Art von subjektiven Krite-
rien allgemeine Kategorien des Klein-
bürgertums oder des Lumpenproletariats
bezeichnen, das heißt Kategorien, die
sich vielleicht zum Teil der Revolution
anschließen werden, die jedoch keines-
falls darin eine andere als eine völlig un-
tergeordnete Rolle spielen können.
III. Aktualität der Staatsfrage
I. Klassenkamp/ -oder Kampf gegen den
Staat?
Eine sehr wichtige Frage, auf die wir
häufig bei unseren Widerspechem sto-
ßen. sowohl denen, die sich dem bewaff-
neten Kampf widersetzen, als auch de-
nen. die wie Action Directe oder gewisse
anarchistische Gruppen, zwar den be-
waffneten Kampf praktizieren, jedoch
auf nichtmarxisiischen Grundlagen, ist
das Problem des Staates, das Verständ-
nis. daß man davon hat und wie es sich
in unseren Kampf einfügt.
Objektiv ist der Staat nichts anderes als
das Instrument der Diktatur einer Klasse,
also heute das Instrument der Bourgeoi-
sie. Als Kommunisten wollen wir natür-
lich die Abschaffung jedes Staates errei-
chen. da wir für eine klassenlose Gesell-
schaft kämpfen und da der Staat sich nur
durch die Existenz der Klassen aus-
drückt. Jedoch verwechseln wir nicht die
Ursachen und die Wirkungen, ein Gesell-
schaftssystem und ein einfaches Rädchen
darin, eine herrschende Klasse und ihr
politisches, verwaltungs- und militäri-
sches Herrschaftsorgan.
Das Hauptfeld ist sicherlich nicht der
Staat und natürlich noch weniger die we-
nigen transnationalcn bürokratischen
Strukturen, mit deren Hilfe die imperiali-
stischen Staaten vergeblich versuchen,
ein wenig leitende Ordnung in die Anar-
chie zu bringen, die ihr System charakte-
risiert (doch das verstehen unsere neuen
Sozialrevolutionäre. Luxemburgisten und
Neo-Bundisten. bewaffnete Version
nicht, da könnte man sich kaputtla-
chen...). .
Andererseits wollen wir auch nicht die
Vorstellung vom Staat als großen bösen
Wolf ersetzen durch die schrecklicher
egoistischer und habgieriger Bürger,
denn es geht in erster Linie weder um
Einzelpersonen noch ihre bürokratischen
Apparate, sondern im Wesentlichen um
eine Produktionsweise, die dem gesam-
ten Herrschaftssystem und damit auch
dem Staat usw. zugrunde liegt.
Den Staat an sich oder die Bourgeoisie
an sich als "Hauptfeind" zu betrachten,
läuft darauf hinaus, daß man nur Sym-
ptome sieht, denn man wird weder die
Bourgeoisie noch den Staat zerstören,
wenn man nicht die derzeitige Produkti-
onsweise vernichtet.
Allerdings trifft es zu. daß nach einer
derzeit recht verbreiteten Tendenz der
Staat als eine Art Menschenfresser ange-
sehen wird, der im allgemeinen für alle
Übel verantwortlich ist. Wenn man den
Slaat nicht als Produkt einer bestimmten
Produktionsweise betrachtet, dann müßte
er das Ergebnis einer imaginären
"menschlichen Eigentümlichkeit" sein,
die sich in Form von Machtgelüsten bei
bestimmten Individuen äußert. Diese
These offenbart sich entweder durch uto-
pische Theorien oder Reformismus. Ein
Reformismus, der sich im Wesentlichen
durch 3 Tendenzen äußert. Die soge-
nannten Rechtsextremen, die Neo-Libe-
ralen und die "neuen Philosophen”, häu-
fig ehemalige Linksradikale, die sich
zum Antiknmmunismus und einem fana-
tischen Zionismus im Dienste der Vertei-
digung der Demokratie bekehrt haben,
deren These es ist. einen Statt von mög-
lichst wenig Slaat vorzuscälagen, wie
Bcmard-Henry Ixvy sagt. Die zweite
große Tendenz ist die des traditionellen
“Zentrums", das heißt der Sozialfaschis-
mus. wie er in Frankreich herrscht (die
Sozialdemokratie charakterisierte bereits
die vorangegangenen Regimes, insbe-
sondere das von Giscard, das vielleicht
selbst noch mehr sozialdemokratisch war
als die Mitterrand-Bande, und die Sozi-
aldemokratie wird auch noch der Haupt-
charakter für das politische Regime nach
86 und 88 sein). Dieser Strömung kön-
nen wir alle zurechnen, die Parasiten der
Bourgeoisie-Macht sind, diejenigen,
welche "links von der Linken" stehen,
die linksradikalen Grüppchen, deren
Nco-Rcvisionismus sich in dem Gckric-
chc kümmerlicher lästiger Bettler um
kleine Postchen innerhalb der Sozialde-
mokratie äußert: diese haben zum Wahl-
sieg der Obersau Millcrand iin Namen
eines "kleineren" Übels beigetragen und
als ewige Prostituierte werden wir sie
auch 86 und 88 sehen, wie sie für die
Linke stimmen, mit dem Vorwand, daß
man der sogenannten Rechten und dem
sogenannten "Faschismus" den Weg ver-
sperren müsse. Schließlich gibt es eine
dritte Strömung, die sich als extreme
Linke darstcllt. die wir jedoch als Radi-
kalreformismus bezeichnen. Es handelt
sich um die Selbstverwaltcr.
"Alternative“ Strömungen, Grüppchen.
die bewußt oder unbewußt auf die Theo-
rien der Autonomen hinweisen und deren
Ziel es ist. zerstückelte und klasscnüber-
greifende Freiräume zu errichten, defi-
niert durch kulturelle Verhaltensweisen
"Wünsche", die sich vom Klassenkampf
und dem Gang der Geschichte absetzen
also die Suche nach Einrichtungen und
nach der Mentalität von Wrihlfhhrtwmp-
langem, die sich zwar gegen den Staat
auflehnen, jedoch pausenlos einen vom
Staat anerkannten Status, mehr Dienstlei-
stungen. indirekte Löhne usw. fordern.
Alle diese Tendenzen, einschließlich «le-
rer. die "Anliimpcrialismus" ohne kon-
krete Klascenlinie betreiben und somit
nicht die Machtübernahme im Auge ha-
ben. haben letzten Endes eines gemein-
sam: daß sie den Staat zum zentralen Ob-
jekt machen, ob sie ihn nun verkleinern,
verstärken, oder verwalten wollen, indem
sic ihn zu einem besseren Verteiler von
Dienstleistungen oder unter Isolierung
des Staates Autonomieräume entwickeln
wollen. Das Prinzip ist dasselbe: Die In-
stitutionen werden als Vorrangige be-
trachtet (die NATO oder die EDF oder
die (Jefdngisvcrwaltung oder die Schule
usw...). Die Hauptfrage der Produktions-
weise wird nicht gestellt, die Art und
Weise wie sich die Widersprüche ent-
wickeln, was die Richtung der Ge-
schichte darstellcn, wird nicht berück-
sichtigt. der Klassenkampf wird verkannt
und durch Bestrebungen sozialkulturcllcr
Kategorien, verhaltensbedingte, subjekti-
vistischc Einstellungen, angeblich Gram-
sci-anige Gegensätze zwischen "legalem
Land". Staat gegen "Gesellschaft",
"herrschende Klasse" gegen "Volk" er-
setzt. Oder sonstige idealistische Kon-
zeptionen. welche sogar auf bestimmte
Guerillagnippcn in Westeuropa einen
tiefgreifenden Einfluß ausüben.
2. Die Entwicklung dei Formen des Staa-
tes muß berücksichtigt werden, wenn wir
darum kumpfen, uns dessen zu bemächti-
gen.
Wir kritisieren also ganz radikal die The-
sen. wonach der Staat als solcher det
32
Haupifcinü sei. Allerdings muß man ct-
was weiietgehen. denn man darf nicht in
das umgekehrte Übermaß verfallen. In
dem Maße, wie man nämlich die derzei-
tige Produktionsweise abschaffen will,
sicht man sich notgedrungen mit den In-
strumenten der Kontrolle, Verwaltung
und Repression und so mit dem Staat
konfrontiert. Die Revolution impliziert
das Zerbrechen aller Instrumente der al-
len Gesellschaft insbesondere der Zerstö-
rung ihres Staates. Für das Proletariat be-
deutet Machtübernahme auch Über-
nahme der bis jetzt vom bourgeoisen
Staat verwalteten Mächte. Das ist viel-
leicht eine Offensichtlichkeit, doch muß
man sic in Erinnerung rufen, da man den
Staat auch nicht alsein sozusagen neutra-
les Instrument betrachten darf, das ein-
fach von einer Hand in die andere über-
geht oder automatisch im Verlauf des re-
volutionäres Prozesses Zusammenstürzen
würde (er wird im Gegenteil stärker, je
weiter der revolutionäre Prozeß voran-
schreitet). Es geht so weit, «laß der reine
Werkzeugeharakter des Staates es recht-
fertigen würde, daß er von den kommu-
nistischen Kräften in der vorrevolutionä-
ren Phase genutzt würde, man müßte also
das Wahlsystem, den Parlamentarismus
und die Möglichkeit einer pazifistischen
Machtübernahme anerkennen. Wir haben
gar nicht unbedingt etwas dagegen, es
wäre ideal, wenn Wahlen den Bürger-
krieg ersetzen könnten. Doch hier und
heute ist das nicht der Fall, die proletari-
sche Revolution erfordert die totale und
gewaltsame Zerstö-ung des bourgeoisen
Staatsapparates.
Man muß auch sehen, daß die Entschei-
dung für oder gegen den Parlamentaris-
mus nicht zu den Grundsatz fragen ge-
hört, sondern zu den von einer objektiven
Analyse der derzeitigen Realität be-
stimmten Standpunkten. Zum Beispiel,
die Lage in Rußland vor 1917 war anders
und ermöglichte Fermen des Parlamenta-
rismus. denn damals handelte es sich dort
um einen doppelten Prozeß der Revolu-
tion, das heißt um eine demokratische
Revolution (die folglich auch Demokra-
tie. Parlamentarismus, Legalismus usw.
umfaßte) und die einer proletarischen
Revolution als Sp-ungbrett diente, was
natürlich hier und jetzt nicht der Fall ist,
wo die demokratische bourgeoise Revo-
lution bereits seit geraumer Zeit stattge-
funden hat. Diese heutige Realität zeigt
uns außerdem, daß zwar das sozial-öko-
nomische System immer noch genauso
funktioniert wie in der Zeit, wo Marx
seine Funktionsweise erläuterte, aber daß
es andererseits seit dieser Zeit tiefgrei-
fende Veränderungen erfahren hat. die
seiner natürlichen Entwicklung und sei-
nem Reifwerden entsprechen.
Die Beschreibung, die Marx oder I.enin
von der Funktion des Staates geben
konnten, trifft immer noch zu und bestä-
tigt sich im Verlauf der Zeit noch immer
mehr. Zutreffend ist jedoch dabei die Be-
schreibung der Funktionsweise und nicht
die Beschreibung einer historisch gege-
benen Form, die sich unveränderlich ver-
ewigen würde. Denn die Form des bour-
geoisen Staates ist im ständigem Wechsel
begriffen, entsprechend der Entwicklung
der kapitalistischen Produktionsweise.
Auch wenn wir uns denken können, daß
die revolutionäre Benutzung des bour-
geoisen Staates heute auszuschließen ist
und daß auch die Auffassung vom Staat
als einfaches Hcrrschaftsinstrument und
einfacher politischer Ausdruck der Macht
der herrschenden Klasse etwas nuanciert
werden muß. so bleibt diese Analyse
restlos zutreffend und muß nur ange-
sichts der objektiven Umwandlungen
präzisiert werden, die im Lauf der kapita-
listischen Entwicklung, die sich heute in
ihrer modernen imperialistischen Phase
befindet, im Wesen des Staates eingetre-
ten ist.
.?. Der imperialistische Staat. Funktion
des Kapitals
In der Tat läßt sich heute weniger denn je
ein antikapitalistischer Kampf, der im all-
gemeinen zum Klassenkampf gehören
würde, vom Kampf gegen den Staat tren-
nen, der ein politischer oder politisch-mi-
litärischer Kampf wäre, wie wenn der
Staat nur ein einfaches Instrument wie
die Polizei oder die Armee wäre, das der
Machtübernahme des Proletariats im
Wege steht. Wenn man nämlich einer-
seits davon ausgeht, daß der Staat das
Produkt der Organisation der Klasscnvcr-
hältnisse in einem bestimmten histori-
schen Augenblick ihrer Entwicklung ist
und daß die zum Entstehen der gesell-
schaftlichen Verhältnisse (und somit
auch des Staats) führenden Produktions-
weise sich entwickelt und sich damit
umgestaltet, dann muß man andererseits
auch zugeben, daß der Staat bezüglich
dieser Umgestaltung foitschrcitct, sich
entwickelt, reift und sich verändert.
In welchem Sinne erfolgt diese Verände-
rung? Es ist die Übersetzung der Auswei-
tung der kapitalistischen Produktions-
weise auf Staatscbcnc. In allen Richtun-
gen und Tiefen des sozialen Kontextes.
Jeder kann fcststcllcn, in welchem Maß
auch die kleinsten Äußerungen des ge-
sellschaftlichen. ja sogar des privaten
l.ebens zunehmend von der derzeitigen
Produktionsweise bestimmt werden. Eine
Produktionsweise, deren Existenz un-
trennbar verbunden ist mit dem Mecha-
nismen der Akkumulation/Reproduktion
des Kapitals. Das sind Mechanismen, de-
ren innere Widersprüche sich im tenden-
ziellen Rückgang der Profitrate offenba-
ren. wobei dieser tendenzielle Rückgang
dazu führt, daß bezogen auf den absolu-
ten Mehrwert ein zunehmender Anteil an
relativem Mehrwert ausgepreßt wird.
Diese zunehmende Bedeutung der Er-
zeugung von relativen Mehrwert liegt
wirtschaftlich gesehen den meisten Er-
scheinungen zugrunde, die für die derzei-
tige Phase der westlichen Gesellschaft als
typisch beschrieben werden, das heißt al-
len Formen, die von einigen mit dem Be-
griff der "Konsumgesellschaft" bezeich-
net werden (dieser Begriff ist natürlich
irreführend, hat jedoch einen vertrauten
Klang, den jeder versteht). Profitstreben
bis in die allcrklcinstcn Handlungen des
Alltags, eine völlige Dominanz des
Tauschwertes gegenüber dem Ge-
brauchswert. Produktion nicht nur von
mehr oder weniger fctischisicrten Ge-
brauchsgütem, sondern auch Erzeugung
von Bedarf und sogar in einem gewissen
Sinn von Bedarf an Bedarf. Rentabilisie-
rung durch Verschwendung. Rcntabili-
sicrung der gesamten menschlichen Akti-
vitäten und damit auch aller Vergnügun-
gen. Gefühle und alles dessen, was zur
Psychologie und zum kulturellen Bereich
gehört. Galoppierende Ausweitung der
Entfremdung und Versachlichung.
Und im Rahmen dieser Entwicklung der
Entfremdung und der verstärkten Aus-
pressung von relativem Mehrwert wird
dem Staat eine ausführlichere Rolle ztl-
gctcilt, als die die ein einfaches Instru-
ment [spielen, Einf. d. Hg.] würde. Eine
ausführlichere, zugleich auch unbe-
stimmtere Rolle im Sinn einer allgemei-
nen Fusion und Gliederung aller Funkti-
on- und Führungsapparate des Kapita-
lismus. das heißt des sozialen, wirtschaft-
lichen. ideologischen, politischen und
militärischen Komplexes, der dazu führt,
daß das Kapital nicht nur eine einfache
wirtschaftliche Kategorie, sondern nach
der Formulierung von Marx eine soziale
Beziehung ist. Die gegenseitige Durch-
dringung von Kapital und Staat ent-
spricht dann dem Sinn der historischen
kapitalistischen Entwicklung, dies ent-
spricht etwa dem was Mario Tronti (2)
sagt:
"Je mehr die kapitalistische Entwicklung
voranschreitet, das heißt je mehr die Er-
zeugung von relativem Mehrwert sich
durchsetzt und überall ausbreitet, desto
perfekter wird unausweichlich der Kreis-
lauf Produktion-Veiteilung-Tausch-Kon-
sum; das heißt, daß die Beziehung zwi-
schen kapitalistischer Produktion und
bourgeoiser Gesellschaft, zwischen Fa-
brik und Gesellschaft, zwischen Gesell-
schaft und Staat immer organischer wird.
Auf der höchsten Ebene der kapitalistis-
chen Entwicklung wird das soziale Ver-
hältnis ein Moment der Produktionsvcr-
33
hältnissc, und die gesamte Gesellschaft
wird zu einem Ausdruck der Produktion,
das heißt, daß die gesamte Gesellschaft
in Funktion der Fabrik lebt und die
Fabrik ihre ausschließliche Herrschaft
Uber die ganze Gesellschaft ausdehnt.
Auf dieser Basis versucht die kapitalisti-
sche Staatsmaschine sich zunehmend mit
dem Bild des kollektiven Kapitalisten zu
identifizieren; sie wird immer mehr ein
Besitz der kapitalistischen Pro-
duktionsweise und somit eine Funktion
des Kapitalismus".
Konkret geht das noch weiter als die
Keynesianistische Funktion des
bourgeoisen Staates über die Arten der
Planung und die Intervention des Staates
in der Wirtschaft; cs hängt zusammen
mit dem Anwachsen des Anteils des Fi-
nanzkapitals und somit auch mit den
staatlichen transnationalen
Wähningsmechanismcn, der zuneh-
menden Rolle des Stcucrwcsens. mit dem
Staat als Arbeitgeber im öffentlichen
Bereich, der immer bedeutsamer wird,
der Ausübung kapitalistischer Monopole
direkt durch den Staat, dessen Rolle in
der Ausbildung großer imperialistischer
Monopole. Natürlich sind auch die
Verhältnisse des Staates zu den Medien
im gleichen Sinn zu betrachten, die zen-
trale Rolle des Staates hei der
Massenmanipulation nicht nur zum
Schutz der kapitalistischen Ordnung, des
sozialen Friedens und der Reproduktion
suprastmktureller [d h.: Überbau-, Anm.
d. Hg.) Institutionen, sondern auch als
leitender Vektor der Bildung oder Aus-
weitung sozial-ökonomischer und ideolo-
gischer Räume, in denen (insbesondere
durch die Bildung von künstlichen Be-
dürfnissen) die Auspressung des Teils
des indirekten Mehrwerts erfolgt, das
heißt desjenigen, der nicht aus der ent-
lohnten Produktionstätigkeit stammt.
Ein weiteres wichtiges Phänomen dieser
Entwicklung der Funktion des Staates ist
natürlich seine Rolle bei der Regelung
des Arbeitsmarkles, aber auch und vor al-
lem bei der Einkommensverteilung. Man
muß nämlich wissen, daß ein Viertel der
Einkünfte der lohnabhängigen Erwerbs-
tätigen aus dem "indirekten Lohn" be-
steht. das heißt aus der Gesamtheit der
staatlichen Sozialleistungcn.
Folglich spielt der moderne bourgeoise
Staat zunehmend die Rolle eines Kapita-
listen, er strebt danach, sich immer mehr
mit dem Kapital zu vermischen, eine
Funktion des Kapitals zu sein. Man darf
ihn also nicht mehr nur als einfaches
bourgeoises Hcrrschaftsmittel ansehen.
dessen Instrumentcharakter ihm eine Art
defensiver Neutralität verleihen würde,
aufgrund derer mar dieses Staatsinstru-
ment gegen die Bourgeoisie cinsctzcn
könnte, genauso wie eine Kanone neutral
ist und genauso gegen die Bourgeoisie
wie gegen das Proletariat eingesetzt wer-
den kann. Der moderne Staat ist viel
mehr als der ■‘Verwaltungsrat". den sich
die Bourgeoisie zugelegt hatte, um ihre
politischen Interessen zu verwalten. Er
ist nicht mehr nur "kapitalistisch" durch
die Tatsache, daß er dem Kapitalismus
dient, sondern weil er selbst als Kapita-
list funktioniert. Und als solchen müssen
wir ihn angreifen, nicht als einfaches
Hindernis, das sich der revolutionären
Bewegung cntgcgcnstcllt und weil er re-
pressiv ist, sondern weil er ein vollwerti-
ger Partner des Klassenkampfs ist. Man
muß ihn also genauso angreifen, wie man
in der Fabrik die Arbeitgeberschaft an-
greift, ohne ihn aber zwanghaft /.um
symbolischen Ziel zu machen, was in ge-
wissen Sinn den Kapitalismus personifi-
zieren würde, während doch klar ist. daß
wir das gesamte System und damit an der
Basis die kapitalistische Produktionswei-
se selbst historisch zerstören müssen.
Und der Prozeß dieser Vernichtung läuft
über den sofortigen Angriff gegen die
Gesamtheit der Ausdrücke und die
Funktion bourgeoiser Herrschaft.
IV. Der revolutionäre Kampf und der
Marxismus
I. Der Marxismus-Leninismus, lebendige
Methode, verwirft keine Form des Kamp-
fes
Welche Stellung hat der revolutionäre
bewaffnete Kampf? Die erwägenswerte-
sten kritischen Anmerkungen zu unseren
Auffassungen von der revolutionären
Strategie und Taktik stützen sich -oder
behaupten sich zu stützen - auf die Refe-
renz älterer strategischer Lösungen, wel-
che die marxistische Methode in der Ge-
schichte der Arbeiterbewegung hervorge-
rufen hat. Wir stellen uns also in diesen
Zusammenhang. Allerdings erheben wir
weder den Anspruch, auf alles eine Ant-
wort zu haben, noch, die Debatte abzu-
schließen; es handelt sich hier nur darum,
in aller Kürze einige Grundzüge vorzu-
stellen, die man natürlich sehr viel aus-
führlicher darstellen und vertiefen müßte.
Zunächst einmal darf man nie vergessen,
daß die großen Theoretiker des Marxis-
mus Mechanismen und Funktionsweisen
beschrieben haben, die nach wie vor ak-
tuell sind, andererseits haben sic den hi-
storischen und dialektischen Materialis-
mus als Möglichkeit zum aktiven Ver-
ständnis der objektiven Realität und der
historischen Prozesse erarbeitet, welche
sie erklären. Ferner haben sie politische
Lösungen formuliert, die jedoch sicher-
lich keine allumfassende Bedeutung ha-
ben. Anders als beim historischen und
dialektischen Materialismus entsprechen
diese Lösungen nur der Anwendung der
marxistischen Analysemethoden auf be-
stimmte historische Zustände und können
also nicht unverändert von einer Epoche
auf die andere oder von einer nationalen
Realität auf eine andere übertragen wer-
den. Es liegt auf der Hand, daß Lösungs-
vorschläge. die zur Zeit der industriellen
"Revolution" gültig waren, nicht diesel-
ben sind, wie die, welche in der Phase
des Monopolkapitalismus anwendbar
sind und weniger diejenigen, die in einer
Zeit angewendet werden, wo der Impe-
rialismus die hegemoniale Form der kapi-
talistischen Produktionsweise ist. Der
Marxismus-Leninismus widersetzt sich
entschieden jedem Dogmatismus, jedem
Automatismus der taktischen und strate-
gischen Lösungen, er weist auf lebendige
Methoden hin, um in jeder Epoche und
in jeder Lage die entsprechenden Metho-
den zu finden, ohne mechanisch eine
Theorie anzuwenden, die sonst in ein
Dogma verwandelt würde. Es ist übri-
gens das. was Lenin selbst erklärt;
"Das ist der Grund, warurii der Marxis-
mus keine Form des Kampfes absolut ab-
Ichnt. In keinem Fall will er sich auf die
in einem bestimmten Augenblick vorhan-
denen und möglichen Kampfformen be-
schränken; er gesteht zu. daß eine Verän-
derung der sozialen Konjunktur unaus-
weichlich das Auftreten neuer Formen
des Kampfes nach sich ziehen würde, die
Militanten der jeweiligen Zeitspanne
noch unbekannt sind (...) An zweiter
Stelle fordert der Marxismus absolut, daß
die Frage der Formen des Kampfes unter
ihrem historischen Aspekt erwogen wird.
Diese Frage außerhalb konkreter histori-
scher Umstände zu stellen, bedeutet das
ABC des dialektische Materialismus zu
ignorieren. An verschiedenen Momenten
der wirtschaftlichen Entwicklung treten,
in Zusammenhang mit den verschiedenen
Bedingungen der politischen Lage, der
nationalen Kulturen, den Existenzbedin-
gungen usw. unterschiedliche Kampf-
formen in den Vordergrund, werden zu
den wichtigsten und in der Folge ändern
sich die sekundären, zusätzlichen Formen
ebenfalls. Der Versteh mit ja oder nein
zu antworten, wenn cs um die Einschät-
zung eines bestimmten Kampfmittels
geht, ohne ausführlich die konkreten
Umstände der Bewegung und den er-
reichten Entwicklungsstand zu prüfen,
hieße, das marxistische Terrain vollstän-
dig zu verlassen.“
Das bedeutet zumindest, daß der bewaff-
nete Kampf als wichtigste Kampfform ei-
ner revolutionären Strategie nicht von
vornherein als im Widerspruch zur mar-
xistischen Theorie ausgeschlossen wer-
den kann.
2. Der revolutionäre Terrorismus ist eine
nützliche und notwendige Form des
34
Kampfes, der Teil unseres kommunisti-
schen Erbes ist
Dann stellt sich die Frage nach der Re-
dcutung des Begriffs "Terrorismus". Die-
ses Kon/cp! hat im Verlauf der Ge-
schichte einen Bedeutungswandel durch-
gemacht. Er wird von den Medien sehr
pejorativ verwendet, anscheinend seit
dem letzten Weltkrieg aufgrund der ne-
gativen Verwendung dieses Begriffs
durch die Nazi-Propagandisten. Vor die-
ser Zeit enthielt dieses Won ein weniger
deutliches Werturteil und Emotionalität,
sondern bczeichnete einfach eine beson-
dere Form des politischen Handelns:
Gewaltsame Aktion, um diejenigen, ge
gen die es gerichtet war. in Terror zu ver-
setzen. Diese Bedeutung wird von den
historischen Theoretikern des Marxismus
benützt, die damit nur die Form bestimm-
ter Aktionen ohne pejorative Nebenbe-
deutung bezeichnen. Für sic unterschei-
det sich Terror von Aktionen in Zusam-
menhang mit einem Aufstand dadurch,
daß er den gesamten revolutionären Pro-
zeß begleiten kann, ohne wie der Auf-
stand auf eine Endphasc beschränkt zu
sein. Doch hat er damit nicht nur eine
einfache punktuelle Bedeutung, und En-
gels hob bereits eine strategische
Funktion hervor
"Um die Agonie der alten Gesellschaft
und die blutigen Geburtswehen der
Neuen abzukürzen, zu vereinfachen und
zu konzentrieren, gibt es nur ein Mittel:
den revolutionären Terror“.
Das ist deutlich! Allerdings ist zuzuge-
ben, daß dieses Zitat mit einer einschrän-
kenden Bedeutung dargcstellt werden
kann, daß heißt, daß der Terrorismus eine
Art Hilfsmittel wäre, wenn auch sicher-
lich strategischer und nicht nur taktischer
Art, da er nach Engels eine allgemeine,
historisch ausgedehnte Aktion ist. aber
das doch vor allem zur Verschärfung der
Widersprüche dienen würde, um den Zu-
sammenstoß der Klassen zu radikalisic-
ren und 711 beschleunigen, ohne daß da-
mit dem Terrorismus eine Funktion auf
der Ebene der eigentlichen politischen
Entwicklung zugewiesen wäre (mit der
Organisation verbunden usw.). In diesem
Zitat erscheinen Terrorismus und Partei
nicht deutlich verbunden, doch werden
wir sehen, daß sie es sind, daß der Terro-
rismus seinen Platz im Aufbau der Partei
hat und daß der Terrorismus von der Par-
tei gelenkt, organisiert werden muß. Der
revolutionäre Terrorismus ist nicht eine
Form des individuellen Kampfes, den
man als unmittelbare Form des Wider
Stands des Proletariats einfach spontan
stattfinden lassen könnte. Die Avant-
garde muß die Führung davon überneh-
men. sagen Marx und Engels:
"Weit davon entfernt, sich den angebli-
chen Exzessen und Repressalien der
Volkswut gegenüber gchaß:en Indivi-
duen oder Gebäuden, mit deren sich ab-
scheuliche Ereignisse verbinden, zu wi-
dersetzen. muß man diese Repressalien
nicht nur einfach dulden, sondern ihre
Führung direkt übernehmen".
Die Bolschewiken traten nachdrücklich
für Terroraktionen ein. Lenin betont das
ausreichend, man braucht sich nur seinen
Text Uber den "Partisanenkrieg" oder die
Sammlung von "Texte Uber die Jugend"
anzusehen, wo er Jugendliche be-
schimpft, die nicht genügend Bomben
herstcllcn und sagt, cs sei richtig, die
Verantwortlichen der Repression zu tö-
ten. das Geld aus den Ranken zurückzu-
holen wie es die Bolschewiken taten
(siehe die berühmten Banküberfälle Sta-
lins in Baku 1904...).
Aber Vorsicht, wir können nicht die ak-
tuelle Notwendigkeit des bewaffneten
Kampfes erklären, indem wir Analysen
vom Beginn des Jahrhunderts über die
moderne Realität hervorbringen. Zumal
für Lenin der Einsatz von Teror nur eine
Kampffomt sein konnte, der Massenakti-
on und der politischen nicht-militäri-
schen Aktion der Partei untergeordnet
war und dos, was wesentlich ist. mit dem
einzigen Ziel, den Aufstand vorzuberei-
ten. Dabei wurden zwei Ziele verfolgt,
das erste besteht darin, die Massen mit
der Taktik des Aufstands vertraut zu ma-
chen: '
“Der Partisanenkrieg, der allgemeine Ter-
ror. die sich seit Dezember in Rußland
fast ohne Unterbrechung überall ausbrei-
ten, werden unbestreitbar dazu beitragen,
den Massen die richtige Taktik im Au-
genblick des Aufstands beizubringen.
Dieser durch die Massen ausgeübte Ter-
ror muß von der Sozialdemokratie akzep-
tiert und in ihre Taktik eingefdgt werden:
sie muß ihn selbstverständlich organisie-
ren und kontrollieren, um den Interessen
und Erfordernissen der Arbeiterbewe-
gung und des revolutionären Kampfes
allgemein nntemrdnen". (Ixnin).
Das zweite Ziel besteht darin, durch
diese Taktik zur politischen und militäri-
schen Formierung der Avantgarde
(immer im Hinblick auf den Aufstand)
beizutragen, wie es Lenin 1935 sagt, als
er den Angriff eines Kommandos auf ein
Gefängnis begrüßt: •
"Hier werden die Vorkämpfer des be-
waffneten Kampfes nicht nur verbal,
sondern auch durch die Tat eins mit der
Masse, sic setzen sich an die Spitze der
Kampfabteilungen und -Gmppen des
Proletariats, bilden durch das Feuer und
Eisen des Bürgerkriegs Dutzende von
Volksanführcm, die morgen, am Tag des
Arbeiteraufstands, mit ihrer Erfahrung
und ihrem Heldenmut Tausende und
Zehntausende Arbeiter werden unterstüt-
zen können."
Man wird uns entgegcnhaltcn. daß durch
diese letzten Zitate cincBcgriffsverschie-
bunn des "Terrorismus" (die eine gewisse
Pünktlichkeit der Aktion impliziert) zu
dem des "Partisanenkriegs" erfolgt: Wir
können also annchmcn. daß diese Diffe-
renzierung den Begriff aufeinanderfol-
gender Phasen in der organisatorischen
Funktion und Nutzung der bewaffneten
Kampfformen cinführt, einer Konzep-
tion. die noch heute voll gerechtfertigt
erscheint.
Um klar und unbestreitbar die leninisti-
sche Konzeption der bewaffneten Aktion
zusammenzufassen, muß man Lenins
Vorschläge beim Vereinigungskongreß
der POS DR von 1906 lesen:
"I. Die Partei muß zugestehen, daß be-
waffnete Aktionen von zur Partei gehö-
renden oder an ihrer Seile kämpfenden
Kampfgruppen grundsätzlich zulässig
und in der aktuellen Periode opportun
sind;
2. Die Art der bewaffneten Aktion muß
der Aufgabe entsprechen, Führer für die
Arbeitermassen in der Zeit des Aufstands
auszubildcn und Erfahrung in der Durch-
führung überraschender Offensivaktio-
nen zu erwerben:
3. Das wichtigste Nahziel dieser Aktio-
nen muß die Zerstörung des Staats-, Po-
lizei-, und Militärapparats sowie ein gna-
denloser Kampf gegen die aktiven
Schwarzen Hundertschaften(3) sein, wel-
che Gewalt und Terror gegen die Be-
völkerung einsetzen.
4. Zuzulassen sind auch bewaffnete Ak-
tionen. um in den Besitz von Finanzmit-
teln des Feindes zu kommen, das heißt
der autokratischcn Regierung, damit
diese Gelder dem Aufstand zugute kom-
men; dabei ist sorgfältig darauf zu ach-
ten, daß die Interessen der Bevölkerung
so wenig wie möglich beeinträchtigt
werden:
5. Bewaffnete Partisanenaktionen müs-
sen unter Kontrolle der Partei so durch-
geführt werden, daß die Kräfte des Prole-
tariats nicht nutzlos vergeudet werden
und daß gleichzeitig die Eigenschaften
der Arbeiterbewegung in dem entspre-
chenden Ort sowie die Einstellung der
breiten Massen berücksichtigt werden."
Man könnte die militärische Frage auch
ausgehend vom Standpunkt des Blan-
quismus. des Anarchismus, des guevari-
schcn Föquismus, des Maoismus usw.
betrachten; wenn wirdrs nicht tun. dann,
weil die Kritiken, die an uns gerichtet
sind, vorgeben, sich auf traditionelle
marxistische Rezlige ab zu stützen, aber
auch weil wir uns selbst auf einen ortho-
doxen Marxismus beziehend), der den
beachtlichen theoretischen und prakti-
schen Beitrag von Lenin mit cinbc/icht.
Außjrdcm weil uns naiürlich die mecha-
nische Übernahme der von Lenin in sei-
ncr Zeit erarbeiteten Lösungen völlig
verfehlt erscheinen würde, obwohl sic
die theoretisch gründlichsten und zu-
sammenhängendsten sind, die man unse-
rer eigenen Auffassung von der militäri-
schen Frage im modernen revolutionären
Prozeß entgegensetzen kann.
3. Die leninistische Insurrektionstheorie
ist eine historisch richtige, jedoch heute
überholte Form
Lenins Auffassungen zum bewaffneten
Kampf sind sowohl auf der Ebene der
theoretischen Grundsätze als auch hin-
sichtlich der historischen Notwendigkei-
ten einer bestimmten Epoche richtig.
Nun hat sich aber die Epoche geändert,
diese Konzeptionen bleiben grundsätz-
lich richtig, sic müssen aber auf der
Ebene der politischen Praxis neu formu-
liert werden. Es gibt Phasen, die neu zu
bestimmen sind, andere verschmelzen
dadurch, daß sie überholt sind. Die Zeit
bringt neue Erfordernisse mit sich.
Die wesentliche Veränderung betrifft den
Begriff des Aufstands, dessen Vorberei-
tung wie wir gesehen haben, für Lenin
die Formen des bewaffneten Kampfes
rechtfertigte und bestimmte (doch selbst
das könnte man den verschiedenen links-
radikalen Sekten cntgegenhalten, die ob-
jektiv gesehen nichts als Reformismus
betreiben, indem sie abgesehen von ei-
nem verbalen Radikalismus und einer
überholten rituellen Phraseologie nicht
den geringsten theoretischen und prakti-
schen Unterschied gegenüber den Sozial-
demokraten aufweisen, sich aber trotz-
dem zweifellos in mystischer Weise auf
Marx. Lenin oder Mao zu berufen wa-
gen). Der Aufstand bleibt für alle, die
sich als proletarische Revolutionäre be-
greifen (und somit die Machtübernahme
durch das Proletariat anstreben), auch
wenn sie heute den bewaffneten Kampf
ablehnen, strategisch ausgedrückt, das
Hauptziel, das zu einem Umsturz der
bourgeoisen Herrschaftsapparate führen
soll. Sic können im übrigen diesen Auf-
standsprozeß auf verschiedene Art und
Weise sehen, doch es ist das Prinzip sel-
ber des Aufstands, das uns als nicht mehr
passend im modernen Westen erscheint,
und deshalb spielt die Kritik eine wesent-
liche Rolle in unserer Auffassung des be-
waffneten Kampfes. Eine Darstellung des
Inhalts dessen, was wir als die Leitlinien
einer Strategie des bewaffneten revolu-
tionären Kampfes sehen, wird somit die
Kritik der Insurrektionstheorie einbezie-
hen.
Und wir hoffen durch diese wenigen Er-
klärungen unseren lieben Kritikern be-
greiflich zu machen, daß sic im Irrtum
sind, wenn sie behaupten, daß für uns
"die Folge der Vermehrung individueller
Handlungen oder der kleinen Gruppen
zur Revolution führt, weil dies die
Massen "erwecken" würde! Das ist
absurd. Wir haben niemals - weder
theoretisch noch praktisch! da;;
geringste mit dem Anarchismus oder
irgendeiner Form kleinbürgerlichen
Radikalismus zu tun gehabt. Im übrigen
sind wir allmählich etwas verärgert
darüber, daß immer alles in einen Topf
geschmissen wird, Verwirrungen
sorgfältig aufrecht erhalten werden und
Kritiken an imaginären Standpunkten
geübt werden. Wir fordern daher die
ultralinken Grüppclnn aller Art sowie die
verschiedenen Linksradikalen auf. sich
mit ihrer Kritik an unsere genauen und
konkreten Standpunkte zu halten und
nicht an das. was sie sich als getreue Mit-
läufer der Staatspropaganda oder als glü-
hende Anhänger des radikalen Kretinis-
mus auf eine absurde Art und Weise ein-
bilden (oder einbilden wollen) was wir
tun. sagen, denken.
Andererseits muß man erstmal Begriffs-
klarhcit schaffen, um diskutieren zu kön-
nen. Zum Beispiel, das, was immer als
■militärische Frage* bezeichnet wurde,
ist nicht dasselbe wie die Frage des pro-
letarischen Selbstschutzes. Man muß bei-
des genau auseinanderhalten. Der Selbst-
schutz der Arbeiter und des Volkes in
den Kämpfen ist eia wichtiges Problem,
für das eine Praxis des bewaffneten
Kampfes bestimmt: Lösungen bringen
kann, sicherlich aber nicht auf eine sy-
stematische Art und nicht immer wün-
schenswert. Der Selbstschutz ist wichtig
für die Entwicklung der proletarischen
Kämpfe und den Prozeß des Bewußtwer-
dens. er ist ein Begriff, der nicht im Ge-
gensatz zum bewaffneten Kampf steht,
ihn aber auch nicht impliziert. Wenn wir
hier vom bewaffneten Kampf sprechen,
dann nicht im Rahmen der unmittelbaren
taktischen Probleme der Massenbewe-
gung (das ist eine Frage, die wir an ande-
rer Stelle diskutieren können), sondern
auf der Ebene des globalen revolutionä-
ren Prozesses, das heißt im Rahmen einer
historischen revolutionären Strategie. Die
"militärische Frage* bezeichnet das all-
gemeine Problem des militärischen Kräf-
teverhältnisses zwischen den Kräften des
Proletariats und den imperialistischen
Kräften. Damit stellt sich die militärische
Frage nach der Bildung von kämpfenden
Kräften, nach der Art des Parteiaufbaus.
der Zerstörung des bourgeoisen Staats-
apparats. der Machtübernahme durch das
Proletariats auf dem Weg zum Kommu-
nismus.
V. Der bewaffnete Kampf in der revolu-
tionären Strategie
I. Kritik der Theorie der friedlichen Auf-
Standsvorbereitung
Also, wie stellen wir uns diese Strategie
vor?
Um auf diese Frage zu antworten, müs-
sen wir auf das Problem der leninisti-
schen Auffassung der Strategie zurück-
kommen. um zu sagen, worin wir «lie
verschiedenen Linien dieser politischen
Strömungen nicht teilen können, die sich
als Wächter einer angeblichen marxisti-
schen Orthodoxie. 'Fundamentalismus"
oder "Evangelium" des Marxismus, je
nach den Fällen, ausgeben, und die sich
mit Hilfe von außergewöhnlichem Mut
oder einer noch erstaunlicheren intellek-
tuellen Verkalkung seit nunmehr 60 Jah-
ren krampfhaft als die Partei oder künfti-
ge Partei sehen und in der liturgischen
Verzauberung der geheiligten Texte und
gegenseitiger Exkommunizicning leben,
ohne jemals auch aur eine Spur von
Phantasie oder Realismus an den 'lag zu
legen! Diesen Strömungen zufolge, wä-
ren Methoden anzuwenden, die in halb
feudalistischen lindem zu Beginn des
Jahrhunderts mehr eder weniger Erfolg
hatten. Und dies durch politischen
Kampf, mit dem Versuch den Bewußt-
seinsstand der Massen durch eine gedul-
dige Agitations- und vor allem Propa-
gandaarbeit, durch Erklärung und Erzie-
hung zu heben, bis zu jenem strahlenden
Morgen des großen Abends, wo den
Massen dann nur noch Gewehre ausgc-
tcilt werden müssen, um den Sturm auf
die Paläste anzutreten. Es ist nicht ver-
wunderlich. daß sich angesichts des ge-
ringen Erfolgs dieser Strategie die mei-
sten linksradikalen Strömungen gesagt
haben, daß in der Verzweiflung der Lage
cs noch vorzuzichcn war. am Arsch der
Sozialdemokratie za kleben, um die
wachsamen Kritiker zu sein oder um ei-
nes Tages eine kleine Beteiligung an der
Rcgicmngsmacht zu erlangen und sich
dabei gleichzeitig, um den Schein zu
wahren, zu sagen, man werde, dann die
Sozialdemokratie "links" überholen (wie
in Chile. Portugal usw. nehme ich an?)
Zwei Probleme tauchen bei dieser Auf-
fassung der Bcwußtscinserweckung und
der Organisation der Massen allein durch
die traditionelle politische Arbeit auf,
und wir müssen unsere Strategie unter
Berücksichtigung dieser Probleme
konzipieren. Das erste Problem betrifft
die Frage der Möglichkeit einer friedli-
chen Vorbereitung zum Aufstand. Das
zweite Problem ist die Möglichkeit des
Aufstands selbst. Betrachten wir dies
aufmerksamer. Ist eine friedliche Vorbe-
reitung zum Aufstand möglich? Wenn
wir darauf mit Nein antworten, wollten
wir natürlich nicht sigen, daß die Kämp-
fe zur Befriedigung der unmittelbaren
Bedürfnisse der Massen sowie der nicht
bewaffnete politisch: Kampf für die Pro-
paganda und des Auftretens neuer Orga-
36
nisationsformen der Massen nutzlos
seien, ganz im Gegenteil. Sie sind sogar
erforderlich und es gehl hier mir um die
Frage, welche Kampfform die Avant-
garde heute annehmen muß. in der sich
die kommunistische Strategie in ihrer
zugespitzten und umfassendsten Form
konzentrieren muß.
Man muß bei der Betrachtung der objek-
tiven Realität auf die außerordentlichen
Fähigkeiten der heutigen Bourgeoisie zur
Verwertung, Absorbierung und Unter-
schlagung sehen Das hängt mit dem im
Lauf der kapitalistischen Entwicklung
auf allen Ebenen der Gesellschaft einge-
tretenen Umwandlungen zusammen. Es
gibt immer weniger Räume, die sich der
Rationalität der kapitalistischen Produk-
tionsweise entziehen können und das äu-
ßert sich in verschärfter Entfremdung,
allgemeiner Kontrolle durch Herrschafts-
organc über alle Lebensbereiche. Die Ra-
tionalität des sozial-ökonomischen Sy-
stems selbst und seine Allmacht sind die
Hauptursache für den ideologischen und
psychologischen Zustand und umso mehr
diese Rationalität ausgewertet wird, um-
so schlechter ist der Zustand. Die Werk-
zeuge der Manipulaiion. die Reprodukti-
on der Ideologe, waren noch nie so
mächtig, und sie sind auch immer wir-
kungsvoller geworden. Früher spielten
Kirche, Familie usw. eine Repressions-
rolle ersten Grades, einfach durch direk-
tes Verdrängen and Hemmen mit Hilfe
von Tabus, während heutzutage das Sy-
stem sehr viel komplexer ist und die psy-
chologische Repression sich permanent
jedem Fortschritt der kapitalistischen
Entwicklung anpaßt, wobei das Verdrän-
gen durch verschiedene Übertragungen
erfolgt (man verzichtet auf seine Freiheit,
doch Kredit läßt den Neuwagen als Ge-
schenk erscheinen...). Und vor allem der
Klassenkampf ist nach dem gleichen
Prinzip auch eine Triebkraft für das Ka-
pital, ein gewisses Niveau an Protest ist
für das System notwendig und gehört zu
seinem Betrieb. Und sei es nur um den
Bedarf zu wecken, auf den das System
durch massive und anarchische, ver-
dummende Überinformation antwortet,
die es braucht, um uns zu betäuben und
uns seine Macht-Ideen einzuhämmem.
Wie sollen wir nun durch Flugblätter,
kleine Zeitungen. Sprühaktionen und
Megaphone wirksam der Macht der staat-
lichen und monopolistischen Massenme-
dien Konkurrenz bieten, die vom Impe-
rialismus weltweit verbreitet sind? Allein
schon diese Feststellung begründet die
Mutlosigkeit des Linksradikalismus, dem
nur folgende Alternative bleibt: Integra-
tion in der Unterwerfung oder Sterilität
kleiner Abwehrinseln, die zusammcngc-
sch weißt werden entweder durch versi-
chernde Dogmatik oder durch einträchti-
ges Nebeneinander, und die sich dadurch
die Illusion geben Widerstand zu leisten,
während sie doch nur den Versuch ma-
chen, ein wenig abseits zu leben. Wir be-
haupten dann, daß heute keinerlei Fort-
schritt ohne eine Strategie des radikalen
Bruchs in allen Bereichen möglich ist,
wir sagen, daß es sich nicht um Selbst-
schutz handelt, es gehl nicht darum.
Gruppen zu bilden, um sich warm zu hal-
ten, indem man sich mittels einer Grup-
pensprache als anders bezeichnet als cs
der Opprcssor wünschen würde, um eine
Lebensweise, um eine Redensart, um ei-
nen Wort streit, der übrigens semantisch
immer gleich nhläuft. welche Gedanken-
referenz es auch immer sein mag
(freiheitlich, “alternativ", "marxistisch-
leninistisch“, Zeugen Jehovas oder sogar
"bewaffneter Kampf'...). Wenn es dabei
um eine Art des Seins, und im gewissen
Sinn um eine existentielle Militanz und
nicht so sehr um eine Kampfstratcgie
geht, mit der konkret eine Revolution,
ein Machtwechscl hcrbcigcflhrt werden
soll. Wir sagen, man muß mit der Ein-
fachheit vorgekautcr Ideen und der
Selbstbefriedigung Schluß machen, die
sich aus einem bestimmten Protestgeba-
ren ergeben (Filzpantoffeln unter den
Cowbowstiefeln tragen!). Weder Opfer
noch Komplizen, wir müssen die sein,
die angreifen.
Man kann heute nicht mehr annchmcn,
daß durch einfache politische Überzeu-
gungsarbeit der Bewußtseinsstand des
Proletariats soweit gehoben werden kann,
wie es für einen Aufstand notwendig wä-
re. Man kann sich im übrigen fragen, ob
das jemals denkbar war...
Vergessen wir z.B. nicht, daß das vorre-
volutionäre Rußland politisch-ideolo-
gisch nicht mit unseren bourgeoisen De-
mokratien vom Ende des 20. Jahrhun-
derts vergleichbar war Beim Verteilen
der Iskra riskierte man Sibirien, und bei
Demonstrationen setzte man sich nicht
den harmlosen Trünengasgranatcn aus.
die hier zu dem Ruf Faschismus führen,
sondern Sibelhiebcn. Das bedeutet, daß
zu jeder Epoche, die gleichen Kampf-
formen nicht dieselben Werte des Bruchs
und der Subversion haben. Im schlimm-
sten Fall war das Anbringen der Roten
Fahne ln der zaristischen Epoche eine
ebenso radikale Dissidenz wie heute das
Legen einer kleinen Bombe.
Außerdem darf man die Leute auch nicht
für dumm halten, heute können die Pro-
letarier nachdcnkcn, lesen, sie sind gut
informiert und begreifen, daß dieses Sy-
stem verrottet und schädlich ist, und
wenn auch Aufklärungs- und Informati-
onsarbeit rach wie vor notwendig ist, so
muß sich unser politisches ued ideologi-
sches Vorgehen anders äußern, andere
Ziele haben.
2. Ideologische Rolle des bewaffneten
Kampfes
Das System der Entfremdung erreicht nie
gekannte Grade und das könnte hinsicht-
lich der Möglichkeiten zur Befreiung
pessimistisch stimmen. Das wäre ein
Fehler, da die Unterdrückung sich zur
gleichen Zeit entwickelt, wie sie die Mit-
tel zu ihrer Bekämpfung und die Gründe
zu ilrcm Verschwinden entwickelt. Ins-
besondere geht die wirtschaftliche Ent-
fremdung der Arbeit einher damit, daß
dem Arbeiter seine Arbeit fremd wird,
daß ihm keine Arbeit Befriedigung mehr
schafft, daß er in ihr keine ethische oder
schöpferische Tätigkeit sieht, deren
Rechtfertigung im Allgemeinen kaum
noch sichtbar ist. außer der einzigen Ra-
tionalität, der Ausbeutung; ein Wandel,
der den Bruch mit dieser Produktions-
weise nur erleichtern kann. Das System
reagiert auf diese neue Schwäche, die
sich aus der einfachen Entwicklung des
Kapitalismus ergibt, durch gesteigerte
Repression, durch Schaffung von Ab-
hängigkeit. Es wird also alles getan, um
die Individuen voneinander zu isolieren,
Klassenabgrenzungen mittels kultureller
Beeinflussung, je nach Allersgruppen,
Moden usw. zu verwischen und insbe-
sondere durch massive Besetzung des ge-
samten Alltags, bis zur Manipulation des
Unterbcwußtscins, um ein Gefühl der
Vernichtung, der Unterlegenheit und der
Schwäche des Individuums zu bilden,
daß sich machtlos und allein fühlt ange-
sichts eines übermächtigen Systems, das
ihm engumgrenzte Bezirke einrichtet, die
aber nur das negative Abbild der Ma-
schen in dem Übcrwa;hungsstrich und
Steuerungsnetz sind. Abgegrenzte Be-
zirke für die Lohnarbeit, für das Vergnü-
gen. zum lernen, zum l«ben, wobei sich
der Konsum ritualisiert und sich die Le-
galität nicht zu sehr als großer Knüppel
darstellt, sondern mehr als eine Vielzahl
von Türen (Presse. Parteien, Versamm-
lungsfreiheit. Streikrecht. Meinungsfrei-
heit usw.), mit der Überschrift “zum pro-
testieren - hier eintreien". die zum wei-
chen Daunenbett der Bourgeoisie führen,
das Schreie und Schläge erstickt.
Auch wenn Schreie und Schläge sich
nutzlos und verzweifelt in der weichen
Matratze verlieren, die tatsächlich die be-
ste Panzerung der bourgeoisen Diktatur
ist, können wir doch durch Feuer und
Schwert Risse hervorrufen, aus denen die
dämpfenden Federn quellen werden, was
zu einem Blutsturz der Demokratie füh-
ren wird. Das bedeutet sicherlich eine
Verringerung der "Freirüume" und der
Grund“ freiheiten“, eine Radikalisierung
der Repression, doch zugleich wird auch
das Feindbild deutlicher, und die Wider-
sprüche werden bis zum Zerreißen zuge-
spitzt, die bourgeoise Diktatur wird ihres
*7
augcntäuschcndcn Schleiers beraubt und
zeigt ihr wahres Gesicht, eine klare und
direkte Entwicklung des Kampfes, Kraft
steht gegen Kraft, Klasse gegen Klasse.
Die Verteidiger des Kapitalismus können
den bewaffneten Kampf verleumden,
schlecht machen, die Partisanen als
"Terroristen" bezeichnen, ihre eigenen
Denkkategorien auf die Guerilla übertra-
gen und in ihr das sehen, was sic selbst
sind: Söldner, und somit versuchen, sie
zu schwächen. Doch sic werden niemals
die bewaffnete Opposition institutionali-
sieren und auffangen können, während
doch alle anderen Formen außer der des
revolutionären Krieges von der Funkti-
onsweise des Kapitalismus integriert
werden können. Weil kein gesellschaftli-
ches und damit staatliches Klassensystem
Handlungen hinnehmen kann, die auf
seine gewaltsame Zerstörung abzielen.
Auf der Ebene dieser Phase, die früher,
die einer nicht bewaffneten Vorbereitung
war, zielt der bewaffnete Kampf allein
auf einen echten Bruch des Konsens ab.
Indem er die Dissidenz über die mögli-
che Funktionsweise des Kapitals und des
Staates hinaustreib:. Der Partisanenkrieg
zeigt die Schwächen des für allmächtig
gehaltenen Feindes, er zeigt, daß man
kämpfen und siegen kann. Schon die ein-
fache Tatsache, daß man zu Repressalien
gegen den Feind in der Lage ist, spielt
ideologisch gesehen eine außerordentli-
che bedeutsame befreiende Rolle. Schon
die geringste Erfahrung in militanter
Massenarbeit zeigt das: die Leute sagen
uns bei der Arbeit oder auf der Straße,
daß sie die Nase-voll haben und daß sich
alles vollständig ändern müßte, und wenn
sich dabei auch jeder Einzelne unschwer
bereit erklärt, revolutionär zu sein, so
wird er doch hinzufügen, daß cs keinen
Zweck habe sich zu engagieren. Gefah-
ren auf sich zu nehmen, da niemand
wirklich etwas tue und alle anderen
Dummköpfe sind usw. Dann ist es poli-
tisch und ideologisch von großer Bedeu-
tung zu beweisen, daß der Klassenfeind
nicht allmächtig bt und solidarisches
Handeln der Bevölkerung möglich ist
und daß man den Ausbeutern schmerz-
hafte Schläge zufügen kann, daß Bullen
und Justiz für ihre Morde und Übergriffe
bezahlen müssen, daß die kolonialisti-
schcn Söldner physisch für die Ermor-
dung jedes Bruders in der Welt und den
beherrschten Ländern geraubtes Kilo-
gramm Reichtum büßen müssen, jeder
Arbeitgeber psychisch und materiell
darin gehindert werden kann, sich aut
dem Rücken des Arbeiters zu bereichern,
auf Kosten seiner Erschöpfung. Entfrem-
dung, Verstümmelung, auf Kosten eines
Lebens, das beschlagnahmt war durch
die absurde Rationalität eines unmensch-
lichen Systems. Außerdem sagen wir.
daß bewaffneter Kampf zum Hoffnungs-
träger werden kam. zum Funken der
Würde, welche die Flamme der Freiheit
entzündet.
3. Der revolutionäre Kampf muß eng mit
den Volksmassen verbunden sein
Doch das ist nur die allgemeine politisch-
ideologische Rolle des bewaffneten
Kampfs, der global handelt als Beispiel
für den Widerstand und den revolutionä-
ren Angriff unter konkreter Veränderung
des Kräfteverhältnisses und des Feind-
bildes, welche andere menschliche Werte
in Erscheinung treten läßt, als die, mit
denen uns die alte Gesellschaft der Herr-
schenden versteinert. Es gibt eine deutli-
chere politisch-ideologische Rolle, die
der Existenz des bewaffneten Kampfes
innerhalb der Massen. Denn unsere übli-
chen Kritiker werfen uns vor, wir stün-
den außerhalb der Volksmassen und ge-
nau dieses Bild zeichnet auch die reaktio-
näre Propaganda. Daß bestimmte be-
waffnete Gruppen heute völlig abseits
stehen und auch nicht den geringsten po-
litischen Bezug zu den Massen haben
(höchstens, um gelegentlich in antire-
pressives Elendsgejammer zu verfallen
oder sich in den Gefängnissen mit der
Kriminalität des Lumpenproletariats
glcichzuschalten) steht fest. Andererseits
ist es auch normal und unvermeidlich,
daß die Militanten individuell gezwun-
gen sind, völlig im Untergrund zu arbei-
ten, um ihre Aktivisten korrekt fortset-
zen zu können. Doch außerhalb des Vol-
kes steht nur der. der das wünschL Es sei
uns gestattet, durch ein kleines persönli-
ches Beispiel diese Frage zu erklären:
Bevor ich mich auf Grund der Ereignisse
und bestimmter Notwendigkeiten, die
sich aus unseren politischen Entschei-
dungen ergaben, gezwungen sah. ganz
zum Militanten zu werden, war ich ein
Arbeiter wie jeder andere, Gewerk-
schaftsmitglied (nicht aus Bewunderung
Für die Gewerkschaft), sondern ganz ein-
fach. weil die Gewerkschaft bestimmte
militante Möglichkeiten bot und die fort-
schrittlichsten Elemente ihr angehörten),
wobei ich mein illegales Engagement ge-
heim hielt und gleichzeitig ganz legal in
der Agitation und Massenorganisation,
der Information und Propaganda tätig
war. Ende dieser persönlichen Zwi-
schenbemerkung. Wir wollten nur sagen,
daß der bewaffnete Kampf einem nicht
zum Außenstehenden in Bezug auf die
Massen macht, wenn man das nicht will
(und wir wollten es eben nicht). Selbst-
verständlich können bewaffnete Aktio-
nen heute nur durch Untergrundstruktu-
ren geführt werden), doch das bedeutet
nicht, daß deswegen ihre Militanten oder
ihre politischen Linien der breiten Masse
fremd sind. Ebenso wie ein Flugblatt
nicht von der breiten Masse formuliert
und verteilt wird, sondern von ihren fort-
schrittlichsten Elementen, und das glei-
che gilt auch fUt den bewaffneten
Kampf, insoweit er von den fortschritt-
lichsten Elementen des Proletariats oder
anderen Schichten des Volks geführt
werden muß. und nicht von einer Art re-
volutionärer Geheimagenten, die nicht in
den Massen einbezogen sind.
Solange ihre eigene Sicherheit cs ihnen
erlaubt, müssen die Partisanen eine Le-
bensweise erhalten, die den übrigen Pro-
letariern konform ist Ihre Klassenidenti-
tät nicht nur ideologisch und politisch,
sondern auch ihre eigene soziale Stellung
beibehaltcn. aktive, alltägliche, perma-
nente Beziehungen *u den Volksmasscn
unterhalten. Nicht nur durch die Anwen-
dung einer historisch gesehen proletari-
schen politischen Linie, sondern auch
durch ihre Rolle als objektive Avant-
garde im Alltagskampf des Proletariats.
Insbesondere in den Kämpfen für die Be-
friedigung der unmittelbaren Bedürfnisse
der Massen. Und wenn diese soziale In-
tegration für eine winzige Minderheit
von Militanten aus Sicherheitsgründen
oder aufgrund besonderer militanter
Aufgaben nicht möglich ist. dann dürfen
wir keine Außenseiter oder Rebellen
sein, sondern Vollzeitmilitante. Berufs-
revolutionäre und wenn auch das Wort
einige Idealisten schockiert, Funktionäre
ihrer Organisation.
4 Eine proletarisch-politische Linie
Das zweite Bindeglied zu den Massen ist
natürlich die Verwirklichung einer prole-
tarischen politischen Linie, die sich auf
eine Klassenanalyse und einen Klassen-
standpunkt stützt: das heißt einer Linie,
die der geschichtlichen Funktion und
dem geschichtlichen Werden des Prole-
tariats als Klasse entspricht, die dazu
aufgerufen ist, durch ihre Machtüber-
nahme das Entstehen einer klassenlosen
Gesellschaft zu ermöglichen. Die kom-
munistische Linie.
Die dritte Achse der Integration in die
Volksmasscn ist die organisatorische Li-
nie. Wir haben nie an kleine verstreute
Elemente gcdacht(5). welche die Massen
durch ihre Aktion aufwcckcn sollen, wie
das die Anarchisten im vorigen Jahrhun-
dert denken mochten. Für die Kommuni-
sten geht es gegenüber den Massen
darum, durch ihre politische Praxis das
Proletariat aus einer Klasse an sich zu ei-
ner Klasse für sich zu verschieben. Das
heißt zur Klasscnncubildung eines Prole-
tariats beizutragen, dessen Bedeutung
immer weiter wächst (im Gegenteil zu
dem, was manche behaupten), das aber
stark aufgeteilt ist (unterschiedlicher Sta-
tus innerhalb der Arbeiterklasse. Proleta-
riat im Dicnstleistungsbereich usw.), um
schließlich die Verwirklichung des Prole-
tariats als Klasse zu beschleunigen, als
dialektische Voraussetzung für dessen
eigenes Verschwinden im Übergang zum
Kommunismus. Das bedeutet Zugarg des
Proletariats zum Klassenbewußtsein.
Triiger. Ausdruck und Faktor des Klas-
scnbcwußtscins ist dabei die politische
Organisation des Proletariats als Partei.
5. Der Auß/au der Partei
Unsererseits denken wir. daß die Partei
sich nicht selbst proklamieren kann, und
die Partei als Voraussetzung für den re-
volutionären Aufschwung zu schaffen
bedeutet, den Pflug vor das Pferd zu stel-
len. Die Partei ist der wichtigste politi-
sche Ausdruck des Proletariats, sein zen-
traler Ort. der Motor und die Verkörpe-
rung des revolutionären Klassenbewußt-
scins. Daher kann man annehmen, daß
wenn man die Partei verteidigt, man das
Proletariat verteidigt, aber wenn das
letztgenannte nun in der Bewegung des
Klassenkampfs noch nicht auf eine aus-
reichende Ebene der Wiederzusammen-
setzung, der politischen Identität und im
gesamten sozialen Bereich als der größte
objektive und subjektive Widersacher in
Erscheinung getreten ist. dann riskiert die
Entwicklung der Partei, sich - durch
Kompromisse mit der Bourgeoisie in ih-
rem parteipolitischen Spiel - auf den Ver-
rat der Klassen zu orientieren. Oder aber
es wird eine Verknöcherung um die
"richtigen" Grundsätze und eine Linie,
die zu ihrer Zeit richtig war. derer. An-
wcndungsvcrsuchc aber auf die Wand-
lungen der objektiven Realität stoßen.
{ein treten, Einf. d. Hg.j.
Wir können damit annehmen, daä die
Partei die organisatorische Dynamik der
objektiven Avantgarde des Proletariats
zum Ausdruck bringt, daß sie aber aus-
drücklich als gebildete Partei erst in Er-
scheinung treten kann, wenn sic vom
Proletariat auf diesen Weg in die Welt
gesetzt wird, wobei sie dann die politi-
sche, theoretische und militärische Zen-
tralisierung des Proletariats in der Orga-
nisierung der entwickelsten Elemente
seiner Avantgarde ausdriiekt (die Partei
ist weder eine Massenorganisation noch
eine Gewerkschaft). Die Partei bildet
sich als monolithischer Ausdruck der
Reife des Proletariats im Zuge der poli-
tisch-militärischen Konfrontation und
folglich im Zuge des schrittweisen Auf-
tretens der Notwendigkeit eines zentrali-
sierten Instruments, das dem Proletariat
als wichtigstes Instrument für die Macht-
übernahme dienen kann.
Die russischen Kommunisten haben sich
nicht sofort in einer Organisation konsti-
tuiert. welche der. Anspruch erhob, allein
über die richtige Praxis zu verfügen und
von vornherein als zentral zu gelten. Al-
lerdings kennte dort die Partei als solche
vielleicht frühzeitiger in Erscheinung tre-
ten, insofern die proletarische Zentrali-
sierung unniiliclbarcr vorhanden war: ei-
ne kleine konzentrierte Arbeiterklasse,
die Organisation der Avantgarde dieser
proportional reduzierten Schicht konnte
ganz legitim als Partei des Gesamtprole-
tariats auftreten (dessen Setechten, von
der Arbeiterklasse abgesehen, völlig he-
terogen waren und damit kein: autonome
politische Kapazität hatten, was heute
nicht mehr der Fall ist).
Doch sind wir weder Subjektivsten noch
Mechanisten, wir denken auch nicht, daß
die Partei durch spontane Zeugung oder
schrittweise im Laufe der Entwicklung
des Klassenkampfs entstehen wird, da
eine Wechselwirkung zwischen dieser
Entwicklung des Klassenkampfes und
dem Vorgehen der Partei besteht. Damit
es eine Partei gibt, muß der Wille dazu
vorhanden sein, sie muß sich bilden, und
diese Bildung muß einen bewußten po-
litischen Willen und einer geduldigen
Organisationsarbeit entsprechen. Alles
hängt jedoch auch von den nationalen hi-
storischen Bedingungen ab, das heißt,
nicht nur von den objektiven sozialen
Gegebenheiten, sondern auch von der ei-
genen Geschichte, von jeder nationalen
Arbeiterbewegung. In Spanien 7.B. wird
die Geschichte gekennzeichnet durch ei-
ne ununterbrochene Kontinuität der kom-
munistischen Bewegung, nicht nur der
organisierten kommunistischen Existenz
innerhalb der Arbeiterklasse, sondern so-
gar auf dem Niveau der kämpfenden
kommunistischen Bewegung, da der be-
waffnete kommunistische Kampf inner-
halb des antifaschistischen Widerstands
seit 1937 nie aufgehört hat. Aufgabe der
modernen Kommunisten war somit die
politische Wiedererrichtung der kommu-
nistischen Partei und nicht ihre Schaf-
fung aus dem Nichts, und diese histori-
sche Aufgabe ist das Werk der
(wiedererrichteten) Kommunistischen
Partei Spaniens. Es liegt auf der Hand,
daß das in der BRD nicht der Fall ist, wo
die kommunistische Bewegung ganz neu
ins Leben gerufen werden muß. da es
keinerlei Kontinuität dieser Art gibt, weil
die kommunistische Bewegung dort seit
vor dem Krieg zerschlagen werden ist.
In Frankreich ist die Lage ebenfalls an-
ders (diese fundamentalen Unterschiede
tragen übrigens mit dazu bei, daß der
Aufbau einer einheitlichen revolutionä-
ren Bewegung auf europäischem Boden
Blödsinn ist. abgesehen davon, daß so-
ziale. wirtschaftliche und kulturelle Un-
terschiede selbst in dem imperialistisch
immer stärker vereinheitlichten Europa
wesentlich bleiben; zwischen London
und Athen, Frankfurt und Neapel. Brüs-
sel und Sevilla gibt cs ebenso viele Un-
terschiede wie zwischen New York und
Abidjan). Etwas vereinfacht läßt sich sa-
gen. daß die Lage der Kontinuität der
kummuiiistisclicii Bewegung in Frank-
reich besser ist als in Westdeutschland,
doch nicht so gut wie in Spanien: einer-
seits aufgrund der Voraussetzungen, un-
ter d:nen die FKP entstand, die von An-
fang an große Schwächen halte, und an-
dererseits weil die Kapazitäten des be-
waffneten kommunistischen Kampfs, der
im Rahmen des antifaschistischen Wi-
derstands zur nationalen Befreiung auf-
getaucht war. 1945 abgewürgt wurde und
wir also 40 Jahre Zerstörung kommuni-
stischer Bewegung in diesem Land vor-
finden. Für uns muß cs somit in Frank-
reich weniger um eine Wiedererrichtung
als um einen erstmaligen Aufbau der
kommunistischen Partei gehen. Das ist
eine langfristige organisatorische Auf-
gabe: nun sprechen wir von der Partei,
wie wir sie weiter oben definiert hatten.
Und diese Steigerungsflhigkeit des Auf-
bau« der Partei verbietet natürlich nicht
anzunchmcn, daß ein wichtiger Schritt
auf diesem Wege der relativ kurzfristige
Aufbau einer Partei wäre, einer revolu-
tionären Partei mit folgenden drei Kenn-
zeichen: Kommunistisch. Proletarisch.
Kämpfend.
6. Der bewaffnete Kampf als Praxis der
Avantgarde beim Aufbau der Partei
Wir stellen folglich den bewaffneten
Kampf nicht als eine Gesamtheit von
Grüppcheninitiativen dar. mit denen die
Masse erweckt und Reaktionen ausgelöst
werden sollen, wobei man abwartet, was
geschieht. Der bewaffnete Kampf kann
sich aber auch nicht darauf beschränken,
den ‘bewaffneten Arm' der Massen zu
bilden, wir lehnen diese Vorstellung völ-
lig ab, die aus der Guerilla eine Art radi-
kale Untergrundfrakticn der Gewerk-
schaftsbewegung machen würde, wobei
abgewartet würde, daß die Massen ein
Bedürfnis äußern, um dann zu seiner Be-
friedigung beizutragen usw. Wir verste-
hen den bewaffneten Kampf weder als
Ausdruck eines bewaffneten Arms der
Massen noch als der bewaffnete Arm ei-
ner rieht bewaffneten politischen Orga-
nisation (wie das zwischen der proletari-
schen Linken und dem neuen Volkswi-
derstand der Fall sein könnte; dieses
Konzept halten wir heute für falsch).
Andererseits betonen wir nachdrücklich,
daß der bewaffnete Kampf nicht eine
Form des Kampfs unter anderen ist, nicht
ein besonderes Hilfsmittel der Massen-
kämpfe. Der bewaffnete Kampf läßt sich
nur als kommunistisch und revolutionär
bezeichnen, wenn er sich in die Konti-
nuität der historischen Strategie der kom-
munistischen Weltbewegung cinfügt. Er
muß zum konkreten Ausdruck des Pro-
zcsscs werden, bei dem die organisierte
Avantgarde des Proletariats politisch in
den Vordergrund tritt, eine Avantgarde,
die der Oit ist, indem sieh das Klasscnbc-
wußtsein des Proletariats katalysiert, was
die historische Funktion der Partei ist.
weshalb der revolutionäre bewaffnete
Kampf ein wesentlicher und untrennbarer
Bestandteil des Prozesses zum Aufbau
der Partei ist.
Konkret bedeutet dis unter anderem, daß
der bewaffnete Kampf als politische Pra-
xis, die durch eine wahre Strategie dik-
tiert wird (die also unvereinbar ist mit
Spontaneität und Subjektivismus) im
Proletariat verankert sein muß und dort
also höchster politischer und militäri-
scher Ausdruck einer allgemeinen polni-
schen Aktion, die zentral organisiert ist,
funktionieren muß, das heißt also, daß
die traditionellen Funktionen der Organi-
sationen einbegriffen sein müssen, die
sich auf die revolutionäre Bewegung be-
rufen. ohne sich die Mittel zu geben, um
wirklich revolutionär zu sein. Das bedeu-
tet, daß um den bewaffneten Kampf
herum (das heißt im selben Rahmen der
organisierten Strategie wie der bewaff-
nete Kampf und nicht speziell durch ihn)
alle taktischen Formen der politischen
Aktion, der Propaganda, Agitation. De-
nunziation. Erklärung, Information, der
Bildung und Entwicklung von Massen-
organisationen ablaufen müssen.
VI. Die politisch-militärische Frage
I. Die Machtübernahme wird durch ei-
nen langandauernden revolutionären
Krieg möglich sein
Nachdem wir uns mit dem Problem der
Bewußtseinserwecktmg befaßt haben,
ausgehend von der Kritik der Insurrckti-
onstheorie, wollen wir diese Kritik foit-
setzen. indem wir sie diesmal aus militä-
rischer Sicht betrachten. Die politische
Machtübernahme durch das Proletariat
auf einem punktuellen und massiven
Aufstand abstützen, ist heute unmöglich.
Wir haben die polilischcn und ideologi-
schen Gründe gesehen, die Gründe be-
stehen ebenfalls aus militärischen Moti-
ven. Niemals waren die Repressionsap-
parate so mächtig und wirksam, niemals
gab es ein solches Mißverhältnis zwi-
schen den militärischen Möglichkeiten
des Proletariats urd den militärischen
Kräften der bourgeoisen Diktatur. Auf
internationalem Niveau steht uns das Sy-
stem der NATO gegenüber, die Koordi-
nation der Polizeien, die Informaüsierung
der Nachrichtendienste und damit der
Aufschwung des internationalen Austau-
sches. die wirkungsvollen Möglichkeiten
des "europäischen Rechtsraums", die ak-
tive Tendenz zur europäischen Standar-
disierung der Bullen-, Justiz- und
Knastapparate (mehr oder weniger) bis
zu den militärischen Geräten. Selbstver-
ständlich ist das alles von der Homoge-
nisiemngstendenz unzertrennlich, die
sich auf der sozial-ökonomischen und
politischen Ebene, unter der Schirmherr-
schaft der Sozialdemokratie, ergibt.
Auf nationalem Niveau brauchen wir uns
nicht lange bei der militärische Macht
des Feindes aufzuhalten, wir werden in
dieser Frage von den antirepressiven
Heulsusen und sonstigen Demokraten
(selbst wenn sic bewaffnet sind), die vom
"großen Bruder" besessen sind, zur Ge-
nüge mit Informationen bedient. Es
reicht, das beträchtliche Anwachsen der
Militär- und Polizeikräfte zu beschreiben,
ihre wachsende technische und struktu-
relle Fähigkeit zur Aufstandsbekämp-
fung. das Überziehen des ganzen Landes
mit einem engmaschigen polizeilichen
Netz zur Überprüfung sowohl der Mas-
sen als auch des Einzelnen, für das alle
Errungenschaften aus Wissenschaft und
Technik eingesetzt werden.
Selbst in dem völlig unmöglichen Fall,
daß die notwendige Planung und militäri-
sche Vorbereitung des Aufstands der mi-
litärischen Kontrolle des Feindes entge-
hen würde und es damit auch seiner prä-
ventiven Repression entgehen würde,
hätten die Volksmajse auch nicht die ge-
ringste Chance im heutigen Westeuropa
erfolgreich die direkte Auseinanderset-
zung zu übernehmen, was Formen des
Stellungskriegs, die Errichtung befreiter
Gebiete, die Besetzung städtischer Bal-
lungszentren, die nicht nur punktuell wä-
ren, voraussetzt. Heute kann eine zah-
lenmäßig kleine, spezialisierte und pro-
fessionelle Streitmacht, die mit moder-
nem Gerät ausgerüstet ist, voll wirksam
eine Offensive gegen einen Aufstand
durchführen. Ferner ist die neue Dezen-
tralisierung der Einsatzkommandos und
ihre Fcmmcldcmittel zu berücksichtigen,
was bedeutet, daß eine plötzliche Auf-
standsoffensive nicht in der Lage wäre,
das operative Funktionieren des Feindes
zu lähmen, da die FJhrungs-, Femmcldc-
. Logistik- und Kampfmittel nicht kon-
zentriert sind, sondern auf sehr flexible
Netze verteilt sind (die Frage läßt sich
heute nicht mehr durch Einnahme einiger
Kasernen und des Hauptpostamts lö-
sen...).
Hinzu kommt, daß wenn die Entwick-
lungskrise des Imperialismus allzu kri-
tisch andauem würde, ohne daß ein mo-
mentaner Ausweg in einer militärischen
Konfrontation zwischen den Blöcken ge-
sucht würde, könnte der Bourgeoisie gar
nichts besseres passieren als ein Prolcta-
rieraufstand. weil es dann zu einer Neu-
auflage der Vernichtung der Kommune
von 1871. der Kommune von Shanghai,
der Spartakistenbewegung usw. kommen
könnte. Die Bewegung würde im Blut er-
stickt werden, vor allem durch die neuen,
leichten Artillcricsysteme. der Luft-
k.iinpfiniltcl (vor allem Kampdiut»-
schrauber). zweifellos auch mittels takti-
scher Nuklcarwaffcn. deren konterinsur-
rcktioncllcr Einsatz ausgesprochen reali-
stisch erscheint, weil die materiellen
Vernichtungen relativ begrenzt sind (was
weniger spektakulär und moralisch ak-
zeptabler ist), wobei die vielseitigen An
Wendungsmöglichkeiten dieser takti-
schen Nuklearsysteme sehr aussichts-
reich erscheinen und ein großer Fort-
schritt für die Militärwissenschaft sind.
Diese Art militärischer Konfrontation
hätte für die Bourgeoisie die Vorteile der
klncciturhen inncrimpcrialistischen Krie
gc: Brutale wirtschaftliche Erneuerung.
Beseitigung der Überproduktion usw.
Außerdem ließen sich damit einige Reste
institutioneller Widersprüche der Bour-
geoisie durch Einsetzung brutaler staatli-
cher Strukturen beseitigen, es würde zu
einer besseren Beherrschung der imperia-
listischcn Umstrukturierungsbewegungen
kommen, und ein gebrochenes Proletariat
würde wieder erneut ein halbes Jahrhun-
dert sozialen Friedens unter verstärkter
Ausbeutung und Repression ergeben.
Wir müssen uns also für einen langfristi-
gen revolutionären Prozeß, einen langan-
dauemden Revolulionskricg entscheiden,
weil derzeit die Aussichten auf eine Re-
volution ausgeschlossen sind, die sich
auf einen friedlichen, parlamentarischen
Übergang (diese Lösung ist so absurd,
daß wir gar nicht darüber sprechen) oder
einen friedlich vorzubercitenden plötzli-
chen und massiven Aufstand abstützen
würden.
2. Die wichtigsten Kriterien in Verbin-
dung mit der strategischen Entscheidung
des bewaffneten Kampfs
Als Zusammenstoß zwischen militärisch
ungleichen starken Kräften muß der pro-
letarische Befreiungskrieg als Hauptform
die Guerilla haben, da der Partisanen-
krieg das einzige militärische Mittel ist.
das bei einer Konfrontation mit zahlen-
mäßig und technisch überlegenen Kräf-
ten erfolgreich sein kann.
Ein solcher langandauemder Krieg wird
innerhalb des Proletariats die Entwick-
lung einer echten (und nicht selbst er-
nannten) Avantgarde ermöglichen, die
durch das Klasscnbcwußtscin bestimmt
ist. Ein Klassenbewußtsein, das sich nur
durch einen absoluten Einsatz im Klas-
senkampf. und dies auf seinem höchsten
Niveau, in seiner Gesamtheit erwerben
und sich objektiv verwirklichen läßt. Der
bewaffnete Kampf für den Kommunis-
mus zielt auf diese kämpferische Ge-
samtheit ab und will somit den Raum der
absoluten antagonistischen Konfronta-
40
(ion als den Ort bezeichnen, wo das revo-
lutionäre Klasscnbcwußtsein enisieht, in-
sofern es vor allem eine Vollständigkeit
ist. das vollständige Bewußtsein, am
Gang der Geschichte als Klasse beteiligt
/.u sein, deren Kampf um die Macht die
Menschheit aus ihrer tierhaften verfrem-
deten Vorgeschichte hcrausreißen wird.
Die Partei ist zugleich Träger und Pro-
dukt des Klassen bcwuütseins. da sie die
Zentralität des Proletariats als Klasse
zum Ausdruck bringen muß und die am
weitesten fortgeschrittene Organisations-
form des Proletariats ist.
Folglich muß der bewaffnete kommunist-
ische Kampf der höchste (weil der voll-
ständigste) Ausdruck des Klassenbe-
wußtseins sein, doch ist die Partei zu-
gleich Träger und Produkt dieses Klas-
scnbcwußtscins (genauso wie sic ihr or-
ganisatorischer Ausdruck ist. während
das Konzept des bewaffneten Kampfes
sich mehr auf die Äußcrungsform als auf
die Art der Kollektivierung des Bewußt-
seins bezieht); der bewaffnete Kampf
äußert sich daher gemäß einer Entwick-
lung. welche die der Partei eigentümli-
chen Funktion zunächst auftauchen läßt
und dann ihre Verwirklichung anstrebt.
In diesem Sinn ist der bewaffnete Kampf
der Klassenkampf, der den Weg zum
Aulbau der Partei beinhaltet. Das erfor-
dert von der Guerilla einen klaren Kurs
bei ihren Entwicklungsentscheidungen.
Schauen wir uns das näher an:
- Wir wollen den Kommunismus. Um
dahin zu gelangen, muß das Prolüariat
die Macht übernehmen und sie ungeteilt
ausüben. Das ist heute angesichts <fcr Po-
larisierung der Gesellschaft möglicher
denn je. Sie hat aus dem Proletariat die
überwiegende Mehrheit de» Bevölkerung
gegenüber der Bourgeoisie gemacht, die
sich zunehmend um die imperialistische
Oligarchie schatt. selbst wenn die innere
Zusammensetzuag des Proletariats he-
terogen ist (allerdings darf man das auch
wieder nicht übertreiben, da z.B. die Ar-
beiterklasse immerhin sehr viel homoge-
ner ist als früher). Das "Volk" hier und
jetzt ist das Proletariat, nur die Proleta-
rier. Und das Kleinbürgertum? Es liegt in
jeder Hinsicht im Sterben und kann kei-
nerlei revolutionäre Rolle mehr spielen,
cs ist heute historisch völlig reaktionär,
da seine objektiven Interessen, (die es
übrigens in seinen politischen Äußerun-
gen voll zum Ausdruck bringt) einmal
eine Ablehnung der Vernichtung des Ka-
pitalismus (daher immer heftigerer Anti-
kommunismus des Kleinbürgertums ins-
gesamt, selbst in seinen früher als
"fortschrittlich" bezeichneten Schichten:
die Linksintcllcktucllc z.B. sind de ho-
hen Priester im Kampf gegen den Kom-
munismus) und Widerstand gegen die
imperialistische Entwicklung sind, was in
beiden Füllen dem Sinn der Geschichte
zuwidcrläuft und somit reaktionär ist.
Folglich muß sich die Guerilla als
Kampfform und Organisationstyp im
Proletariat entwickeln und darf auf kei-
nerlei Klassenbündnis beruhen. Dabei
sehen wir das Proletariat nich: so wie be-
stimmte Subjektivsten, die das Proleta-
riat anhand von Bewußtseinskriterien
oder Situationen im Abseits definieren,
sondern wir verstehen es im marxistisch-
en Sinn des Wortes und können hier,
wenn wir sehr großzügig sind, nur dieje-
nigen als Proletarier sehen, deren Ein-
künfte weder direkt noch indirekt auf ei-
ner Mchrvertauspressung stammen. Wir
sprechen cabei nicht vom Proletarier als
"soziale Figur" oder von etwa* das durch
sozio-kuluircllc Kriterien definiert ist.
sondern einzig und allein anhand seines
objektiven Platzes in den Produktions-
verhältnissen.
Das bedeutet nicht, daß Außenseiter oder
Kleinbürger, getrieben von ihrer Subjek-
tivität oder ihrer intellektuellen Überle-
gung sich nicht auf seiten der Guerilla
cinsetzen können. Das soll nur heißen,
daß die Arbeit der organisatorischen Ent-
wicklung der kommunistischen Kämpfer
sich ausschließlich im proletarischen Mi-
lieu abspielen muß. daß die politische
und militärische Leitung der Organisati-
on streng von Proletariern gesichert wird
(und nicht von Kleinbürgern bzw. sub-
jektiven Proletariern).
- Ein weiterer Wesenszug der Guerilla
auf ihrem Weg zum Aufbau der Partei ist
die Bildung einer Kadcrorgansation. Die
den bewaffneten Kampf führende Orga-
nisation hat absolut nichts mit einer Mas-
senorganisation zu tun, cs handelt sich
weder um eine bewaffnete Gewerkschaft
noch um eine Art Dachvciband von
Kampffronten, von sozialen Bewegungen
oder bewaffneten Gruppen, die politisch
autonom wären, es handelt sich auch
nicht (folgt meinem Blick...) um ein Un-
tergrundgrJppchen, das sich auf Bewe-
gung Ausgeflippter, Lumpenproletarier
oder orientierungslosen Kleinbürgern ab-
siützt (welche die erste Gelegenheit nüt-
zen, um zu bereuen und ganz aktiv mit
den Bullen zusammenzuarbeiten; auch
das ist eine Gemeinsamkeit zwischen be-
stimmten derzeitigen Gruppen oder den
Sozialrevolutionären bzw. anarchisti-
schen Gruppen von früher, ven denen sie
bis zum Sigel beeinflußt werden). Ganz
im Gegenteil, die kämpfende kommunist-
ische Organisation muß aus kommunisti-
schen Kadrm zusammengesetzt sein, daß
heißt aus erfahrenen Partisanen, die
höchst politisiert sind, eine solide Erfah-
rung in Massenagitation, Propaganda und
Organisation haben und ausreichende po-
litische unJ theoretische Fähigkeiten ha-
ben, damit jeder Militante der aktive Er-
zeuger der kollektiven politischen Linie
sein kann. Jeder Kämpfer muß in der La-
ge sein, die gesamte strategische Linie
auf sich zu nehmen und er muß somit po-
litisch und militärisch fähig sein, von
sich aus und unter allen Umständen eine
Organisationscinhcit ins Leben zu rufen
oder neu zu errichten.
- Um den revolutionären Prozeß wirklich
zu beherrschen, und zu verhindern, daß
die kämpfende kommunistische Organi-
sation nur eine Art bewaffneter Arm der
spontanen Massenbewegung ist (die
durch Spontaneität nicht zur Revolution
geführt werden, sondern zum
"Geuerkschaftswesen” wie Lenin be-
merkte) und sich diesem gegenüber folg-
sam und opportunistisch verhält, müssen
Arbeitsweise und Vorgehen der Organi-
sation eine einheitliche Linie zum Aus-
druck bringen, in der jeder Partisan sich
voll identifizieren muß. Opportunismus
und Bundnisse auf der Basis eines
"kleinsten gemeinsamen Nenners“ sind
abzubhnen. Es handelt sich somit nicht
um eine Sammlungsbcucgung, in der je-
der tut, was ihm paßt, wobei man sich
auf einer politischen Basis befindet, die
häufig in den letzten Jahren die Regel
war und sich folgendermaßen zusam-
menfassen läßt: "Man muß was tun, man
muß sich organisieren, um mit den Kum-
peln und netten Leuten, die handeln wol-
len, Sachen gemeinsam zu tun" oder son-
stige Absurditäten, die übrigens de facto
völlig undemokratisch sind, da die Wei-
gerung der politischen und organisatori-
schen Strenge dazu führt, daß die tat-
sächliche Leitung dieser Art von Konglo-
merat von einer "Elite" monopolisiert
wird, die aus denjenigen besteht, die auf-
grund ihrer persönlichen Erfahrung oder
ihres sozialen-beruflichen Status mehr
politische und theoretische Fähigkeiten
haben. Eine wirkliche kommunistisch
Funkiionswcisc muß ganz im Gegenteil
auf dem demokratischen Zentralismus
betuben. auf einer präzisen, organisierten
Struktur, so daß jeder wirklich und wirk-
sam an der Ausarbeitung der politischen
Linie teilnehmen kann, in einer organi-
sierten kollektiven Betätigung, die sich
eine zentrale politisch-militärische Füh-
rung als Funktion gibt, welche die Kol-
lektivierung und Vereinheitlichung der
Synthese der politischen, militärischen,
theoretischen und organisatorischen Pra-
xis der verschiedenen Kampfeinheiten
und jedes einzelnen Militanten gewähr-
leistet.
- Diese strukturierten und zentralisierten
Aspekte einer Organisation, die auf diese
Weise versucht, sich die Mittel zu geben,
um objektiv an der objektiven Spitze des
Klassenkampfs zu sein, führen dazu, daß
die Organisation der kommenden Partei
vorgreift, und auf diese Weise kann die
41
Partei sich im Verlauf des revolutionären
Prozesses herausbilden. Dieses Konzept
des "Vorgriffs" ist extrem wichtig, denn
dank ihm lassen sich sowohl abcntcucrli
che Übereiltheil als auch Verknöcherung
vermeiden, ein Fcstfuhren aufgrund der
Unfähigkeit, den Kampf von einer Phase
in die nächste zu führen. Daher gibt sich
der revolutionire bewaffnete Kampf
keine endgültige Form, die bis zum End-
sieg bcibchaltcn werden müßte. Er muß
eine Reihe unterschiedlicher Phasen
durchlaufen, die miteinander verknüpft
sind und jeweils einer bestimmten Situa-
tion des politischen und militärischen
Kräfteverhältnisses entsprechen. Dabei
ergibt sich die Verknüpfung zwischen
zwei aufeinander folgenden Phasen gera-
de dadurch, daß eine bestimmte Phase
einer historisch gegebenen Situation ent-
spricht, gleichzeitig aber auch auf die
folgende Phase vorausgreifen muß und
also die Tendenzen enthält, die sich
durch ihre Entwicklung in der folgenden
Phase voll durchsetzen werden, die dann
ihrerseits wieder zum Teil auf die näch-
ste folgende Phase vorausgreifen usw.
3. Die Vorbereiiungsphase auf die Etap-
pe der bewaffneten Propaganda
Das bedeutet, daß wir uns in Frankreich
in einer Vorphasc der Phase der bewaff-
neten Propaganda befinden, die aus drei
hinsichtlich ihrer Bedeutung aufeinan-
derfolgenden Phasen bestehen muß, die
jedoch chronologisch gesehen eine ge-
wisse Gleichzeitigkeit haben sollen oder
zumindest rasch aufeinander folgen:
1. Am Vorrangigsten ist eine intensive
theoretische Vorarbeit. Analyse der aktu-
ellen Realität in all ihren Komporenten,
und deren Neuintegration in eine histori-
sche Perspektive und eine ausrechend
konkrete und vollständig globale revolu-
tionäre Strategie zu entwickeln, die dann
in Verbindung der daraus folgenden Pra-
xis sich als Zusammenhänge und totali-
sicrcnde politische Linie äußert, welche
die politische Kontinuität und die poli-
tisch-militärische sowie die organisatori-
sche Entwicklung weiterftlhrt.
2. Eine politische Einigungsarbeil um die
eben genannte politisch-theoretische Ba-
sis. Das muß sich in einem Ansatz zur
Strukturierung der revolutionären Orga-
nisation äußern, die bereits zu diesem
Zeitpunkt folgende Eigenschaften auf-
weisen muß: eine strukturierte Organisa-
tion (anhand der Erfahrungen, die wir
aus den traditionellen Organisationsfor-
men der Arbeiterbewegung und aus den
verschiedenen und gegenwärtigen Erfah-
rungen der revolutionären Guerilla zie-
hen), strategisch zentralisiert, kommuni-
stisch. im Untergrund und bewaffnet, an-
tiimperialistisch und damit internationa-
listisch (was aber keinerlei Fusion mit
Organisationen bedeutet, die aus anderen
nationalen Realitäten herkommen. denn
das wäre erst in einem sehr hohen und
damit späteren Fjitwicklungsstadium
denkbar), proletarisch durch ihre Zu-
sammensetzung und ihre Klassenstcl-
lung. Sic muß das Politisch mit dem Mi-
litärischen unter einheitlicher Führung
verbinden, was bereits ein Ansatz zur
"kämpfenden Partei" ist. von der Lenin
als Orgarisationsform der Avantgarde
während der Insurrektionspehode sprach:
das politische darf dabei dem militäri-
schen nicht untergeordnet sein, anderer-
seits darf das militärische auch nicht ein-
fach ein 'bewaffneter Arm" des politi-
schen sein, da beim heutigen Stand der
imperialistischen Integration die militäri-
sche Frage vor allem eine politische ist
und die politische Frage sich ohne Ein-
beziehung der militärischen Frage weder
lösen noch stellen läßt. Das Politische
und das Militärische sind untrennbar,
und im modernen proletarischen Befrei-
ungskampf wird die Partei ebenfalls der
zentrale Kern der Roten Armee sein.
Die Mittel dieser Praxis der politischen
Bildung und Vereinheitlichung sind der
politische Kampf innerhalb der revolutio-
nären Bewegung. Bckehrungscifer, die
Ausbildung von Kadern, Massenagitation
und -Propaganda in all ihren Formen und
in allen Bereichen, die wahre Einsätze
des Klassenkampfs bilden(6).
3. Eine militärische Praxis, welche darauf
abziclt. der Organisation die Mittel zur
Durchsetzung ihrer Politik und ihrer wei-
teren politisch-militärischen Entwicklung
in der Guerilla zu geben. Diese Praxis
des bewaffneten Kampfs erfüllt damit
drei Funktionen: ideologisch und poli-
tisch. logistisch organisatorisch. Die Be-
deutung (kr militärischen Aktion in der
derzeitigen Phase ist nicht sofort erheb-
lich und kann keine “strategische" Trag-
weite im politischen und ideologischen
(und natürlich noch weniger im militäri-
schen) Sinne haben; sic nicht auf abstrak-
ten Analysen wie gcopolitischen Überle-
gungen oder anderer völlig abstrakten
Konzeptionen beruhen zu lassen, wie die
"Umstrukturicning-zur-Kriegjvorberei-
tung-zu-bekämpfen". unter denen sich
niemand etwas vorstellen kann. Man
muß entschlossen konkret, direkt leser-
lich sein; ein richtiges politisches Vorge-
hen das keinen Kommentar und Erklä-
rung braucht.
Die Bedeutung dieser Praxis liegt beson-
ders in der Vorbereitung der wirklichen,
offenen Phase bewaffneter Propaganda,
das heißt; indem schon einige Aspekte
aufgezeigt werden, jedoch relativ ver-
streut und gemäß der flexibelsten Aus-
drucksformen.
4. Die Phase der bewaffneten Propa-
ganda
Diese von uns gerade genannte Phase
muß »ich konkrete politische und organi-
satorische Ziele vornehmen, welche
kurzfristig erreichbar sind, da es sich um
eine kurze Periode handelt. Dagegen ist
es schwer, im voraus den zeitlichen
Rahmen der eigentlichen Phase der be-
waffneten Propaganda zu bestimmen, da
ihre Resultate anders als in der ersten
Phase nicht von uns abliängen. Die Etap-
pe der bewaffneten Propaganda muß alle
Aufgaben der vorhergehenden Periode
fortführen, zu denen sich eine Umwand-
lungsaktion der Realität des Landes hin-
zufügt. indem sic als errichtete politische
Kraft cinschreitet. Die Phase der bewaff-
neten Propaganda ist durch folgende
Aspekte gekennzeichnet, die mehr auf
eine Entwicklung als auf eine direkte
Übernahme des Kräfteverhältnisses ab-
zielen:
- Die revolutionären kommunistischen
Ideen müssen, mit den Guerillaaktionen
als Stütze, so breit wie möglich verbreitet
werden; diese Aktionen spielen dabei ei-
ne medienpolilische Rolle: mag für die
Bourgeoisie womöglich das Fernsehen
das schlagkräftigste Mcdicninstrument
sein, nur gut. für uns ist es die bewaff-
nete Aktion, deren Wirksamkeit im übri-
gen durch die Medien des Feindes ver-
stärkt wird. Es geht nicht um Aktionen,
welche von der Mehrheit der Massen be-
geistert aufgegriffen werden, denn wenn
das möglich wäre, dann würde das be-
deuten. daß das Klassenbewußtsein des
Proletariats soweit entwickelt ist. daß die
Revolution bereits seit langem hätte statt-
finden müssen; nein, cs geht einfach
darum, daß die Aktionen richtig sind
(nicht richtig an sich, das will nichts be-
sagen. sondern richtig in Funktion ihrer
politischen Wirksamkeit), wobei die
Ziele so selektiv sein müssen, daß sich
die Mehrheit der Bevölkerung nicht an-
gegriffen fühlen kann. Die bewaffneten
Aktionen müssen in den proletarischen
Schichten Zustimmung finden, bei denen
wir die stärksten revolutionären Poten-
tiale erkannt haben. Das wiederum hängt
mit der unumgänglichen notwendigen
Klassenanalyse zusammen, denn bei je-
der bewaffneten Aktion muß man ebenso
wie bei jeder schriftlichen oder mündli-
chen Äußerung, von der Bombe bis zum
einfachen Flugblatt obligatorisch, sehr
präzise fcsllcgcn, an wen man sich rich-
tet; Aktionen der revolutionären Praxis
brauchen sich nicht darum zu kümmern,
ob sie moralisch an und für sich richtig
sind (und wäre es eine "revolutionäre"
Moral) noch um die großen abstrakten
Analysen, sondern sie müssen völlig be-
stimmt sein durch eine straffe Dialektik,
in der die Klasse oder Klassenschicht
42
oder sogar diese oder jene Gesellschafts-
oder Berufsgruppc oder sozial-kulturelle
Gemeinschaft bestimmt ist, auf die sich
die fragliche Aktion abstützt und an die
sie sich wendet.
Ausschlagebend für die Wahl und das
Niveau der Aktion ist jedoch nicht, ob
sie "den Massen Spaß macht". Die Aktio-
nen müssen nämlich immer oberhalb
dessen angcsicdrlt sein, was von der
Mehrheit voll gebilligt werden könnte,
allerdings ohne politisches Abcnteuer-
tum, also ganz genau an der Grenze, jen-
seits der die Aktion von seiten der Prole-
tarier mißbilligt werden würde
(angesichts der derzeitigen Herrschaft der
Bourgeoisie). Indem sic also ständig
diese Akzeptanzstufc der proletarischen
Mehrheit streifen, führt die Vervielfa-
chung der Aktionen dazu, daß die breiten
Massen sich daran gewöhnen, die be-
waffnete Aktion als eine politisch legiti-
me. normale und natürliche Form des po-
litischen Kampfes anzusehen. Der be-
waffnete Kampf erlangt dadurch die Le-
gitimität und Ernsthaftigkeit, die das po-
litische. ideologische und militärische
Engagement einer wachsenden Zahl von
Proletariern begünstigt. Wenn wir in den
letzten Sätzen jedesmal ausdrücklich von
"Proletariern“ sprechen, dann weil es uns
einzig und allein um das Proletariat geht.
Wir messen dem hysterischen
"Antitenorismus'-Gcschrei. dem Seuf-
zen und Gekreische der Linksradikalcn
und der Demokraten, das heißt all der
verängstigten Kleinbürger, die sich der
Entwicklung des revolutionären bewaff-
neten Kampfs widersetzen, nicht die all-
erklcinstc Bedeutung bei, weil dieser sie
nicht mehr ruhig ihre Existenzängste und
Ihre müßigen Diskussionen genießen
läßt. Der bewaffnete Kampf stört die be-
rufsmäßigen Jammerfritzen, die in einem
abstoßenden Sadomasochismus gegen
die "Repression" gefallen finden ur.d die
furchten, von der gegen den revolutionä-
ren Kampf gerichteten Repression eben-
falls betroffen zu werden, was uns völlig
egal ist. ganz im Gegenteil, wenn sie
durch den Gegsnschlag der legitimen
Repressionsaktionen zum Selbstschutz
der Bourgeoisie gegen die proletarischen
und revolutionären Angriffe zu leiden
haben: eine wahre Erlösung!
Gegen die großen und kleinen Wächter
der bourgeoisen Moral, die jahrhunderte-
lang als Rechtfertigung für Sklaventum,
Massenmord, Repression und Entfrem-
dung schlimmster Art diente, werden wir
die Wahrheit sagen, weil man sagen
muß, wie es ist, um es verändern zu kön-
nen. wir werden es durch unsere Politik,
durch unsere Aktionen sagen: Nein, nicht
alle Menschen and Brüder, Mensch ist
nicht gleich Mensch, ein Toter hat nicht
dasselbe Gewicht wie ein anderer. Es ist
richtig, auf weißen Terror mit rotem Ter-
ror zu antworten. Und wenn das den
Kleinbürgern mißfallt, dann wird es der-
selbe Preis sein, denn wenn dcsc Klasse
behauptet, sich nach moralischen Werten
eines humanistischen, idealistischen und
erstarrten Bewußtseins zu richten, so
kämpfen de Proletarier nicht, um sich
mit einem innewohnenden Bewußtsein
voll zu füllen, sondern für ihr Leben, so-
wohl für ihren Alltag als auch für ihr hi-
storisches Werden, ihr Leben das be-
schlagnahmt, niedergewalzt und entfrem-
det ist. Die philosophische Nuance ist er-
heblich. auf Seiten der Bourgeoisie gibt
cs ein vollendetes, ausgcbildctcs Be-
wußtsein und es geht darum, die objek-
tive Realitit mit den moralischen Weiten
dieses Bewußtseins in Übereinstimmung
zu halten, während es auf Seiten der Pro-
letarier weder eine vollendete Moral
noch ein vollendetes Bewußtsein gibt,
sondern nur ein wesentliches Vorrücken
eines Bewußtseins durch die Umwand-
lung der objektiven Realität, eine Dyna-
mik die das Auftreten von neuen Werten
mit einbe zieht. Auf der einen Seite also
der Anspnich auf eine Immanenz der
Tatsachen und Werte, auf der anderen
Seite, unserer Seite, bewußte Unterwer-
fung an eine Transzendenz, unter ande-
rem die Transzendenz der Geschichte,
die den Gang der Welt durchläuft. Radi-
kaler Unterschied.
Daher braucht die kommunistische Partei
keinerlei Demagogie einzusetzen, man
braucht sich nicht "beliebt” zu machen
und die Frage, ob revolutionäre Aktionen
auf Zustimmung oder Ablehnung stoßen,
stellt sich nur in einer historischen, stra-
tegischen Perspektive und vor allem in
einem Klassensinn, das licißl ausschließ-
lich in Funktion der bestimmten sozialen
Schichten, an denen sich die revolutio-
näre Politik richtet und nicht in Funktion
der "Leute" im allgemeinen (dieser Be-
griff ist bedeutungslos, auEer für die
Subjektivisten. die "Gesellschaft” und
“Staat“ gcgcnüberstellen). Der bewaff-
nete Kampf kämpft gegen das Aufgeben,
die Entmutigung und die Passivität, in-
dem er zeigt, daß es eine wirkliche Op-
positionspolitik, eine Praxis des realen
Bruchs geben kann, daß die Furcht das
Lager wechseln kann, die Straflosigkeit
und Permanenz der Ausbeuter und Un-
terdrücker nichts Endgültiges sind, das
auch für die Unterdrückten Angriff mög-
lich ist. Dabei versucht der bewaffnete
Kampf das mitzutcilcn, was wirklich eine
neue Mentalität sein muß: "Wagt es zu
kämpfen, wagt es zu siegen!", was der
Funktion efer Bewußtseinsbildung des be-
waffneten Kampfs an sich entspricht.
5. Die Frage der Organisation im be-
waffneten Kampf
- Diese Funktion der bewaffneten Propa-
ganda muß zusammen mit den anderen
vielfältigen Formen der politischen Akti-
on (insbesondere Massenarbeit) während
dieser Phase organisatorische Ausdrucks-
formen finden. Es genügt nicht, Aktionen
durchzuführen. auch wenn sie strategisch
miteinander verbunden sind, sondern die-
se müssen unter allen Umständen inner-
halb des Proletariats eine Kontinuität ha-
ben. Zu dieser Hauptbeschäftigung sto-
ßen wir auf die Frage der Sympathisan-
ten, ein sehr verworrener Begriff, der je-
den politischen wie militärischen Oppor-
tunismus erlaubt (wie uns die beklagens-
werte Schwäche und Isolierung gegen-
über der Repression derjenigen zeigt, die
sich nicht scheuen, sich in ihrer bewaff-
neter Praxis auf unpolitische Individuen,
Straftäter, ausgeflippte Kleinbürger und
Anarchisten abzustützen, und sich selber
als "Kommunisten" bezeichnen usw.; es
wäre zum Lachen, wenn die menschli-
chen und ideologischen Schwächen nicht
so schwerwiegend wären).
Wir denken, daß die Abschottung der
Strukturen absolut sein muß, das die Par-
tisane ihre politische Zugehörigkeit völ-
lig geheim hallen müssen und daß die
Organisation völlig hermetisch sein muß.
Was versteht man nun demgegenüber un-
ter Sympathisanten? Wenn wir uns das
Beispiel von bestimmten Gruppen anse-
hen. dann konnte man denken, daß es
"Sympathisanten der Guerilla" gibt.
Leute, die mit Formen des bewaffneten
Kampfs sympathisieren, wozu jede ideo-
logische Welle ausreicht, und die Rolle
der "Militanten" wäre dann, diesen soge-
nannten Sympathisanten die Soße zu lie-
fern. mit der alles umhüllt wird, das heißt
eine ritualisierte, konfuse, mechanisierte
Phraseologie, zusammengesetzt aus idio-
tischen Wortneuschöpfungen (in Frank-
reich geschieht das vor allem, indem man
nach einigen Phrasen von achtundsechzig
greift, die an einem unverständlichen Sa-
lat von italienischen und deutschen Wör-
tern umformiert werden, was einem Den-
ken von verzweifelnder Armseligkeit ei-
nen 'seriösen" Anstrich gibt). Das Resul-
tat ist, daß wir in diesen Gruppen gänz-
lich unpolitische Ausgeflippte, Bullen,
Spitzel, Humanisten, die existentiell auf
Abwege geraten sind, sehen, die an be-
waffneten Aktionen teilnehmcn, bewaff-
nete Raubübcrfällc durchführen, sich um
Logistik kümmern, Verantwortlichkeit
und andere Ungereimtheiten überneh-
men. Wir unsererseits erklären, daß eine
wirklich kommunistische Organisation
keine aktiven Sympathisanten haben
kann, die man als "Sympathisanten des
bewaffneten Kampfes" bezeichnen könn-
te. Der bewaffnete Kampf muß dem
höchsten Niveau des Engagements ent-
sprechen, dieser kann sich nur auf einem
43
hohen Stand des politischen Bewußtseins
abstützen, an ideologischer Festigkeit,
theoretischer Ausbildung und militanter
Erfahrung. Ansonsten laßt der Wunsch
sich als Kämpfer oder aktiver Sympathi-
sant zu engagieren, nur ein militaristi-
sches, abenteuerluftiges, im besten Fall
manipulierbares Individuum erkennen.
Für Militaristen und Abenteurer darf es
aber keinen Platz in einer kommunisti-
schen Organisation geben. Ganz anders
stellt sich die Frage für Personen, die
sich wirklich im Volk eingefügt haben,
die kämpferisch sind, sozial und psycho-
logisch klar sind und die den kämpfen-
den kommunistischen Ideen in der Ganz-
heit ihres politischen Bewußtseins und
nicht nur in Teilaspekten nahestehen. Es
ist besser, sich auf aufrichtige und solide
Kommunisten abzustützen, statt auf
Leute, die den bewaffneten Kampf billi-
gen. ihn unterstützen wollen, aber keine
kommunistischen Militanten sind. Das
muß man begreifen, um die notwendige
Ausbildung politischer Kader, Führer
und vermittelnde Kader der Guerilla und
der Massenbewegung absichem zu kön-
nen. Die Existenz von Masscnkadcm, die
nicht in der Guerilla aufgehen, ist eine
absolute Notwendigkeit in jeder histori-
schen Situation und überall in der Welt.
Sie ist eine unausweichliche Vorausset-
zung nicht nur für die qualitative und
quantitative Entwicklung der revolutio-
nären Kräfte, sondern auch für das einfa-
che Überleben der Guerilla angesichts
der feindlichen Gegenangriffe, indem sic
einen ständigen Wiederaulbau der Struk-
turen ermöglicht, wenn diese während
dem Zusammenstoä Einbußen erleiden.
Der militärische Gcgcnschlag der Bour-
geoisie drängt die ursprünglichen Struk-
turen in eine völlig unproduktive Defen-
sive und verwandelt den revolutionären
Kampf in einen einfachen Kampf zwi-
schen einer Gruppe bewaffneter Rebellen
und dem Staat (eine Lage, die angesichts
des ungleichen Kräfteverhältnisses kaum
länger zugunsten der Guerilla andauem
kann), falls es nicht innerhalb der Volks-
massen Partisanen gibt, die die politi-
schen Fähigkeiten haben, in ihrem Be-
reich die quantitative Entwicklung fort-
zusetzen, ständig die vernichteten
Kampfeinheiten wieder aufzubauen und
mit der Ausarbeitung und dem Funktio-
nieren der politischen Linie weiterzuma-
chen. Die Rolle dieser Massenkader ist
cs. eine politische Massenpraxis zu orga-
nisieren und durchzuführen. die sich in
ihren Entscheidungen und Ausrichtungen
an der strategischen Linie der kämpfen-
den kommunistischen Organisation ori-
entiert. Dies innerhalb der bereits existie-
renden Massenorganisationen, die not-
wendig sind, um die Kämpfe für die un-
mittelbaren Bedürfnisse des Proletariats
führen zu können, unabhängig von den
Organisationen der Klassen/.usammenar-
beit. Durch diesen Prozeß erfolgt das
qualitative und quantitative Anwachsen
der Guerilla, weil nur aus dieser politi-
schen Massenpraxis die proletarische
Avantgarde hervorgehen kann, aus der
die organisierten kommunistischen
Kämpfer hervorgehen sollen. Das bedeu-
tet, daß die Organisation keine Mühen
scheuen darf, die erforderlichen politi-
schen und strukturellen Mittel anzuregen,
um im Volk die bcwußlscinscrwcckcndc
Aktion des revolutionären bewaffneten
Kampfs zu verstärken, da das Klassen-
bewußtsein sich in dem Maß entwickelt,
wie das Proletariat sich politisch organi-
siert. allein die Tatsache, daß bewaffnete
Aktionen durchgcfuhrt werden, genügt
natürlich nicht, um die Organisation ent-
stehen zu lassen. Folglich sind Instru-
mente für eine nichtbcwaffnctc politische
Aktion notwendig. Mittel für die Agita-
tion, Für die Propaganda, der Popularisie-
rung der Kampfaktion der Massenorgani-
sation in bestimmten Teilbereichen, der
theoretischen und politischen Ausbildung
der Unlcrgrundpartisancn als auch der
politischen Massenkader. /
6. Der Aufbau der Organisation kann
nicht mit einer Frompolitik identisch sein
- Diese politische Aktion der Organisati-
on und der Ausbildung der in vorderster
Linie stehenden Elemente der Volksmas-
sen beinhaltet ein weiteres strategisches
Ziel, das zur Phase der bewaffneten Pro-
paganda gehört. Die kämpfende Organi-
sation darf nicht ein: Koordinierung von
Fronten sein, sondern sie muß homogen,
monolithisch, genau strukturiert und in
ihrer Führung zentralisiert sein. Dann
setzt die Phase der bewaffneten Propa-
ganda diesen Prozeß der Strukturierung
und Vcreinhcitlichung/Zentralisierung
fort, aber sic muß ebenfalls dieses Ziel
ausweiten. Die bewaffnete Propaganda
ist die erste Form des konkreten Auftre-
tens der Politik des bewaffneten Kampfs
für die kommunistiiche Revolution, sic
ist die erste.öffentlichc Äußerung der po-
litischen Linie der kämpfenden kommu-
nistischen Organisation. Dieser Prozeß
muß die Richtigkeit der befolgten Linie
zeigen, indem sic pclitischc und militäri-
sche Erfolge davonträgt, indem sic sich
sichtbar entwickelt und von den Schlä-
gen der feindlichen Abwehr weniger be-
troffen wird als andere. Diese Phase muß
also eine anti-sektiererische Politik der
politischen Öffnung, des Dialogs, der po-
litischen und militärischen Konfrontation
umfassen, welche den Prozeß der Eini-
gung unter de Revolutionären fördern
muß. Wir gehen allerdings nicht von dem
illusionären Grundsatz einer
"natürlichen“ Einheit aus. von einer Ein-
stellung "wir sind all? Brüder trotz unse-
rer Unterschiede im Detail“, was sponta-
ne Annäherungen unj Anläufe zum ein-
trächtigen Miteinander legitimieren
würde, nein, und cs sind sicherlich nicht
die Formen des Kampfes, die ein Krite-
rium für politische Nähe bilden können.
Nochmals, wir sind gegen Frontpolitik,
wenn es um strategische Fragen geht, wie
sie vom revolutionären bewaffneten
Kampf gestellt werden, wir sind gegen
die Tatsache, sich mit politischen
"Umfeldern" zu identifizieren. Die Eini-
gungsprozessc zwischen Organisationen,
Strömungen und Gruppen sind nur mit
einer sehr schrittweisen, politisch sehr
vorsichtigen Annäherung denkbar, in de-
ren Verlauf die betroffenen Gruppen sieb
objektiv wandeln. Das. was vereinigen
kann, ist auf keinen Fall ein Zusammen-
schluß und auch nicht Bündnisse, son-
dern der politische Kampf, die Konfron-
tation, der Kampf zwischen zwei Linien,
das heißt der Ablauf des Klassenkampfs
innerhalb der revolutionären Bewegung
selbst. Das umfaßt eine intensive politi-
sche und theoretische offene Praxis: The-
sen, Analysen, Orientierungen (natürlich
nicht die taktischen) müssen weitgehend
bekannt, und von den Revolutionären
kritisch diskutiert werden.
Mit der politischen und ideologischen
Aktion des bewaffneten Kampfs an sich
und der vielfältigen politischen Aktion
der kommunistischen Organisation in-
nerhalb der proletarischen Massen ist
diese Praxis des offenen politischen
Kampfs innerhalb der revolutionären
Bewegung (und in der politischen Szene
im Allgemeinen) die dritte politische
Funktion, über die die kommunistische
Organisation verfügt, um sich qualitativ
und quantitativ fort/.ucntwickcln.
VII. Hin zum revolutionären Bürger -
krieg
I. Wahrend der Phase der bewaffneten
Propaganda entstehen die Voraussetzun-
gen für den revolutionären Bürgerkrieg
- Die Phase der bewaffneten Propaganda
bereitet somit auf allen Ebenen die dar-
auffolgende Phase vor. doch der augen-
fälligste Vorgriff ist zweifellos die objek-
tive Funktion des bewaffneten Kampfs
(wenn auch beschränkt auf ihr propagan-
distisches Stadium), auf die Vorausset-
zungen des Kräfteverhältnisses. Obwohl
es sich noch nicht um eine Praxis han-
delt. welche das Kräfteverhältnis direkt
verändert, sprechen wir von den Voraus-
setzungen dafür. Diese Funktion ist evi-
dent. allein die Tatsache, daß sich ein be-
waffnetes Dissidententum (7) äußert, be-
günstigt den Prozeß der Militarisierung
der kapitalistischen Führung, die Zuspit-
44
zung der Widersprüche der bourgeoisen
Demokratie, die Militarisierung der Poli-
tik. Während dieser Phase versucht die
Guerilla natürlich nicht, militärisch zu
siegen, doch ihre Störtäligkeit und die
Vervielfachung der Aktionen drängen
den bourgeoisen Staat in die Defensive,
was ja gerade angestrebt wird (es muß
soweit kommen, daß Sandsäcke vor jeder
Bank gestapelt sind; jeder Bau der Ar-
bcitgcbcrschaft, der Polizei, der Armee,
der Justiz, der Politiker muß von Sta-
cheldraht umgeben sein). Die Dialektik
des revolutionären Prozesses führt genau
durch diese Reaktion. Denn derzeit er-
streckt sich die bourgeoisen Diktatur ge-
nau über den gesamten sozialen Bereich
bis in die Köpfe hinein, wenn sie aber
gezwungen ist, sich defensiv neu zu for-
mieren. indem sie sich stärker militari-
siert. dann läßt sie eine neue subjektive
Distanz zwischen den Volksmassen und
sich in Erscheinung treten. Das Gefühl
der Legitimität der imperialistischen Dik-
tatur gerät ins Wanken, sobald sich die
Herrschaftsfunktionen konzentrieren und
also solche in Erscheinung treten statt
im sozialen Kontext aufgelöst zu sein.
Das was übrigen» Marx sagte: ' Der revo-
lutionäre Fortschritt erfolgt durch die
Schaffung einer mächtigen und verein-
heitlichten Konterrevolution, durch die
Schaffung eines Feindes, der die Partei
des Aufstands dazu führen wird, durch
den Kampf die Reife zu erlangen, die aus
ihr die echte revolutionäre Partei macht".
Die Militarisierung des Klassenkampfs,
begünstigt durch die Guerilla, Führt zu ei-
ner Verengung der Abstülzbasis des im-
perialistischen Staates und damit zu einer
fortschreitenden institutionellen Destabi-
lisierung, bis dem Kapitalismus ab ein-
ziger Garant nur noch die bewaffnete
Macht bleibt. Dieser Prozeß ist ideolo-
gisch und politisch zu verstehen, insofern
der revolutionäre bewaffnete Angriff die
Zuspitzung bertimmter Widersprüche
bewirkt: dort, wo sich die Beziehungen
zwischen der bourgeoisen Macht und den
Proletariern befinden.
Die soziale Übereinstimmung beruht auf
dem Funktionieren der bourgeoisen De-
mokratie. mit allen formellen Ausdrucks-
freiheiten. der Vereinigung usw... die das
ebenso benötigt, Freiheiten, welche die
Bourgeoisie absolut einschränken oder
abschaffen muß, wenn sich eine bewaff-
nete Politik entwickelt. Falls das bour-
geoise System jedoch die demokratischen
Grundlagen verliert, aufgrund denen es
funktioniert, so wohnt man einer Ein-
schränkung. Schwächung und Zerbrech-
lichkeit der bourgeoisen Macht auf den
politischen, ideologischen und sogar
psychologischen Ebenen bei. Und auch
das entspricht somit dieser Funktion des
bewaffneten Kampfs, nämlich eine tief-
greifende Trcnnungslinie zwischen dem
Feind und uns zu ziehen. Diese Trcn-
nungslinic unversöhnlich zu ziehen heißt,
jedem nur noch eine einzige unumgüng
liehe Alternative zu lassen : Revolution
oder Konterrevolution. Und cs wird ein
erheblicher politischer und ideologischer
Fortschritt sein, die umgehende Begriffs-
verwirrung zu bezeichnen, de Überein-
stimmung Über den Haufen zu werfen,
indem jede einzelne politische Kraft ge
zwungen wird, ihr Lager zu wählen.
Manche (Ultralinke, verschiedene Links-
radikalc. Anhänger von Bewegungen al-
ler Art und alle die, die aufgrund ihres
sozialen Siatus etwas zu verlieren haben,
in der Art dieser berühmten ‘Freiheiten”,
aus denen sie die einzigen sind, die ir-
gendein Nutzen daraus ziehen) werden
uns kritisieren, indem sie sagen, daß
diese Strategie die traditionellen politi-
schen Kräfte nur enger um den Staat
scharen wird. Das ist richtig und auch gar
nicht negativ, sondern genau das, was
wir anslreben. Die Frage stellt sich, ob
wir die Revolution wollen, oder ob wir
dafür sind, daß der bourgeoise Staat von
weiter "links" stehenden Kräften verwal-
tet wird. Wenn wir die Revolution wol-
len, dann müssen die revolutionären
Kräfte als einzige echte Opposition, als
einzige wirkliche unterschiedliche Alter-
native erscheinen. Und darum ist cs eine
ausgezeichnete Sache, wenn die konter-
revolutionären Kräfte aller Tendenzen,
die das institutioneile Spiel in Gang hal-
ten, indem sic sich als oppositionell aus-
geben, ihr wahres Gesicht zeigen und
sich noch enger um die imparialistische
Oligarchie gruppieren, was das politische
Feld für das Eindringen einer echten Op-
position um den revolutionären Kampf
herum, öffnet.
2. Die Endphase des revolutionären
Krieges für die Übernahme der Staats-
macht
Durch die damit verbunden: objektive
Radikalisierung bereitet die Phase der be-
waffneten Propaganda die folgende
Phase vor, indem sich zunächst das Feld
für eine politisch-militärische Auseinan-
dersetzung ergibt, das sich dann in Form
eines revolutionären Bürgerkrieges aus-
drückt. dessen militärische Form die
Guerilla sein wird, die das gesamte in
Betracht gezogene Gebiet und den ge-
samten sozialen Kontext erfaßt. Es han-
delt sich um einen Guerillakrieg, bis auf
die Endpluse. in der sich bereits in wei-
ten Gebieten die proletarische Macht
konstituiert (an erster Stelle dort, wo der
revolutionäre Kampf mit einem nation-
alen Befreiungskampf des Volkes zu-
sammenflisßt, in "Frankreich“: zunächst
einmal Euskadi. Bretagne. Korsika...)
und das in einem komplizieren Kontext
des langandauemden Prozesses mit viel-
fältigen internationalen militärischen und
diplomatischen Verwicklungen, wie sic
zum politisch-militäritchcn Kräftever-
hältnis gehören, und was diese befreiten
Gebiete lebensfähig macht, das heißt die
weitere Vernichtung von Zonen weißer
Macht durch Offensiven des konventio-
nellen Kriegs (klassisch und modern).
Die Phase der ausgedehnten Guerilla
zielt anders als die der bewaffneten Pro
paganda auf politisch-militärische Siege
ab. welche das Kräfteverhältnis tatsäch-
lich verändern. Und zwar durch Störak-
tionen. Vernichtung feindlicher Mittel,
welche den Feind binden, ihn zwingen,
sich von den Bevölkerungen zu isolieren,
sich auf bestimmte Orte zu konzentrieren
oder seine Kräfte zu verteilen und da-
durch verwundbar zu werden. Bezweckt
wird damit, daß der Feind sich in diesem
Prozeß der Militarisierung und des
Selbstschutzes immer tiefer verstrickt,
daß er zu einem wachsenden Sicherheits-
aufwand genötigt wird, der normaler-
weise nicht nur auf seinen eigenen Kräf-
ten beruht, sondern auf dem gesamten
sozialen Funktionieren und seiner vielfäl-
tigen institutionellen Metze (daher die
"Sicherheitsdoktrin", die in Westeuropa
und früher in Lateinamerika auf Anstoß
von Nordamerika übernommen wurde
und in der äußere militärische Sicherheit,
innere militärische Sicherheit, wirtschaft-
liche Sicherheit, politische und zivile Si-
cherheit im "sozialen Frieden" miteinan-
der verbunden werden) Der imperialisti-
sche Staat beginnt dann zu zerfallen, um
seinen zentralen Kern politisch-militäri-
scher Macht erhalten zu können, was
seinerseits der revolutionären Bewegung
zugute kommt, da der Prozeß der institu-
tionellen Auflösung und des Unfähig-
werdens der Mechanismen der bourgeoi-
sen demokratischen politischen Macht
zur Entwicklung von direkter Machtent-
faltung des Proletariats über punktuelle
oder ständige Massenorganisationen, re-
volutionäre Betriebsausschüsse, Stadt-
viertclräte usw... und Masscnkampfstruk-
turen beiträgt, die schon in der Phase der
bewaffneten Propaganda in unterschied-
lichen Formen entstehen müssen und
sich mit der orientierenden Leitlinie. Or-
gane der direkten Macht der Volksmas-
sen zu sein, befestigen müssen.
Politisch-militärisch gesehen zielt die
Phase der Ausweitung der Guerilla dar-
auf ab, schrittweise eine Ausgewogenheit
der Kräfteverhältnisse zu erreichen. Die
Entwicklung der OffensivPähigkeiten der
kommunistischen Kräfte sowie ihre dial-
ektische Begleiterscheinung durch den
Zerfall der Institutionen der bourgeoisen
Macht werden schrittweise diesen
Gleichstand der Kräfte erreichen und sie
dann in einer Endphasc umkehren in der
45
das Proletariat sich aufmacht, den bour-
geoisen Staatsapparat völlig zu zerstören,
die Macht der Proletarier allgemein ein-
zuführen und zu stabilisieren, die bereits
wahrend des revolutionären Klassen-
kriegs in Erscheinung getreten ist. Die
Endphasc, in der das Klasscnvcrhältnis
zu unseren Gunsten umgekehrt wird,
wobei cs zweifellos zu einer größeren
Vielfalt strategischer Offensiven, der
Fortsetzung/Entwicklung der Guerilla zu
Formen des konventionellen Kriegs zwi-
schen unterschiedlichen Machtbereichen
kommt, lokal oder regional durch insur-
rcktioncllc Machtübernahmen.
3. Zusammenfassend ist die bewaffnete
revolutionäre Strategie, die moderne Me-
thode, die notwendig ist für die kommun-
istische Revolution im heutigen imperia-
listischen Westen
Wir möchten in diesen Zeilen besonders
zu verstehen geben, daß es Zeit ist, daß
der bewaffnete Kampf nicht länger als
eine Art technisches Spielzeug, als vom
Himmel gefallene Erfindung, als eine
neue etwas verzweifelte Form des
Kampf« erscheinen soll, er uns weiter als
irgendwelchen romantischen Purismus
entsprechen würde. Es handelt sich we-
der um eine Neuigkeit, die völlig abge-
trennt von der Geschichte auftaucht,
noch um die Wiederholung vergangener
und damit überholter historischer For-
men. sondern cs handelt sich um die mo-
derne Form eines Kampfes, der fest in
der Kontinuität der Geschichtsbewegung
verankert ist. Ausschließlich in diesem
Rahmen muß man nicht nur die Notwen-
digkeit des bewaffneten Kampfs begrei-
fen, sondern ihn auch organisieren und
strategisch meistern als das. was am En-
de des 20. Jahrhunderts im Herzen der
herrschenden Metropolen eines imperia-
listischen Systems, dessen kapitalistische
Produktionsweise sieh seinem Ende nä-
hert. die historische Kontinuität zum
Ausdruck bringt, die über die Kommune
von 1871 und dx Oktoberevolution
führt.
Selbstverständlich erheben diese Teilen
keinen Anspruch auf Vollständigkeit, es
handelt sich nur um ein sehr allgemeines
Schema, um strategische Orientierungen,
jeder Punkt muß gründlich untersucht,
ergänzt werden und jeweils auf die allge-
meine Strategie zurückgcführt werden.
Das ist die Aufgabe, die sich aus einer
Notwendigkeit ergibt, die der revolutio-
nären Theorie. Es geht übrigens nicht
darum, Uber rein taktische Fragen öffent-
lich zu diskutieren, das würde nur zur In-
formation des Feindes dienen und nicht
den Revolutionären, welche dem doppel-
ten Grundsatz größerer strategischer
Strenge und größerer taktischer Flexibili-
tät verpflichtet sind (wobei jeder seinen
Phantasien freien Lauf lassen muß). Eine
revolutionäre Theorie, in der wir mit
großen Schritten in allen Bereichen vor-
anschreiten müssen (politisch und militä-
risch. aber auch sozial, wirtschaftlich,
philosophisch, kulturell usw.), weil man
sich ganz absolut, unnachgiebig und
wiederholt klarmachen muß. das heute
wie vor sechzig Jahren und wie es auch
weiter der Fall sein wird: "Ohne revolu-
tionäre Theorie keine revolutionäre Be-
wegung". Die unerläßliche Aufgabe der
dynamischen und permanenten Ausarbei-
tung der kommunistischen revolutionären
Strategie nicht anzunehmen, würde be-
deuten. daß man damit einverstanden ist.
sich im Kreis zu drehen, daß man die
Verzweiflung, die Mittelmäßigkeit leich-
ter Ersatzlösungen mit guten Gewissen in
den kleinen Widerständen, die zu nichts
führen, akzeptiert. Den Staat, den Fa-
schismus. den Rassismus, die verschie-
denen Symptome des Imperialismus, die
Repression, eine Menge Dinge zu
"bekämpfen", immer "gegen" kann punk-
tuell nützlich «ein. ist aber nur ein Zei-
chen von existentiellen Milftantismus.
während wir den Mul haben müssen zu-
zugeben, daß das nur Luft ist. etwas was
zu nichts führt. Das soll einmal ganz klar
und brutal gesagt sein, statt in der Ohn-
macht kleiner Formierungen mit gutem
(und wenn auch bewaffneten!) Bewußt-
sein abzudanken. sollte sich dann schon
besser jeder auf seine Insel zurückzichcn.
den Stränden des Pazifiks oder Möhren
in der Pampa anpflattzcn. Oder etwas wa-
gen, wagen zu triumphieren, wagen die
Geschichte am Rockzipfel zu fassen, sie
zu unserer zu machen, indem wir sie mit
unserem Willen nach Freiheit zurecht-
schmicden. Wir können Erbauer und Er-
oberer sein, wenn wir uns bewußt ma-
chen. daß eine neue Welt in unserer
Reichweite liegt, wenn wir nur die Hand
danach ausstrcckcn.
Die Entwicklung der Zivilisation ist an
einem entscheidenden Punkt angelangt,
von wo sie aus der Urgeschichte heraus-
treten kann und das heute Mögliche hat
die gleichen Dimensionen, wie die Ent-
fremdung. die Unterdrückung, das
Übermaß an Entmenschlichung einer in
voller Fäulnis begriffenen Gesellschaft.
Unsere Generation hat somit erstmals seit
Jahrtausenden die Möglichkeit, zum
Kommunismus zu gelangen, die Türen
zur Befreiung des Individuums und zur
Befreiung aller menschlichen Bedürf-
nisse weit aufzustoßen, und das zu unse-
ren Lebzeiten. Unsere Generation ist die.
welche die ersten Schritte der Mensch-
heit in das Zeitalter des Kommunismus
macht.
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Schwarzer Faden
Nr.49 (2/94). 72 S.. enthält u.v.a.:
Schwerpunkt Mexiko: Interviews mit Co-
mandanta Ramona.Com. Ana Maria und
Com. Marcos; Medien: Radio Patapoc
(BILWET); Rassismus: Die Vertreibung
der Kaukasicrlnncn aus Moskau (Markus
Matyhl), 205 Jahre Kolonialismus in
Australien (Karl Rössel). Rechte: Euro-
paposilionen der Rechten. Neuwerk rech-
ter Publizistik (Dieter Schmidt); 7.-DM
Noam Chomsky
Clintons Vision
Analyse derzeitiger US-Polilik. Mythos
und Absichten Bill Clintons; Juli ‘94. 100$,
14.- DM
Trotzdem * Vertag
PF! 159, 71117 Grafenau
Fax:07033-45264
46
Für den Kommunismus!
wir sind uns bewußt, daß dieses papier
nur der anfang unserer diskussion ist; ei-
ner diskussion, die noch weitgehend auf
(allerdings notwendige) kritik beschränkt
ist. da diese kritik aber vom willen zur
Veränderung diktiert ist. wird sic nicht
auf daucr auf blcCc kritik beschränkt
bleiben.
"DER REVOLUTIONÄRE KRIEG IST
EIN POLITISCHER KRIEG"
(Tupamaros)
wir wollen mit diesem papier hier, mit
unseren Überlegungen und argumenten in
die auseinandersetzung eingreifen, die
sich zwar an dem letzten angriff der RAF
entwickelt hat, die aber nicht nur darauf
(auf diesen angriff) zu reduzieren ist.
die sich in dem angriff auf die Air Base
und den gefreiten pimcntal materialisie-
rende politik und praxis ist nicht das er-
gebnis eines fchlcrs, sondern sic ist der
(vorläufige?) Höhepunkt einer langen
cntwlcklung, an der die gesamte antiim-
perialistische bewegung und nicht nur
die RAF anteil hat(te).
die versimplifizicning von komplexen,
vielschichtigen und komplizierten Zu-
sammenhängen (z.b. "gesamtsystem"),
d.h. die vcrflachung der politischen ana-
lyse. gar keine oder mangelhafte ausein-
andersetzung mit marxistischen grundla-
gen, außer acht lassen des historischen
Prozesses, aus dem die aktuellen angrif-
fc. kämpfe und projekte auch heraus
entwickelt werden (was zu briJehen in
der kontinuität der kämpfe führt). Subjek-
tivismus und Wunschdenken wirken
schon seit langem in unserer politischen
arbeit. unserem denken und fühlen, unse-
rem politischen kämpf, insofern ist es nur
eine logische cntwickung. daß sich diese
fehler heute auch in der politik der gue-
rilla fortsetzen, das zu erkennen und zu
beseitigen, muß eine der konsequenten
unserer auseinandersetzung sein - da sich
ansonsten die fehler der Vergangenheit in
fataler weise wcitcrpotcnziercn und die
ganze revolutionäre kraft, die im kampf
der gucrilla und der Organisierung der an-
tiimperialistischen front steckt, sich nicht
entfalten kann. Iclztcndlich sogar die
praxis kontraproduktiv zu den prokla-
mierten zielen werden kann,
eine Voraussetzung für die jetzt anste-
henden und auch schon laufenden aus-
cinandcrsctzungcn (die für die fortent-
wicklung der antiimperialistischen
front/für die gesamte revolutionäre ent-
wicklung in der BRD existentiell sein
wird) ist ein befreites und besitzloses
Verhältnis zu kritik und Selbstkritik, ein
Verhältnis, das wir gegenwärtig weder in
den diskussionen unter uns (d.h. inner-
halb der antiimperialistischen bewegung)
noch in den erklämngen der RAF der
letzten zeit finden können,
in diesem papier wollen wir unsere wich-
tigsten Widersprüche zu zentralen politi-
schen thesen/aussagen, die gegenwärtig
die diskussion und politische praxis der
‘front’ bestimmen, rausarbeiten und sic
zur diskussion stellen.
"... die imperialistischen Staaten können
aus ihrer substantiellen Instabilität und
dem fortschreitenden vertust ihrer legi-
timität nur noch ihre potenz zu herrschen
demonstrieren, sic sind heule mit der
latsache konfrontiert, daß sie für keine
einzige ihrer maßnahmen einen passi-
ven ko ns e ns haben, politische agonie -
das ist die andere Seite ihrer macht...“
(gemeinsame erklärung von AD und
RAF, hervorhebungen von den Verfas-
sern des papiers)
"....weil die militärstrategie zum angel-
punkt geworden ist, ist auch die politik
gestorben - bzw. darin kommt sie auf ih-
ren 'reinen begriff...“ (crklärung der ge-
fangenen aus der RAF zu 77)
"... ihre macht ist militärstrategie, auf
Standsbekämpfung, maschine - aber
hohl, nur gewalt, sonst nichts, es ist ihre
reaktion auf die sich vereinheitlichende
kraft der internationalen kämpfe für be-
freiung, auch in Westeuropa...“
(hnngerstreikerklärung. dezember 1984)
trotz fortschreitenden Verlustes seiner le-
gitimation ist cs offensichtlich, daß der
kapitalismus in den mctropolen noch
über einen "konsens" in der bevölkerung
verfügt, dieser konsens ist zwar äußert
labil und wird immer öfter durch kurzfri-
stige und begrenzte rcvoltcn unterbro-
chen, aber er ist deanoch vorhanden, er
wird auch weiterhin bestehen bleiben,
wenn wir. die antagonistische linke, die
komplexität der metropolenwirklichkeit
und die des revolutionären kampfcs ne-
gieren.
wenn man die imperialistische macht nur
noch in der militärstrategie zu erkennen
glaubt und den revolutionären kampf auf
"Strategie gegen ihre Strategie" reduziert,
ist eine militaristische politik/praxis die
zwangsläufige folge und damit auch die
politische und militärische niederlage der
kommunisten.
“...der begriff der veränderten bedingung
ist: die ausbildung des gesamtsystems
mit seinem kern ... der NATO ... das heißt
gesamtsystem. das unter der unaufheb-
baren hegemonie des US-kapitals die
konkurrierenden Interessen von teilfrak-
tionen des ganzen, ob national oder öko-
nomisch als teilfrakiion definiert, in der
umfassenden krise der kapitalverwertung
reguliert und gegen ilen weltweiten revo-
lutionären prozeß zur aggression, d.h.
zum versuch der Sicherung der herr-
schuft auf neuer stufe zusammenfaßt..."
(gefangener aus der RAF am 10.4. zu den
aktionen 1981).
der begriff des gesamtsystems, wie er
hier gebraucht wird, negiert völlig die
auch heute bestehenden innerimpcriali-
stischen Widersprüche, natürlich hat der
begriff seine bcrechiigung, aber in einer
definition, die von der hier gebrauchten
grundsätzlich abwcicht. lenin hat in sei-
ner schrift "der Imperialismus als höch-
stes Stadium des kapitalismus" die ten-
denz zur monopolisiening als grundsätz-
liche eigenschafl des Imperialismus ana-
lysiert. er betonte dabei allerdings, daß
gerade durch die monopolisicrung die
konkurrenz auf höherer (Welthandels-)
ebene fortgesetzt wird, da dadurch auch
die nationalen interessen. eben durch die
monopolisicrung, mi; mehr macht, besser
durchgesetzt werden können, das hat zur
folge, daß sich weltweit die bedingungen
der einzelnen länder noch schärfer aus-
einander entwickeln, denn wie könnte die
Verschärfung der ausbeutung (also das
ärmer machen des einen teils durch den
anderen) eine anglcichung der bedingun-
gen zur folge haben? "das finanzkapital
und die trusts schwächen die unterschie-
de im tempo des Wachstums der ver-
schiedenen teile der Weltwirtschaft nicht
ab. sondern verstärken sie....“ (lenin.
s.o.). das gilt auch heute noch. z.b. auch
für die EG-staaten. die BRD ist die wirt-
schaftlich stärkste macht, frankreich hat
den wirtschaftlichen anschluss an die
BRD nicht geschafft, england ist noch
schwächer.
dazu kommt, daß de? unterschied zu den
stärksten Wirtschaftsmächten (BRD.
frankreich, england) einerseits und den
schwachen peripherie-staaten (irland,
belgien, portugal, Spanien, gricchcnland)
andererseits, immer weiter aufreißt, die
schwächeren driften unter dem mörderi-
schen konkurrenzdruck immer weiter ab.
trotz ähnlicher maßnahmen gegen die
ausgebeuteten, die sich u.a. in der zuneh-
menden monopolisiening und der gleich-
zeitig dazu verlaufenden Vernichtung
ganzer industriezweige ausdrückt und
wodurch in der tat eine teilweise
“angleichung der bedingungen für das
europäische Proletariat”
(Zusammenschlußerklärung von AD und
RAF) geschaffen wird, wirkt sich auch
die reaktionäre krisenlüsungsslralcgic
aufgrund der unterschiedlichen aus-
gangsbedingungen im konkreten endef-
fckt nochmal extrem unterschiedlich aus.
kürzungen im sozialen bereich oder
lohnverluste bedeuten hier in der BRD
nochmal was ganz anderes als z.b. in
Spanien oder belgien deshalb ist es auch
unzulässig oder oberflächlich von einer
"anglcichung der bedingungen für das
europäische proletariit" zu reden, die ge-
samten materiellen lebensbedingungen
47
(die ja wohl als wichtiges moment in ei-
ner revolutionären entwicklung aner-
kannt sind und bleiben) z.b. der engli-
schen arbcitcrklassc waren denjenigen
der deutschen arbeiterklasse in den 60-
ziger Jahren weitaus angeglichener als
sie es heute sind.
die cigcndynamik des kapiialismus. der
permanente druck von konkurrenz und
effektivität. erzeugt außerdem entschei-
dende cntwicklungcn quasi 'aus sich
selbst heraus' (automation, masscncntlas-
sungen, neue technologien, umstruktie-
rungen etc.), die sie für alle wirtschaft-
lich miteinander in beziehung stehenden
länder ebenfalls unausweichlich machen,
das führt jedoch auch gleichzeitig immer
wieder zu neuen und sich z.t. vertiefen
den widersprächen innerhalb des
’gesamtsystems'. es ist für uns. die re-
volutionäre linke, unbedingt notwendig,
diese widersprüchliche eigendynamik des
kapitalistischen Systems und seiner orga-
nisationsformen und Strategien zu begrei-
fen. weil auch darin immer wieder an-
satzpunktc und möglichkeiten liegen, die
wir in unserer praxis zu beachten habc-
n/dic wir u.U. für uns nutzen können,
das schematische erklärungsmuster der
planmäßigen Schaffung einer "zwei-drit-
tel-gesellschaft" oder des "europaweiten
angriffs auf das Proletariat“ vermittelt
nur die eine hälfte der Wahrheit, so hat
z.b. die ausgrenzung und massenhafte
Verarmung eines drittels der metropolen-
gesellschaft zur folge, daß diese men-
sehen auch nicht oder nur wenig konsu-
mieren können, ergo der europäische
markt wiederum, noch enger und die ab-
satzprobleme der kapitalisten noch grö-
ßer werden, wo sollen sic ihren scheiß
dann noch loswerden? vielleicht nähern
wir uns mal dem gedanken, daß eine sol-
che entwicklung selbst unter kapitalisti-
schen ausbeutungs-gesichtspunkten von
einem gewissen Zeitpunkt an kontrapro-
duktiv wird und so auch wieder andere
Verhältnisse eintreten werden oder zu-
mindest versuche dazu,
worauf wir hinauswollen: daß wir, der
revolutionäre widerstand, endlich kapie-
ren müssen, daß die herrschenden nicht
so einfach nur vom planquadrat ihrer
chcfctagcn aus Strategien und projekte
entwerfen können und sie dann auch
punkt für punkt durchsetzen können (was
schnell die horrorvisionen von
"cntschcidungsschlacht". "climinicrung
des antagonismus", "weltfaschismus"
usw. hervorbringt), sondern, daß in der
Wirklichkeit des kapiialismus und dessen
kriscnlösungsstratcgien immer wieder
neue Widersprüche aufreißen, die die im-
perialistischen projekte behindern, in
Frage stellen, verändern,
die unglcichzcitigkcit der kapitalistischen
entwicklung und die unterschiedlich star-
ke auswirkung der krise in den verschie-
denen europäischen Staaten können z.b.
auch zur unterschiedlichen entwicklung
oder besser: zu noch unterschiedlicheren
entwicklungcn von klassenkampfen und
tendenzen zur revolutionären Umwälzung
führen, die Situation in Spanien ist z.b.
heute sehen extrem verschieden zu der in
anderen europäischen ländern, die kon-
frontation am weitesten zugespitzt...
diese realeäten müssen wir zur kenntnis
nehmen, wenn wir wirklichkeitsnahe und
realistische politische Strategien für unse-
ren kampf hier in der BRD entwickeln
wollen.
der schematische begriff von
■gesamtsystem" und "anglcichung der
Bedingungen" erschlägt alle diese not
wendigen differenzieningen und verstellt
den weg für genauere analysen. gleich-
zeitig entstehen daraus abstrakte und
schematische Vorstellungen von revolu-
tionärer praxis in der mctropolc. wonach
die entwicklung der kämpfe, die entwick-
lung von klassenbewußtsein im jeweili-
gen land weder als ausgangspunkt noch
als ziel für die konkrete revolutionäre
praxis begriffen werden, was dann nur
noch zählt ist ein genauso schematischer
und undifferenzierter bezug auf
"frontabschnitt” im internationalen klas-
senkrieg. unklar bleibt, wie wir in der
BRD, als teil des “frontabschnitts We-
steuropa”, überhaupt auf diese weise zu
einer politisch-militärischen kraft werden
können, die in der läge ist, tatsächlich
mal nc rolle im internationalen kräftever-
hältnis einzunehmen, mehrmals aufgefal-
Icn ist uns darüber hinaus, daß in vielen
papieren, egal ob sie aus dem widerstand,
von der RAF oder gefangenen aus der
RAF stammen, beispicle für die entwick-
lung des Gesamtsystems angeführt wer-
den. die lediglich die ebene der reprcs-
sion betreffen. z.b. m ..jeit sich gegen die
offensiven der guerilla hier 77 und in ita-
lien 78, dann 80 gegen die volkskämpfe
in der lUrkei das US-interesse und der
Imperialismus als gesamtsystem aufge-
richtet haue...’' (gefangene aus der RAF
am 10.4. zu den aktionen 1981). wir wis-
sen aber, daß es keine entwicklung aus
den letzten jahren oder jahrzehnten ist.
daß das kapital gegen einen gemeinsa-
men feind gemeinsam vorgeht, schon
1871, während des deutsch-französi-
schen krieg, wurde die pariser commune
gemeinsam vom deutschen und französi-
schen Staat zerschlagen, danach bildetet
sich die sog. "heilige allianz" gegen den
internationalen Sozialismus, wenn wir
daran erinnern (es ließen sich unendlich
viele weitere beispiele anführen), negie-
ren wir dabei nicht die ständig zuneh-
mende Zusammenarbeit der imperialisti-
schen Staaten bei der bekämpfung revolu-
tionärer Organisationen, kein revolutionär
ist rächt mit der tatsache konfrontiert,
daß die konterrevolutionäre Zusammen-
arbeit gerade auch in Westeuropa heute
schon auf allen ebenen 1 ge.se tzgebung,
justiz. Propaganda urd natürlich erst
recht in der exekutive) ein sehr hohes ni-
vcaus erreicht hat und ßaß die NATO da-
bei eine wichtige rolle cinnimmt. aber
auch diesen prozeß muß man differen-
zierter untersuchen: nach jahrzehnten der
relativen ruhe entwickelte sich seit dem
ende der 60er jahrc in vielen westeuro-
päischen ländern erneut der politisch-mi-
litärische kampf für den kommunismus.
aus dieser revolutionären entwicklung
ergab sich für alle westeuropäischen Staa-
ten nach kurzer zeit die notwendigkeit
einer möglichst weitgehend koordinierten
Zusammenarbeit, da zwischen den west-
europäischen Staaten bei der gemeinsa-
men bekämpfung der westeuropäischen
guerilla eine weitgehende interesseni-
dentität vorherrscht, blieben und bleiben
die real existierenden innerkapitalisti-
schcn widcrsprüche in dieser frage rela-
tiv unbedeutend - relativ! denn selbst im
gemeinsamen kampf gegen revolutionäre
Organisationen und bewegungen und
Staaten sind die imperialistischen Staaten
nicht ein widerspruchsfreier und per se
interessengleicher block,
intcressengegensätze treten bei ihnen -
wie schon gesagt - zwar nur im geringen
maße bei der bekämpfung der westeuro-
päischen guerilla auf, werden aber von
der einschätzung und bekämpfung revo-
lutionärer organisatio-
nen/bewegungen/staaten ökonomische
und politische intcressen tangiert, ma-
chen sich oft "risse” innerhalb des impe-
rialistischen lagers bemerkbar: risse, die
nicht nur verbaler und propagandistischer
art sind, sondern die sich oft auch sehr
materiell auf die Verhaltensweisen ein-
zelner staaten/rcgicrungcn auswirken,
beispiel dafür ist der konflikt um die
frage der offenen militärischen interven-
tion der USA in Nicaragua innerhalb der
NATO, aber auch die letzten monate ha-
ben das mehrmals deutlich gemacht
(achillc lauro/italicn, ausweisung von
Palästinensern aus griechcnland, lybien).
selbst die aktuellen milliardengeschäftc
zwischen unternehmen aus der BRD und
der Sowjetunion (es geht dabei um 15
milliardcn DM) wirken sich mit Sicher-
heit auf die haltung der BRD-rcgicning
aus, die cskalition gegen lybien mitzutra-
gen oder nicht.
warum das alles negieren? zumal die
konsequenz aus der existenz der inner-
imperialistischen widerspreche für revo-
lutionäre in der BRD und WE heute nicht
heißen kann, unsere praxis auf das auf-
spüren und ausnutzten dieser Widersprü-
che auszurichten, ohne abstrichc an ihrer
revolutionären politik und praxis zu ma-
chcn, nutzte die RAF in der mitte der
70er jahrc die damals auch unter den ka-
pitalistischen regierungen Westeuropas
bestellenden widctsprüchc gegen die
Vorherrschaft der BRD in WE in der eu-
ropäischen kampagne gegen die
"germanisicrung curopas" aus und behin-
derte damit die pläne des BRD-imperia-
lismus erheblich, heute gibt cs wei-
lerc/andere innerimperialistische Wider-
sprüche. morgen entwickeln sich neue
sie negieren nutzt den imperialistcn,
schadet den revolutionären!
wir denken, daß das "gesamtsystem" und
die "gleichzeitig der antiimperialistischen
kämpfe" innerhalb der 'front' gleicherma-
ßen oberflächlich 'analysiert' werden,
vorab: die Wirkung der gleichzeitig der
antiimperialistischen kämpfe ist ein be-
ständiger bestandteil aller antikapiialisti-
schen und antiimperialistischen kämpfe,
sie ist keine entwicklung der letzten
jahrc. sic ist ein immanenter bcstandlcil
aller kämpfe gegen die bourgeoisie. so
wurde der nazif«schismu« z.b. durch die
gleichzeitigkeit der kämpfe der albani-
schen und jugoslawischen partisanen, der
französischen und niederländischen, des
norwegischen und polnischen Wider-
stands, des kampfcs der sowjetischen
Partisanen und der roten armee
und.. ..und.... zerschlagen, weitere bei-
spiclc lassen sich in der revolutionären
geschichte viele finden, allerdings sehen
diese beispiele anders aus als die von den
genossen aus der RAF beschriebenen:
"...ihr Zusammenschluß zum homogenen
konterrevolutionären block, den sie
brauchen, um die militärische offensive
politisch durchzuhalten, ist aber weder
ganz vollzogen noch ist er abgesichert,
gleichzeitig ist es so, daß die revolutio-
nären kämpfe, so unterschiedlich die be-
dingungen und verschieden weit sie ent-
wickelt sind, in ihrer Wirkung schon zu-
sammen in diese offensive eingreifen und
ihren konkreten zielen zuvorkommen,
die New Jersey, die im libanon mit den
schwersten bon.bardierungen seit dem
vietnamkrieg doch noch einen amerika-
nischen sieg erzwingen sollte - hinterher
hat ein pentagor.-beamter gesagt, daß es
dort jetzt aussehe n müßte wie auf dem
mond - haben sie dafür aus El Salvador
abgezogen, wo sie kurz vorher hinverlegt
worden war, um die Zivilbevölkerung zu-
sammenzuschießen und so die gucrilla zu
isolieren..." (erklärung der gefangenen
aus der RAF zu 77) .
behauptet wird in dieser erklärung also
folgendes: wenn die cskalation 1982 im
libanon (die auch die Verlegung der New
Jersey von El Salvador hin zum libanon
'notwendig' gemacht haben soll) nicht
aufgetreten wäre, dann hätten die USA
damals in El Salvador direkt und unmit-
telbar militärisch interveniert ("...um die
Zivilbevölkerung zusammcnzuschie-
ßen...") diese bchauptung ist nicht nur
durch nichts belegt, sondern im gegen-
tcil: alle tauschen sprechen eindeutig da-
gegen, diese bchauptung negiert völlig
die damalige (die beschießung des liba-
non durch die new jersey fand 1982 statt)
und auch roch gegenwärtige US-stratcgic
gegen El Salvador, Nicaragua und dem
gesamten mittclamerikanischen raum, die
USA gründen die contra-banden und trv
dcsschwadrone. sie bilden und rüsten sie
aus. sie rüsten und bilden die reaktionä-
ren armeen mittelamerikas aus, darunter
auch die El Salvadors. sic intervenieren
in den krieg gegen das cl salvadoriani-
schc volk darüber, daß sie mittels militär-
bernter diesen krieg bestimmen und lei-
ten, aber sie vermieden und vermeiden
bislang (was nicht für alle Zeiten bedeu-
tet. d.h. aufgrund bestimmter cntwick-
lungen sich unter umständen auch relativ
schnell ändern kann) die eigene offene
militärische intervention - was eine sol-
che wie oben beschriebene beschießung
durch die New Jersey bedeutet hätte, eine
offene und direkte militärische interven-
tion versuchen die USA u.a. auch wegen
der existenz der innerimpcrialistischen
Widersprüche (selbs* von der gefahr eines
auscinanderbrechens der NATO wird in
diesem Zusammenhang gercifct!) zu ver-
hindern, vor allem aber wegen der un-
überschaubaren eskalation des revolutio-
nären widrrstands im gesamten iatein-
und mittelamerikanischen koriinent.
die revolutionären kämpfe in verschiede-
nen ländern der erde wirken also sehr
wohl zusammen, aber nicht in der wie
oben (zitat) versimpiifizierten art und
weise, eine intervention in E! Salvador /
in mittclancrika wurde bislang durch die
oben genannten faktoren verhindert; fak-
toren, die für den libanon in der art nicht
existent waren und sind und in denen die
kämpfe im libanon nur eine sehr unter-
geordnete rolle spielen konnten, mit Si-
cherheit bestand während der gesamten
phase (19S2) für den US-impcrialismus
das problcm nicht in einem zu schwa-
chen Militärpotential, wie die angebliche
Verlegung der New Jersey glauben ma-
chen soll, wir sind der ansicht, daß die
politische Situation in mittelamerika und
dem nahen osten, hier auch nochmal spe-
ziell libanon, in keinster weise zu ver-
gleichen ist. in mittelamerika ist die revo-
lutionäre entwicklung so weit vorange-
schritten, daß eine US-intervention in El
Salvador sich zumindest zu einem
"steppenbrand" in der gesamten rcgion
ausdehnen kann, im Nahen Osten ist die
revolution sehr viel schwächer entwik-
kelt. wenn man fcststelll, daß die revolu-
tionären kämpfe in ihrer Wirkung zu-
sammenkemmen und mechanisch daraus
folgen, daß eine militärische Intervention
im libanon eine (gleichzeitige) in El Sal-
vador unmöglich macht leugnet man im
gntndc diese unterschiede,
wir fragen uns daher, wie weit die bc-
hauptung fundien ist, daß die revolutio-
nären kämpfe... ihren konkreten zielen
zuvorkommen? gerade im libanon, kann
davon ja wohl keine rede sein, sicher, das
langfristige ziel, die befriedung und
gleichzeitige bchcrrschung, ist nicht voll
erreicht, was aber erreicht ist. ist die
weitgehende Zerschlagung von Struktu-
ren, die von palästinensischen revolutio-
nären und ihren Organisationen Uber
jahrc hinweg aufgebaul wurden (bekaa-
ebene z.b.). in diesem Zusammenhang
sehen wir auch den abzug der multina-
tionalen 'friedenstruppe', sie mußten fest-
stellen, daß ihre direkte militärische prü-
senz alle im libanon vorhandenen kräfte
einte (natürlich oft nur auf druck der je-
weiligen basis). diese einheit und die
stärke der kämpfe, die aus ihr heraus
möglich wurden, hat schließlich zum ab-
zug der truppen geführt, ein erfolg des li-
banesischen und palästinensischen Vol-
kes, der keinesfalls in frage gestellt wer-
den kann, nach dem abzug der truppen ist
aber durch den Imperialismus eine Situa-
tion im libanon geschaffen worden, in
der die revolutionären kräfte in ausein-
andersetzung mit islamischen fundamen-
talsten. christlichen faschistcn ctc... ab-
sorbiert werden, vom \ölligen scheitern
und einer vollständigen nicdcrlagc der
Imperialisten im libanon kann also kei-
nesfalls gesprochen werden,
wir fragen daher die genossen aus der
RAF und den teilen des Widerstands (die
die hier hinterfragten und kritisierten
'analvsen' in vielfältiger art aufgegriffen
haben), was wollt ihr mit diesen offen-
sichtlich falschen behauptungen belegen?
wir sehen uns zu dieser frage gezwungen,
weil das offensichtlich falsche an teilen
(wichtigen teilen) der ’analyscn' für uns
nicht mehr erklärbar ist und wir uns da-
durch des cindrucks nicht mehr erwehren
können, daß diese art der ’analysen' in er-
ster linic dazu dienen soll, eine militari-
stische politik mit dem anschcin der 1c-
gitimation/der notwcnüigkcit zu verse-
hen. dadurch, daß
- daß militärische potential des Imperia-
lismus im Zusammenhang mit dem
"Zusammenwirken der kämpfe" hcruntcr-
gespiclt wird.
- das "Zusammenwirken der kämpfe" auf
die militärische ebene reduziert wird
(TWA z.b.)
- insgesamt eine ganz neue entwick-
lungsphase der internationalen kämpfe
und ihres Zusammenwirkens behauptet
wird (die als folgccrschcinung die krite-
rien für counter und revolutionäre aktion
auf den köpf stellen sollen - siche eins
der vorbereitungspapiere zum kongreß.
49
in dem bezug auf die anschlüge der Fa-
schisten auf US-soldaten genommen
wird.
- die gesamte reerganisation des kapitali-
stischen Systems / des Imperialismus als
eine entwicklung dargestellt wird, die al-
leine der militärischen lösung unterge-
ordnet sei (’entscheidungsschhcht*.
"kricgsökonomic").
- die politische ebene der imperialisti-
schen Strategien und seine integrations-
fähigkeit (zumindest in den mctropolcn)
völlig negiert und sogar abgestrilten wird
(siehe erklärung zu77),
- die totalität des "gesamtsystem" wie-
derum weit Überhöht und die innerimpc-
rialistischcn wiifcrsprüche als irrelevant
oder als nicht vorhanden dargcstcllt wer-
den,
dadruch wird zwingend der eindruck er-
weckt, daß es möglich ist, den imperiali-
stischen krieg/das gesamte imperialisti-
sche System ausschließlich auf 'seiner'
ebene, nämlich der militärischen, zu be-
kämpfen und schließlich zu beseitigen,
eine illusion, die verheerende folgen ha-
ben muß.
"...die härte, mit der die impericlisten
jetzt auf allen ebenen und an allen fron-
ten krieg führen, liegt in ihrem ziel: sie
begreifen ihn als entscheidungsschiacht,
weil sie nach dem einbruch in Vietnam
die Sicherung ihrer macht nur noch in
der vollständigen eliminierung des an-
tagonismus für möglich hallen...“
(gefangene aus der RAF zu 77),
auch diese aussagc kann ja nur bedeuten,
wenn die Schweine jetzt den antagonis-
mus ausrotten wollen, wir jetzt gefordert
sind: entweder oder....
wie man zu einer solchen einschätzung
kommen kann, bleibt uns ein rätsel, wis-
sen wir doch spätestens seit Karl Marx,
daß cs zum wesen des kapitalismus ge-
hört, seinen antagonismus selbst zu pro-
duzieren, denn zur ausbeutung gehört
auch der, der ausgebeutet wird und aus
dieser ausbeutungssiluation heraus
immer wieder den widerstand dagegen
organisiert/entvickelt,.. so ist cs also
eine in sich widersprüchliche aussage.
daß der imperiaiismus seinen antagonis-
mus ausrotten könne, was ja damit ge-
meint sein muß; denn daß er es will, aber
nicht kann, ist ebenso alt wie in diesem
Zusammenhang bedeutungslos, uns darf
es also nicht «hnim gehen, irgendeine
’entscheidungsschlacht" zu gewinnen,
sondern die revolution im eigenen land
(als teil des weltrevolutionären Prozes-
ses) voranzutrcit>cn. dabei ist die frage,
ob 'nationale re/olutionen möglich sind
oder nicht' für uns überhaupt keine frage,
diese frage ist für kommunisten in jeder
hinsicht bedeutungslos! entscheidend ist
nämlich, daß wir nur aus der revolutio-
nienmg unserer realität und gegenwart,
d.h. aus unseren nationalen bedingungen
und kämpfen zu einer kraft werden kön-
nen. die national und international eine
revolutionäre rolle einzunehmen in der
läge ist.
wir halten daher die frage nach der mög-
lichkeit einer 'nationalen revolution' für
ablenkcnd und irreführend und möchten
vorschlagen, daß die hier versammelten
genossen, eine diskussion (hier und zu
hause) darüber einleiten, ob wir uns zu-
künftig nicht das debattieren von und
orientieren an belanglosen fragen grund-
sätzlich ersparen sollten, leider haben wir
die arbeitspapiere zum kongress erst vor
wenigen tagen erhalten, daher konnten
wir uns mit diesen papieren noch nicht in
der notwendigen ausführlichen art und
weise auseinanderset/en. das gleiche
Problem hatten wir im gründe mit der ge-
samten kongrcssvorbercitung. die kurz-
fristigkeit, die nicht geführten diskussio-
nen in größeren Zusammenhängen - das
alles erschwerte eine konstruktive (mit-
Jarbeit an dieser phasc zum aufbau der
antiimperialistischen front, wir stellen
uns den kampf um die "einheit” und um’s
" Zusammenkommen" grundsätzlich an-
ders vor und erwarten (von tins und an-
deren), daß daraus für die zukunft in je-
der hinsicht konsequenzen gezogen wer-
den. wir werden uns jetzt darauf be-
schränken müssen, uns mit d:n wichtig-
sten punkten der (uns vorliegenden) ar-
beitspapiere auseinanderzuseizen - und
zwar mit den punkten, über die wir in
den arbeitsgruppen diskutieren wollen.
ZUSAMMENWIRKEN DER KÄMPFE
WELTWEIT
daß revolutionäre kämpfe/entwicklungen
weltweit die kräftc des imperiaiismus
zersplittert könnten und so auch seiner
fühigkeit zur militärischen interventi-
on/cskalation grenzen gesetzt werden, ist
ne grundsätzlich richtige - aber auch
nicht neue - tatsachc. allerdings hat die-
ses "Zusammenwirken" bestimmte krite-
rien, die erfüllt sein müssen, sonst ist
weder objektiv noch subjektiv ein Zu-
sammenwirken vorhanden, nicht die tat-
sachc. daß kämpfe in verschiedenen re-
gionen zum gleichen Zeitpunkt laufen,
macht bereits ihr Zusammenwirken aus,
sondern de frage nach der politischen
Identität Ut dafür bestimmend, also, ge-
gen wen sich die kämpfe richten und für
was gekämpft wird, um welche klassen-
position, welche gesellschaftlichen ziele,
gegen welchen feind und für welche ei-
genen Vorstellungen - das ist nicht von-
einander zu trennen und macht die politi-
sche identität des kampfes aus. dann erst
ist die "objektiv antiimperialistische Wir-
kung” gegeben (damit beziehen wir uns
z.b. auf die auscinandersctzung um die
TWA-entfühmng - wem nützt sic?) nach
diesem kritcrium kann man auch nicht
einfach kämpfe von ganz unterschiedli-
cher politischer identitär zusnmmenwer-
fen und behaupten, sie würden sich auf-
einander beziehen, das brauchen wir
doch nur mal an uns selbst zu überlegen
(diskussion 1982 um die anschlägc der
faschistcn gegen US-soldaten). das
"Zusammenwirken“ ist darüber hinaus
auch ne frage, wie weit der revolutionäre
prozeß in den jeweiligen regionen tat-
sächlich entwickelt und verankert ist. al-
so. wie gefährlich der jeweilige prozeß in
seiner aktuellen entwicklung und per-
spektivischen cxplosionskraft für den Im-
perialismus ist.
und genau bei dieser frage sind wir mit
uns selbst konfrontiert, wenn wir von
dem, was richtig ist am
"Zusammenwirken der kämpfe" ausge-
hen. müssen wir uns selbstkritisch fra-
gen. wie wir hier in der mctropolc BRD
überhaupt so stark werden können, daß
wir unseren (richtigen) internationalisti-
schen anspruch erfüllen können und uns
stattdessen nicht in wurschvorstcllungcn
ergehen, nur wenn wir uns diese frage
politisch beantworten, werden wir in der
läge sein, sic auch praktisch zu beantwor-
ten. d.h. auch: irgendwann ein relevanter
faktor (auch) im internationalen krüftc-
verhidtnis sein, und an dieser stelle
kommen wir nicht an der frage vorbei, ob
die aktion im august (pimcntal und air
base) neue bestimmung und neuer weg
für den revolutionären prozeß hier sein
kann - oder ob sie nicht vielmehr diesem
prozeß schadet, wir meinen, letzteres,
der bezug auf die internationale entwick-
lung der kämpfe bringt uns nicht weiter,
wenn wir es nicht schaffen, in der Strate-
gie der antiimperialistischen front die na-
tionalen und die internationalen bedin-
gungen miteinander zu verbinden, genau
das war die bestimmung der politik der
RAF von anfang an. sie ist immer noch
richtig!
wir können nicht verstehen, daß in papie-
ren zum kongress seitenlange analysen
über die internationale Situation, über das
gesamtsystem und die entwicklung des
Widerstands hier bis zum sommer 85
entwickelt werden - und an der entschei-
denden frage, die für uns / für die ganze
weitere entwicklung hier existentiell ist
(eben weil die gesamte antiimperialisti-
sche front/jede revolutionäre politik und
praxis davon berührt ist), nach nen hal-
ben jahr dazu nur kommt: "...womit wir
Schwierigkeiten haben, ist die genaue be-
stimmung für den prozeß hier, wohin die
eskalation und polarisierung in die tiefe
der Gesellschaft genau laufen soll..." und
gleichzeitig kritik an den aktionen sich
reduziert auf das vermittlungsproblem
und das Verhältnis der gucrilla zum wi-
50
dcrstand, was sich darin ausdrückt, es ist
einfach ein absoluter Widerspruch zwi-
schen dem Verhältnis, mit dem die genos-
sen sich mit der internationalen Situation
und den Strategien der herrschenden aus-
cinandersetzen und dem Verhältnis, mit
dem die politischen auswirkungen der
neuen bestimmung / des neuen weges auf
die Situation hier in der metropole BRD
diskutiert werden, darüber wollen wir
auch auf dem arbeitskreis sprechen,
wie in verschiedenen papieren zum kon-
gress formuliert wurde, geht cs nicht um
die bornierte Vorstellung von "nationaler
revolution". das verfälscht das eigentli-
che problem. weil ganz unabhängig von
der relevanz der frage, ob eine "nationale
revolution" in der metropole (oder auch
in der sog. 3. weit) roch möglich ist oder
nicht, cs eine unumstößliche tatsachc ist,
daß wir die krüfte für nc revolutionäre
cntwicklung hier aus der Situation und
den bedingungen der brd entwickeln
müssen.
auch da wo wir uns mit dem imperialisti-
schen gesamtsystem auseinandersetzen,
kommen wir zu den gleichen fragen,
wenn wir konsequent an den ergebnissen
der analysen wcitcrübcrlcgen.
in erklärungen und texten von gefange-
nen. von der guerilla und dem widerstand
und in den ersten kongresspapieren
wurde das "imperialistische gesamtsy-
stem" als eine art monolithischer block
beschrieben, die tatsache. daß das kapita-
listische System aus seiner cigcndynamik
zahlreiche Widersprüche gesetzmäßig
und ständig neu hervorbringt, die sich
auf alle anderen ebenen auswirken, daß
es nationale, historische usw. Widersprü-
che innerhalb der imperialistischen
mächte gibt, wurde libeiwicgcnd negiert,
übersehen oder für nicht relevant gehal-
ten bzw. einfach die Unterordnung dieser
widcrsprüchc unter die gcaamtimpcriali-
stischen intcressen behauptet, der Impe-
rialismus wurde darauf reduziert, daß
seine Strategie nur roch auf militärische
lösungen abzicle. daß er nicht mehr in
der läge sei. für die durchsetzung seiner
interessen auch politische mechanismen
anzuwenden, die konsequente folge einer
solchen schematischen (und falschen)
analyse besteht in der Vorstellung, daß
nun die zeit gekommen sei, für die revo-
lutionäre in den metropolen, nur noch auf
militärischer ebene (Strategie gegen ihre
Strategie) gegen des US-imperialismus zu
kämpfen, ergo: airbasc und pimcntal. ein
solches weltbild/eine solche ‘analyse’ bil-
det den politischen hinlcrgrund für das
abgleiten der revolutionäre in militaristi-
sche Strategien.
in den neusten papieren zum kongress ist
eine an vielen stellen differenzierte aus-
einanderset/ung mit dem
'imperialistischen gesamtsystem. dessen
macht nur noch militärstrategie ist’ wic-
deigegebcn. angefangen bei der erkennt-
nis. daß "die großer. Sprüche der Impe-
rialisten und das, was sie in bestimmten
Situationen tatsächlich verwirklichen
können, zwei verschiedene dinge sind...'
(was uns sicher auch von der erdrücken-
den welle von schulz- und weinberger-zi-
taten befreien wird) bis dazu. daß "das
kräfteverhältnis immer in konkreten
kämpfen entschieden wird, und so auch
die harte haltung nichts endgültiges
ist..." oder daß “ die Imperialisten einfach
an jeder einzelnen stelle neu kalkulieren
müssen, ob der politische schaden, die
kurz- und längerfristigen folgen einer mi-
litärischen vergeltungsaktion. einer in-
lervenlion oder die durch - bzw. nicht-
durchsetzung eines projekts in den Zen-
tren größer sind als der nutzen...,"
diese cinschätzungen kommen der Wirk-
lichkeit schon um einiges näher, vor al-
lem ist daran wichtig für uns. daß die Wi-
dersprüche innerhalb des Imperialismus
oder auch die politischen, ökonomischen
grenzen, an die er stößt, oder die grat-
wandcning zwischen militäri-
schen/repressiven Strategien einerseits
und politischen auswirkungen anderer-
seits... daß das alles bereiche sind, in de-
nen sich für uns, für die revolutionären
kräfte. immer wieder raum eröffnet, wo
wir auch Wirkung erzielen kön-
nen/müssen. damit meinen wir nicht ne
Politik, die sich nur an den Widersprü-
chen der Imperialisten orientiert, aber
wenn wir an den einzelnen Widersprü-
chen weiter überlcgcn.nchmen wir als
beispiel das problem der politischen
grenzen, an die der Imperialismus stößt,
dann wird daran deutlich, daß für die re-
volutionären kräfte genau auch dieses
terrain wichtig ist. wo wir ebenfalls siege
erringen können durch die politische
Wirkung unseres handelns, der aktion,
der mobilisicrung, der täglichen kleinar-
beit und so verstehen wir den satz der tu-
pamaros: "DER REVOLUTIONÄRE
KRIEG IST EIN POLITISCHER
KRIEG." das ist die •schärfe' des krieges
in den metropolen, wie wir sie begreifen,
was jedoch in den papieren zum kongress
auffällt, daß auch beim bereich
"gesamtsystem” die Schlußfolgerung aus
den inzwischen differenzierteren ein-
schätzungen nicht gezogen werden oder
nicht als kritcricn für die ausemanderset-
zung mit den aktionen im august mit ein-
bezogen werden, würden sie das. wäre
auch an dieser stelle der Widerspruch zu
dieser neuen bestimmung eine zwangs-
läufige folge, gerade da brechen die Über-
legungen jedoch ab.
öMTte
WELT
u n c:>
«-VI5-*
Itll-Ill/ ihn! IVl'lll-llU.II
Im V\ »ihm h.HI mul ri.i«i>
Die Dritte Welt und Wir
Beiträge von fünfzig
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Nord-Süd-Konflikts.
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Für den Buchhandel: Prolil. Gießen
51
III. Der gesellschaftliche Antagonismus zwischen Weißen
und People ofColor:
Antirassismus ist mehr als Antifaschismus und traditio-
neller Antiimperialismus!
die tatsaehc, daß die Warengesellschaft in ihrer heutigen fundamentalistischen ausprügung (...) zu einer unauf-
haltsamen Verwahrlosung der gesellschaft (...) führt (... ist) akut bedrohlich vor allem in den erfolgen ncofaschisli-
schcr rattcnftlngcr (...). urd wenn heule eine rc-faschisicrung läuft, dann breiter sic sich aus in jenem politisch-kultu-
rellen vakuum. das diese linke in ihrem rUckzug aus einer (...) ncuseizung von werten (...) hintcrlasscn hat".
Lutz Täufer, Ghetto oder Gesellschaft
"(...) rechte jugendgangs (... sind eine) revolte aas dem gefühl der eigenen entwertung im kapitalismus. gegen lüge
urd das tägliche abtöten von lebenslust (...) die christlich-abendländische ‘kulturelle Icistung' der trennung von kör-
per und geist (die Spaltung in der person) (... gibt) die unbegriffene - scharfe glasschcrbc ab(...). die den weissen
HERRENmenschenwahn immer wieder hochbringt, es ist die scherbc. die den hcrrcnmcnschcn abhält, sich auf den
gnind der eigenen seole niederzulassen (...). die gespenster irren seitdem durch die weit, crlöumg sich wünschend
und erhoffend bei der suche nach der ursprünglichen einheit. (...).“
Christian Klar, Brief von Jan. 1993
"Ursache allen Übels soll das rationale (...) Denken sein und die Bevorzugung falscher Werte (...). Die materiel-
len Verhältnisse werden als Folge diesen falschen Denkens begriffen. (...) Eine Botschaft, die auf guten Boden
Fällt, der vorbereitet ist durch eine Weltuntergangsstimmung, in der Menschen als Klasscn-Rassen-Geschlechts-
losc Gattung begriffen werden, so als sei die in der kollektiven Untcrgangsphantasic ersehnte Gleichheit vor dem
jüngsten Gericht gesellschaftliche Realität. (...). Die oppositionellen Strömungen und Kämpfe sollen dementspre-
chend nicht als Widerstand begriffen werden, sondern als Ausdruck des Wertewandels, als Beweis für den begin-
nenden Umbruch. (...). Als Verhaltensempfehlung an die auf diese Art entpolitisierten Widerständigen gilt das
Motto 'Kooperation statt Konfrontation'. (...). Männer wollen/sollen ganz werden. Sic wollen geheilt werden von
der Last der Männlichkeit, insbesondere der Verantwortung für ihre 'männlichen' Taten, und sie wollen der Ab-
hängigkeit von den Frauen entkommen. (...). Ganzhcitlichkcit, das ist die Ganzheitlichkeit des weißen Mannes.
(...). Ein Wertsystem hat noch nie eine Frau geschlagen, vergewaltigt, ausgebeutet. Es mag die Verhältnisse ge-
rechtfertigt haben und tut cs immer noch, aber ist nicht die Gewalt, die Ausbeutung, die Unterdrückung. Wir soll-
ten uns das Wissen darum, daß männlichem Verhalten ein Interesse und nicht einfach nur ein falsches Wertsy-
stem zugrundeliegt, nicht abkaufen lassen (...). Wir sollten uns nicht eir.lassen auf den erneuten Versuch, uns in
eine männlich definierte Ganzheit einbinden zu lassen. Und das alles noah versetzt mit der Aufforderung zu Ge-
duld tind Kooperation: Die Geduld der Frauen ist die Macht der Männer! "
Claudia Neidig / Beate Selders, in: Frauen & Ökologie, Köln, 1987, 75 - 86 (76, 77, 84)
''(...) warum suchen sich die Subjekte, die - beispielsweise in Griechenland - nicht weniger die 'Wertform des
Indviduums’ sind, soviel seltener in genannter Weise 'zu heilen’? Das sind Fragen, die den Schluß nahclcgcn, daß
Rassismus (...) sich nicht umstandslos auf die Warenform als sozialer Kernstruktur in kapitalistischen Gesell-
schaften reduzieren läßt."
autonome lupus-Gruppe, in: konkret extra, Nr. 1/1992, 5
"Die klassische Arbeiterbewegung war auf die Produktion zentriert und hatte als historische Voraussetzung und
immer weniger effektiven Horizont den Internationalismus. Eine künftige anti-kapitalistische Massenbewegung" -
die aber eben nicht mehr nur eine anti-kapitalistische sein darf, sondern gleichermaßen eine antirassistischc und
antipatriarchale sein muß! - "hat gewiss als Voraussetzung einen effektiven Anti-Rassismus, was viel mehr ist als
Internationalismus."
Etienne Balibar, in: Widerspruch (Zürich), Vol. 21, Juni 1991, 11 - 19 (18)
1. Christian Klar. Brief vom Jan. 1992
2. Heidi Schulz, Auszug aus einem Brief vom Jan. 1993
3. RAF, Auszug aus der Wciterstadt-Erklärung (April 1993)
4. Lutz Täufer. Auszug aus dem Text "Ghetto oder Gesellschaft " (Jan. 1993)
5. einige Frauen aus der radikal . Gegen das organisierte Deutschtum ! (Herbst 1992)
6. Frauen aus verschiedenen politischen Bereichen, Zur Politik der Frauen aus dem antirassistischen Zentrum und grundsätzliche
Überlegungen zur antirassistischen Politik (Man. 1992)
52
Christian Klar
Brief vom Januar 1992
... ich möchte jctti zumindest mal soweit
kommen, dir auftuschreiben. wie ich seit
ner weile versuche, mich in dieser rassi-
stischen crweckungssiluation zu orientie-
ren.
das erste muss sein, finde ich, genau hin-
zuschauen, wie rassismus bei den ver-
schiedenen klassen sich subjektiv aus-
drtlckt: bei den in die deklassierung rut-
schenden. bei den rechten jugendgangs
(die gcspaltenheit in revolte aus dem ge-
fühl der eigenen entwertung im kipita-
lismus, gegen lüge und das tägliche abtö-
ten von lebenslust / andererseits die reak-
tionären, ganz konformen träume, auch
Sadismus), bei den 'ordentlichen bürgern'
(gefangen in zwangsstmktur von Ord-
nung. Sauberkeit, funktionieren und lust-
feindlichkeit), bei den ideologischen und
organisierten neonazis. bei den politi-
schen und wirtschaftlichen eliten.
um jetzt nur mal das letzte genauer zu
machen, weil das dann in den weiteren
Zusammenhang (Ulm: flir einen primiti-
ven rassismus sind sie ja subjektiv meist
zu aufgeklärt, im rahmen des geldsy-
stems und seiner transnationalcn Verwer-
tungsbewegung ist ihnen durchaus jede
hautfarbe 'gleich, bei ihnen ist cs also
viel eher ein taktisches Verhältnis, iadem
sic mit rassistischer (nationalistischer)
Verhetzung im volk manövrieren, den
hahn auf- und zu drehen, stichvortc.
auch z.b. falsche Statistiken ausgeben
oder zurücknehmen, aber eben im Zu-
sammenhang der eliten kommt sofort die
gcschichtc mit rein: auschwitz und die
Schöpfung der atomaren waffe. die ma-
ximale abstrahiimng vom konkreten
menschen als demoralisierende Vorberei-
tung und dann die technik des Völker-
mords. auschwitz muss dabei verstanden
werden als modell imperialistischer mo-
dcmisicrung. soweit ist die antifaschisti-
sche aufklärung seit dem zweiten Welt-
krieg kaum vorgedrungen (die beschwö-
rung des unmittelbaren menschlichen
graucns ist, in der gesellschaftlichen brei-
te. immer der Schwerpunkt geblieben),
aber wir wissen, cs ist teil unserer cigc
nen Politisierung, in der imperialistischen
bourgeoisie hat es seitdem in hinsicht auf
dieses modcmisierungsnvMlell keinen
bruch gegeben, in der bestimmung der
atomaren waffe (und anderer herr-
schaftsprojektionen) setzt sich folgerich-
tig das wesentliche davon fort, und damit
steht die weit verästelte gestalt vom heu-
tigen rassismus auch in einem völlig er-
weiterten (schlacht)-feld: das heute von
unserer seitc her mit der internationalisti-
schen kampagne zu '500 jahrc Unter-
drückung und widerstand' betreten wird,
die '500 jahrc' sind meines Wissens in der
metropolitanen linken, mal bis zu den
frühen jahren dieses jahrhunderts zu-
rückgeblättert. jetzt zum ersten mal solch
ein bewußter bezugsrahmen geworden,
aber tatsächlich spielt in die aktuelle Si-
tuation auch eine subjektive sachc aus
viel älteren schichten mit rein, ohne die
rassismus meiner einsicht nach nur wenig
verstanden werden kann: die christlich-
abendländische 'kulturelle leistung' der
trennung von kürper und geist (die Spal-
tung in der person), die. sagen welche,
die das genauer erforscht haben, auf das-
selbe halbe jahrtausend zurück reicht, die
deformieningen bedeutet und alle mögli-
chen erscheinungen von entfremdung
und gleichzeitig die - unbegriffene -
scharfe glasscherbe abgibt, die den weis-
sen IIERRENmcnschcnwahn immer
wieder hochbringt. es ist die schcrbc, die
den herrennenschcn abhält, sich auf den
grund der eigenen seele niederzulassen
und von da aus zu leben, freie bczichun-
gen zu anderen mcnschen/völkem einzu-
gehen. ihn vielmehr immer neu zwang-
haft zur leistung gespenstischer selbst-
konstitution treibt (populär: die zu ir-
gendwas hochgestylten), und weil diese
Scheibe nicht einmal entdeckt ist. wird
die Ursache des Schmerzes projiziert auf
die ’sündenböcke', hassend am meisten
die. die mehr frciscin und lebendigkeit
ausstrahlen und ursprüngliche menschli-
che bedürfnissc 'anmelden', die gespen-
stcr irren seitdem durch die weit, crlö-
sung sich wünschend und erhoffend bei
der suche nach der ursprünglichen ein-
heit, vergeblich aber ohne den bruch mit
der herrenttruktur. und so können sie
sich die cioheit doch immer weiter nur
vorstellen... im Vollzug von ausgrenzung
der 'fremden', der unordentlichen frauen,
der nicht funktionierenden (in dcut-
schland werden 10 prozent derkinder mit
pillcn vollgestopft in die schule ge-
schickt), der krüppcl. der für den markt
überflüssigen...
wir sind also angekommen nicht bei den
rechtsextremisten, sondern bei der metro-
politanen gesellschaftlichen mitte und
dem System, und das heute mit diesem
ungeheuren wissenschaftlichen, logisti-
schen und militärischen zerstörungspo-
tential zur hand. das sich die imperialisti-
schen eliten angehäuft und für sich mo-
nopolisiert haben.
soweit also mal angerissen die gedanken-
linicn. entlang denen ich den Zugang zur
Situation suche.
vielleicht wird aus dem ausgebreiteten
auch etwas deutlich, dass der intematio-
nalismus der metropolenkämpfcr. die von
den 70er jahren herkommen, noch etwas
andere wurzeln hat - und darum auch für
die Zukunft gekämpft werden muss, an-
ders als welche sagen, die cs fertig zu
bringen scheinen aus nem konjunkturel-
len soli-bewusstsein raus leicht auch mal
davon zu trennen?
und hier jetzt mal ne denkpause,
ich möchte für diesmal nur noch die
frage aitkiiUpfcn. die mich in dem Zu-
sammenhang der täglichen nachrichtcn
stark beschäftigt, wie ihr nämlich die ge-
fahr seht, dass die. die jetzt für den anti-
fa-kampf aufstehen, sich in diese Sack-
gasse bewegen könnten dass die herr-
schenden mit der Steuerung der rassisti-
schen ausbrüche auf der untersten ebene
'einen sektiererischen konfiikt kreiren'. in
dem die linken kräfte sich aufreiben
(sollen) und die eliten damit dabei unan-
gefochten bleiben? ...
Aus «io in Inhalt <ici lernen Ausgaben M. ü uiv '■/
Syivic b»‘ik..w um i Cniiw R . .. Reise öuicn ein
krisengeschütteltes Amerika 11. ■ I 0>.
Am.iU'ii’ti.'ii- m*i .«Miyin l Um«/.!
ilii.ili.iliv In* $<!i.ilii'i nitUi USA 141
«en l* DM
Im Inneron der Festung - Momentaul
nahmen nu
H. IM.1H2Z Italien Dossier |ll|
Integotion und Klasscnkainpt j .1
Ach so, jo. Und wer oder was ist »>ak«2
Am besten selbst mal nochsehen.
Kostenloses Probeexemplar bestellen.
*ak« ist eine sozial slische Monots*
zafcchrift jonsciti von Dogmatismus und
Anpassung an den Zeitgeist.
»ak« erscheint seil 1971.
Übrigens : Das Kürzel sieht für »Analyse
und Kritik«.
ak < osler 0M 6.-, ©riehein! viorwöehenit<h und
Ulm ollen linken Buehloden und gut lorfierten
ZoiichrihenkxJen erholllich oder ducki b©
Hamburger Satx- und Voriagskooperative
Schulterblatt 588, 20357 Hamburg
verlegt bei Edition Nautilus
Kalalcg anfoidcfn' Am Brink 10 I 21029 Hamburg
Der Bundeskanzler warnt
Lesen schadet
der Gesundheit
Ein -ak- boispielsweise enthält
mindestens 40 Seiten hochkonzentrierte
Inko Verdrehungen und böswillige
Untorstollungen
53
Heidi Schulz
Über Rassismus
Auszug aus einem Brief vom Januar
1993
(... der Anfang des Brief isl in dieser
Broschüre in Kap. VIII abgedmckt ...1
ich denke, heute in einer Situation, wo
sich offen zu zeigen beginnt, wohin
grossdcutsche politik führt: krieg, asyl-
Verhinderung, Oberwasser für alle rech-
ten. reaktionären entwicklungen, rassisti-
sche faschistische gewalt. "grosse koali-
tion" (ohne dass sie formal an der regie-
rung wäre), zu alle einschneidenden poli-
tischen cntscheidungen, um die politisch-
strategischen grenzen zu durchbrechen,
die dem deutschen Imperialismus durch
die nachkriegs-grenzen und -geschichte
(eben auch durch den sozialistischen
block) in seiner expansion eingeschränkt
haben - weltweit wie im innem - müssen
alle um einen gemeinsamen politischen
begriff von unten und eine gemeinsame
politische antwort gegen diese entwick-
lung kämpfen.
der sogenannte "sclidarpakt", bei dem
schon die entwürfe in der Schublade lie-
gen, die in ost- und west(deutschland)
eine weitgehende dcklassicrung weiterer
breiterer teile der gesellschaft planen, die
viele aus vielen gesellschaftlichen
schichten in einen ökonomischen und so-
zialen verarmungsprozess drücken wird,
der eine weitere giundlage (basis, Vor-
aussetzung) dafür sein wird, dass viele
ihre pcrspcktivloso Situation bei den fa
schistischcn Organisationen zu lösen ver-
suchen werden; solange, auch, "die“ lin-
ken Zusammenhänge sich nicht damit
auseinandersetzen, oder sogar konkreten
authentischen initiativen in den rücken
fallen (wie teile der pds gegen authenti-
sche Organisierungsvorschläge und ver
suche ausserhalb der gcwcrkschaftcn
von/mit arbeiterlnnen aus dem osten),
während gleichzeitig von oben "den ei-
nen - die gelder für soziale projekte ge-
strichen werden - wie treffpunkte für ju-
gendliche, für ältere menschen, behinder-
teneinrichtunEcn. obdachlose, fortschritt-
liche "aniipsychiatrie"-projekte, besetzte
häuscr.. - werden von unten "den ande-
ren" dazu die brandbomben und tod-
schlägcrtrupps "geliefert", in aktion ge-
setzt.
sicher kann niemand fertige antworten zu
allem aus der Schublade ziehen, umso
wichtiger sind aber die klare benennung
von inhaltlich-politischen bestimmungen,
die von den wirklichen klassenverhält-
nissen ausgehen, von den Ursachen fa-
schistischer gewalt, statt mit politisch
blindem handeln eine polarisiening zu
verbreitern und zu vertiefen, die eine
breite entpolitisierte Unzufriedenheit vie-
ler jugendlicher weiter in die rechte
"ecke” treibt, die sic willkommen auf-
nimmt. weil "die“ linke, viele linke Zu-
sammenhänge, cs sich zu einfach machen
- sich nicht mit der realitat von deklas-
sierten und den Ursachen ihrer blinden
gewalt auseinandersetzen.
"faschistcn jagen und schlagen, wo man
sie trifft" ist keine antwort auf die sozia-
len und politischen Ursachen - dem nähr-
boden faschistischer gewalt.
es ist doch auch unser ureigenstes intcr-
esse - das von denen, die in diesen impe-
rialistischen Verhältnisse nicht mehr le-
ben wollen und können - nicht nur gegen
die rechten zu kämpfen, wenn sie sich
offen bestialisch zeigen, sondern gegen
alle Ursachen dieser entwicklung und d.h.
gegen ihre grundlagen, um einen eigenen
umwälzenden prozess mit langem atem
zu kämpfen; mit politischen Vorstellun-
gen von einem anderen leben, dafür, und
sicher ist es schwieriger sich mit jugend-
lichen. die rechten parolen aufsitzen.
auseinanderzusetzen, ihre dcnkschcmata
auscinandcrzunchmen, als ihnen nur eins
aufs maul zu hauen - was gegen die wirk-
lichen faschisten sicher keine frage ist.
die eigene Hilflosigkeit oder orientie-
rungsschwäche kann niemand (niemals)
durch Schläge "ersetzen”, wenn heute so
viele 12-13-14.. .jährige kids den faschi-
stcn in die arme laufen, dann ist das nicht
nur eine frage, aus welchen wcrtc-loscn.
kaputten familienstnikturen sie kommen,
in denen autoritätshörigkeit und Unter-
ordnung schon immer wichtiger waren
als selbständiges und verantwortungsvol-
les denken, als einem grundbaustein die-
ser gcsellschaftsstnikturen. sondern es ist
auch eine 'Trage'' an die geschichte linker
politik - hier ausdruck dessen, wie wenig
bzw. mit welcher entfremdung aus der
privilegierten distanz sie die äugen vor
den sozialcn-klassciwidcrsprüchen ver-
schliessen und sich mit den politischen
Ursachen von dekiassierungsprozessen
auscinandergesetzt haben,
diesen fehler zu zementieren, indem man
die fehlende anziehungskraft einer nicht-
existenten linken zur grundlagc des eige-
nen denkens und handelns macht, kann
dieses defizit. einer eigenen Orientie-
rungslosigkeit und das anwachscn von
faschistischer Organisierung und gewalt
nur vergrössem. man muss zwischen
formen von Unzufriedenheit und blinder
gewalt, die unbegriffen rechte parolen
übernehmen, und denen, die wirklich fa-
schistcn sind, unterscheiden, will man
dieser entwicklung nicht weiter das fcld
überlassen, die viele jugendliche weiter
in ihre arme treibt.
dazu gehört aber sich tatsächlich mit ih-
rer realen läge, ihren Widersprüchen und
Problemen auseinanderzusetzen - dass
geht nicht von einer warte aus. die für
viele "linke" hier da bestimmende ist:
"wir sind die guten mit durchblick" und
"ihr die verdummten bösen", einer hal-
tung, der die realen klasscnverhältnisse
im eigenen "links-altcmativcn ghetto"
abhanden gekommen sind, ein bewußt-
sein Uber die eigene reale läge - und das
gemeinsame der läge aller unterdrückten,
cs gibt einige wenige ansätze. die in die-
sen uuscinandcrsctzungcn richtig cingtci-
fcn. wie z.b. in mannheim. wo sich aus
den Zusammenstößen zwischen "rechten
und linken jugendlichen" eine initiative
entwickelt hat, um die Sprachlosigkeit zu
brcchcn. fußballspiele sind da genauso
teil wie gesprüchc und cs wäre nichts als
dumme arroganz. KcJche initiativen als
"sozialarbcitcrfricdcn' abtun zu wollen,
sicher reichen solche initiativen allein,
auch wenn sic so zahlreich wie notwen-
dig wären, nicht aus. wenn nicht gleich-
zeitig um eine entwicklung gekämpft
wird, die gegen die Ursachen rechter ge-
walt eine eigene Orientierung und politik
setzt.
und sicher ist auch, dass das nicht ohne
einen gesellschaftlichen klämngspro/eß
möglich sein wird - wie sich jcdc/r poli-
tisch verhält zu den fundamentalen fra-
gen (denen die meisten linken Zusam-
menhänge aus dem weg gehen), zu den
politischen und sozialen fragen, wie sie
aus den existierenden gesellschaftlichen
Widersprüchen autbrcchcn. aus der ver-
änderten gesamtpolitischen läge, in der
das deutsche kapital sich auch mit krieg
wieder neue absatzmärkte, ausbeutung
von anderen Völkern und fremden res-
sourcen sichern will, (schließlich ein Ur-
sprung von rassismus und
"hcrrenmenschen"-deiiken, aus 500 jah-
ren kolonialcr-imperialer herrschaft ent-
wickelt).
ohne hier auf die komplexen cntwickl-
ungen eingchcn zu können, die zu der
Zuspitzung weltumspannender krisen in
grausame vcrtcilungskämpfe und
"bürgerkriege" geführt haben, wie in Ju-
goslawien und Somalia, oder angola...
eins steht mit Sicherheit fest, sie wären
ohne die cinmischurg und machtpolitik
zur durchsetzung politischer, ökonomi-
scher und militürsirategischcr intcrcsscn
imperialistischer grossmächte nicht mög-
lich gewesen, die nun im namen
"humanitärer aktionen" den weg freima-
chen sollen für die akzeplanz einer mili-
tärischen intervcntionspolitik in dertradi-
tion kolonialer militaristischer machtpoli-
tik.
was ist anti rassistische, antifaschistische
politik eigentlich? ist das das recht, hier
geduldet zu werden, solange menschen
für die Verwertungsinteressen des gros-
sen geldes, der multinationalen konzeme.
ausbeutbar sind? menschcnrcchtc. die
54
nach den Verwertungsbedingungen des
Kapitals quotiert mal proklamiert, dann
ausser kraft gesetzt werden, oder damit
ihre cxpongcschaftc nicht gefährdet wer-
den? ich denke, antirassistischcr antifa-
schistischer Kampf ist etwas anderes, ist
der gemeinsame kampf mit allen Völkern
um befreiung.
kampf um befreiung von neokolonialer-
impcrialistischcr ausbeutung und herr-
schaft - von jeder form der ausbeutung
des menschen durch den menschen -
was. solange dieses kapitalistische prin-
/. ip herrscht, in Zeiten der vcrschirftcn
krisen immer wieder rassistische ur.d fa-
schistische Unterdrückung produziert.
(... das Ende des Briefes ist in dieser
BroschUre in Kap. VIII abgedmekt ..)
Aufsatz« zur Diskussion
Ein« Otcoratlscla Zettechrtft dee
revolutionären Marxdsmua
AzO M - Dwember 1993
Inhalt u. a.
• Indlenleche MMtMnteefn
• Vorgeschichte Mexikos
• Azteklsch-mexlksnlsche
Agrarordnung
ArD 59 - März 1(94
Inhalt u. a.
• Dia mexikanische
Revolution
• Allianz von Kleinbürgern
und Bauern
• NAFTA: da» Ende der
Dorfgemeinden
Preis pro Nummer DM 7.50
Außerdem aoeben erechtanwi
H. Kamee heit. A. Schröder
Von der Oktoberrevolution
zum Bauemaozlallsmus
Zur russisch-sowjetischen
Geschichte
396 Seiten DM 28.-
Beitellunoen an: VTK
Postfach 16 07 25. 60070
FranWu rt/Main
Rote Armee Fraktion /
Kommando Katharina Hammerschmidt
Weiterstadt
I ■•■]
aus teilen der frauenbewegung gab cs die
Kritik an uns. daß wir nur wenig auf ihre
diskussionen cingcgangcn sind, die für
teile von ihnen in den letzten jahren sehr
wichtig gewesen sind, wie die diskussion
um rassismus. und auch durch die sich
Überschlagenden ereignisse wie z.b. in
rostock ist es für uns dringend geworden,
diese auseinandersetzung genauer zu füh-
ren.
wenn wir auch nach wie vor die Ver-
schärfung der Icbcnsbcdingungcn hier
und die um sich greifende perspektivlo-
sigkeit vieler menschen sowie das fehlen
der linken als kraft als einen grund für
einen zulauf bei den faschisten sehen, ist
es auf der anderen seite aber auch klar,
daß die wurzel. dafür, warum sich hier in
der metropole. im neuen großdeut-
schland, die Unzufriedenheit in einem
solchen ausmaß gegen fremde entlädt,
tiefer liegen, damit müssen sich alle sehr
bewußt aujeinandersetzen. wie ein mo-
sambikancr sinngemäß gesagt hat: bei
uns sind de menschen auch arm und
trotzdem schlagen sie deshalb nicht auf
die nächsten unter ihnen ein.
die auseinandersetzung über rassismus
wird also sicher ein wichtiger teil beim
aulbau einer gcgcnmacht von unten sein
- die nicht im ghetto bleiben oder als ab-
grenzung zu anderen geführt werden
kann, sondern als frage ans eigene be-
wußtsein, wie jedc/r sein will und welche
gesellschaftliche entwicklung man/frau
will.
daß da in der Vergangenheit fehler gelau-
fen sind, kritisiert die autonome
l.u.p.u.s.-gruppe in ihrem buch
"geschichte. rassismus und das boot” so:
"so selbstverständlich und geübt es
scheint, heute über rassismen. über das
'spezifisch deutsche' oder über deutsche
einzigaitigkeiten zu streiten, so selbstver-
ständlich sah die revolutionäre linke in
den letzten 20 jahre darüber hinweg. ...
was in der linken auseinandersetzung um
patriarchales verhalten unmöglich gewor-
den ist. schien in der frage des deutsch-
seins auffällig leicht zu fallen: wir haben
damit nichts zu tun."
die Chancen, heute vieles anders zu ma-
chen und neues herauszufinden sind
groß: die frage nach dem aulbau einer
gegenmacht von unten ist nicht aus-
schließlich eine frage an weiße, deutsche
linke, sondern eine frage danach, wie
menschen. die hier leben, sich gemein-
sam organisieren können, und die bevöl-
kerung setzt sich hier aus menschen der
unterschiedlichsten nationalsten und
hautfarben zusammen.
"der dialog mit schwarzen frauen muß
nicht in fernen Hindern staufinden, son-
dern ist/wäre viel einfacher und intensi-
ver mit den frauen möglich, die in der
brd leben, die geschichte von migrantin-
nen und ihr wissen aus den hcrkunftslän-
dem ist dabei für das begreifen interna-
tionaler Zusammenhänge so wichtig wie
ihre politischen meinungen und crfaii-
rungen mit rassismus und dem anderen
sexismus, der sie hier trifft, für das Ver-
ständnis der brd-gesellschaft..." (aus:
"basu“ - frauen gegen Kolonialismus).
"... es war die 68er bewegung, die das.
was der faschismus nach dem judentum
innerstaatlich am grausamsten verfolgt
und ausgemerzt hatte, die linke, ihre
wette, kultur und kontinuität, wieder le-
bendig und berechtigt hat werden lassen
in dcutschland west, und wenn heute eine
re-faschisienwg läuft, dann breitet sie
sich aus in jenem politisch-kulturellen
vakuum, das diese linke in ihrem rückzug
aus einer gesamtgesellschaftlichen Ver-
antwortung und neusetzung von werten
und Einstellungen hinterlassen hat." (lutz
taufet, gefangener aus der raf).
es ist eine aufgabe der linken in ihrer
praxis neue werte zu setzen und zu leben,
ansonsten wird in der gesellschaft immer
nur das hervorbrechen, was 500 jahre Ko-
lonialismus im bcwußtscin der metropo-
lenbevölkerung angerichtet haben: rassi-
stische ideologie. das weiße herrenmen-
schcnbewußtscin ist seit 500 jahren Vor-
aussetzung für kolonialistische und impe-
rialistische ausbeutung der Völker im tri-
konu es ist im bewußtsein der weißen
metrcpolenbcvölkcrung aus dieser ge-
schichte vorhanden und wird in krisen-
zeiten von Staat und kapital offen mobi-
lisiert.
rassismus heißt. menschen in
“andersartige" und "mehr-" und
"minderwertige" zu kategorisieren. so
werden immer die kategorisiert, die im
kapitalistischen produktionspro/.eß ent-
weder nicht gebraucht werden oder härter
ausgebeutcl werden sollen,
die Zerstörung des sozialen unter den
menschen ist die Voraussetzung für ras-
sismus. diese Zerstörung bedeutet, daß
auf der basis des kapitalistischen Sy-
stems. dem 24-stunden-alltag von lei-
stung und Konkurrenz, den menschen ei-
gene kritcricn geraubt und durch für den
Kapitalismus funktionale werte ersetzt
wurden - am effektivsten in der metro-
polc. das zeigt sich z.b. am Verhältnis zu
arbeit und leistung als wertdefinition des
menschen: ohne arbeit bist du nichts... cs
ist das Verhältnis zur zeit, wo es für die
meisten menschen zur rormalität gewor-
den ist, in einem vollkommen vorbe-
stimmten rhythmus und stress das ganze
55
leben zu verbringen, in dem es keinen
plaiz für kreativität und lebenslusc gibt.
(... Der hier ausgelassene Absatz ist zu
Beginn des nächsten Kapitels dieser Bro
schüre zitiert ...]
es war und ist immer die Voraussetzung
für die hcrrschaft des kapitalistischen Sy-
stems Uber die mcnschcn gewesen, mit
solchen kritcricn auch tausend Nennun-
gen zwischen sie zu setzen: die trennun-
gen in mehr- und minderwertige, in lei-
stungsfähige und "arbeitsscheue": in
schwarze und weiße; in männcr und
fraucn; alte und jung; kranke, schwache,
behinderte und starke, gesunde; in ge-
scheite und "dumme",
dieser prozeß der Zerstörung hat heute
eine dimension erreicht, in der die gesell-
schaft in ein inneres um-sich-schlagen
übergeht.
rassistisches bewußtscin wie überhaupt
der destruktive prozeß in der gescllschaft
kann nur in kämpfen, in denen soziale
bczichungen und werte hervorgebracht
und umgesetzt werden, aufgehoben bzw.
umgedreht werden, eine Perspektive re-
volutionärer entwicklungcn wird nur in
solchen prozessen wieder vorstellbar
werden.
entweder schafft die linke - und damit
meinen wir alle, die auf der suche nach
wegen sind, wie menschenwürdiges le-
ben hier und weltweit durchgcsctzt wer-
den kann - einen neuen aufbruch, der
seine Wirkung in der gescllschaft hat,
oder der "aufbruch" bleibt auf der rech-
ten. faschistischen scitc.
entweder wird von unserer scitc aus eine
basisbewegung von unten entwickelt, die
von Solidarität und gerechtigkcit, vom
kampf gegen soziale kälte, perspektivlo-
sigkeit und armut bestimmt ist, oder die
explodierenden Widersprüche werden
weiterhin destruktiv bleiben und die gc-
walt jedc/r gegen jede/n eskalieren.
[...]
RASSISMUS VON STAAT UND NA-
ZIS BEKÄMPFEN 1
RASSISTISCHES BEWUSSTSEIN IN
DER GESELLSCHAFT IM KAMPF
FÜR DAS SOZIALE UNTER DEN
MENSCHEN AUFHEBEN - AUCH DA-
FÜR BRAUCHEN WIR EINE BASIS-
BEWEGUNG VON UNTEN, DIE VON
SOLIDARITÄT UND GERECHTIG-
KEIT. VOM KAMPF GEGEN SOZIALE
KÄLTE. PERSPEKTIVLOSIGKEIT
UND ARMUT BESTIMMT IST!
Lutz Täufer
Gesellschaft oder Ghetto
(...). “selbst ein so sympathisch nüchter-
ner mann wie schäublc spricht vom Ver-
lust der wertbindungen. der mitte der
sechziger jahrc entstand", berichtet die
süddeutsche zeitung am 7.12.1992 von
einer schäublc-'rcdc über deutschland”.
was ist es. was diesen "nüchternen" Poli-
tiker dermaßen irritiert, ein viertel jahr-
hundert nach seinerzeit als einer der an-
führer des rings christlichdemokratischcr
Studenten in freiburg? sicher nicht diese
oder jene aktion der Studentenbewegung,
eher schon der zumindest partiell und
temporar erfolgreiche angriff auf jene
denkmuster und ncntalitätcn, die den
kapitalismus im innersten, bis jetzt jeden-
falls, einigermaßen am laufen hielten: die
verlorengegangenen anbindungen an die
herrschenden werte, unschwer zu begrei-
fen, daß eine solche eindringliche offen-
sive nicht durch itlcKzug ins ghetto ge-
schieht, sondern durch jene bewegung,
die in der genau entgegengesetzten rich-
tung sich entfaltet.
wie nun aber jener eigentümliche gedan-
kensprung, mit dem schäuble, an die dc-
nunziation von 68 anknüpfend, in seiner
icdc foitfUhrt: "und er appelliert an das
deutsche volk. sich nicht nur am konsum
zu orientieren, sondern auch die freude
am kind zu entwickeln"?
wie?! hat 68 hemmungslosen konsum
propagiert, haben wir zielstrebig auf jene
kinderfeindliche Gesellschaft hingcarbci-
tet, wie wir sic heute haben? warum redet
dieser mann solchen unsinn? ich denke,
wir müssen dabei zweierlei auseinander-
halten: erstens die tatsache. daß die wa-
rcngcscllschaft in ihrer heutigen funda-
mentalistischen ausprägung (in schäubles
Worten: alleinige Orientierung am kon-
sum) 7U einer unaufhaltsamen Verwahr-
losung der Gesellschaft, ihrer sozialen
bindekräfte und so ihrer reproduktion
überhaupt führt (fehlende freude am
kind), akut bedrohlich vor allem in den
erfolgen ncofaschistischcr rattenfänger
bei tausenden von hindern und jugendli-
chen sichthar.
und zweitens-, daß selbst einem schäuble
inzwischen dämmrrt, was ein marx
schon vor 140 jahren skizziert hat: daß
nämlich unter dem fundamcntalismus der
wäre Verhältnisse zwischen menschen zu
Verhältnissen von sachcn werden, als
führender edu-politiker kann er dieses
aber nicht aussprechen, vermutlich noch
nicht einmal in seinem bewußtsein zulas-
sen. also wird es ahgespalten und auf ei-
nen sündcnbock projiziert, von daher die
brilche in seiner argumentation.
das klima in diesem land ist in den letz-
ten beiden jahren umgeschlagen, eine
dramatische entwicklung. die in ihrem
vollen ausmaß erst 1992 deutlich gewor-
den ist. was wir heute wissen, war zu be-
ginn des jahrcs noch nicht sichtbar, reak-
tionäre bis faschistische tendenzen. und
zwar nicht nur in organisierter form in
der handbreite von spd bis hin zu be-
waffneten neonazistischen trupps. haben
sich breit gemacht, und längst auch das
alltagsbcwußtsein erreicht, werte und
denkmnster der linken kommen nicht
mehr oder nur in diffuser, widersprüchli-
cher form zum tragen, breit angelegte ak-
tionen gegen rassismus, antisemitismus
und nazismus haben stattgefunden, als
koalitionen von linken, sozialdemokrati-
schen und bürgerlichen kräften. ihre tra-
ditionelle rolle als motor solcher mobili-
sicrungcn hat die linke cingcbiißt.
schlimmer noch: da demonstrieren mil-
lioncn gegen faschismus und militanten
rassismus. ohne zuvor mit der herrschen-
den wcrtskala gebrorhen zu haben, und
doch muß auch dann erinnert werden:
bei allen grausamen verimingen war es
in der bisherigen geschichte die linke, die
kontinuierlich dafür garantiert hat, daß
um menschliche und soziale emanzipati-
on gekämpft wird, ein anderes politisches
kontinuum. das auch nur ähnliches für
sich in anspruch nehmen könnte, fallt
mir, in deutschland jedenfalls, nicht ein.
wenn es nach dem zweiten Weltkrieg in
diesem land eigen-ständige demokratisie-
rung gegeben hat, so war das nicht der
us-import dollars & democracy, es war
die 68cr-bcwcgung, die das. was der fa-
schismus nach dem judentum innerstaat-
lich am grausamsten verfolgt und nahezu
ausgemerzt hatte, die linke, ihre werte,
kultur und kontinuität, wieder lebendig
und berechtigt hat werden lassen in deut-
schland west.
und wenn heute eine re-faschisierung
läuft, dann breitet sie sich aus in jenem
politisch-kulturellen vakuum. das diese
linke in ihrem rückzug aus einer gesamt-
gesellschaftlichen Verantwortung und
neusetzung von werten und einstellungen
hintcrlasscn hat.
die weit, nicht zuletzt die westlichen Sy-
steme. befinden sich in einem sich be-
schleunigenden prozeß der implosion,
der vermutlich von ähnlicher dimension
sein wird wie der ütwrgang vom mirtelal-
tcr zur ncuzcit. und insofern ist der salz
vom ende der geschichte wahr, aber die
Verwechslung einer neuen zeit mit der
mensch und natur in ihrer wcitcrcxistcnz
bedrohenden apokalypse namens waren-
gcscllschüft zeigt nur, wie sehr die mäch-
tigen selbst in perspektivischer ratlosig-
keit befangen sind, das macht sic nicht
ungefährlicher. im Gegenteil,
"aktionismus statt pjlitik". bilanziert die
süddeutsche zcitung die bonner politik
des jahres 1992. aber ihre versuche, die
56
bedrohlicher und unbeherrschbarcr wer-
dende silualion unter aufoietung aller
mittel und brutalitiitcn. unter abwurf auch
noch des letzten moralischen ballasts.
doch noch einmal zu stemmen, ist der hi-
storischen Situation gegenüber genauso
blind wie der "blick über kimme und
kom." dieser Situation ein "revolutionäres
Projekt" entgcgcnzusiellen. das auch
nach einjähriger debattc Uber das Stadium
guter absichtcn und böser Unterstellungen
nicht hinausgekommen, halte ich nicht
für einen angriff auf diese Verhältnisse,
sondern für einen rtlckzug von ihnen.
Der Film "...was aber
wären wir für Menschen..."
behandelt die Zeit von 1967 bis
1977. Er enthalt Interviews mit ehe-
maligen Gefangenen aus der
Guerilla, mit Zeitzeugen, einem Arzt,
Angehörigen und einer ehemaligen
Gefangenen, und vermittelt anhand
von umfangreichen Dokumentar-
material einen Eindruck von der Auf-
bruchstimmung der spaten 60er Jah-
re : nicht nur in der BRD.
Der Filrn ist zu bestellen bei
Gruppe 2, Fasanenstraße 142,
82002 Unterhachm
Leihgebühr 45.- DM / 14 Tage
mm— I" d« CwnCird • ton»
pjuchr Protdifinessf • -Lohhvn*- -Smilo VUudultcn- •
AJudmw für St Cri»« Mant yiiwu • EnwiddunfSÄtUrtu
für *n Xori miaWH Vifmnl der Ahtmuft-Zeilun-
RfRrliralet rMTTffltWI ATTA) T Pi einer rt*uen Zftili-
«iiin l i l,Ill» |l llüUWffl Ftnl»ifr ron OB 8raw Web» fiir
mehr Tgkrjiu... <Ik Gcnuum nnem
bürg dm Aufruf rum FraumJmV untmrhrwhm haue.
sehe BbloRnphir i*tr Fnbi5dxtf [HBHVxn muliAut-
turelkn Ghetto ar Intertuhurtkn Anerkennung u.v.m.
bas tfo und oxli Md mbr
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□*h will die neue COVlTAStT.
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Coupon hlte lusschnodrn und einseiKlm an
CONTRCTE. Pwfarii 10020. 690.« llodeNrj;
ins-SM.’ii
einige Frauen aus der radikal
Gegen das organisierte
Deutschtum!
Für den Zusammenbruch!
Rückwärtsrolle ?
Grüße an Lupus!
Das Thema das die autonome Linke hier
seit dem 22. August des Jahres einerseits
am meisten beschäftigt, andererseits vor
die größten Probleme stellt, sind die Po-
grome gegen FlJchtlingsheimc und
Flüchtlinge, die mit Hilfe massenhafter,
aktiver Unterstützung der deutschen Be-
völkerung. ausgehend von Rostock-Lich-
tenhagen in vielen Städten der Ex-DDR,
staufanden. Nachdem cs schon im letzten
Jahr z.u mehrtägigen Angriffen, gemein-
sam getragen von organisierten Rechten
sowie der Ema-Normalbcvölkerung auf
ein Flüchtlingsheim in Hoyerswerda und
im Juni des Jahres zu einem Pogrom auf
der Schönau bei Mannheim gekommen
war. wurden die Angriffe in Rostock-
Uchtcnhagcn /um Ausgangspunkt fllr
einen neuen, nicht gekannten Höhepunkt
rassistischen Terrors. Im Moment sind
zumindest die vermassten Angriffe auf
die Heime etwas abgeebbt, aber täglich
finden Brandanschläge auf Ausländerln-
nenunterkünftc und anderer rassistischer
Terror gegen Ausländerinnen statt.
Die ersten Reaktionen der autonomen
Linken zeigten sich in einer erhöhten
Mobilisicrungsfähigkeil für Demos und
anderen Massenaktionen und in verstärk-
ten Kleingruppenaktionen vor allem ge-
gen faschistische Kneipen und Treff-
punkte. Die Bereitschaft dazu ist mitt-
lerweile wieder etwas zurückgcgangcn.
Man/frau ist wieder- /.um Alltag zurück-
gekehrt. die Nachrichten über die tägli-
chen Angriffe auf Ausländerinnen gehö-
ren unterdessen zu dessen Normalität.
Weitgehend unbeantwortet sind die
drängenden Fragen danach, wie antifa-
schistische Politik aussehen kann, ange-
sichts der nicht nur erstarkenden faschi-
stischen Organisationen, sondern gerade
der Bereitschaft zum rassistischen Terror
weiter Teile der Bevölkerung, die sich
gegenwärtig offensichtlich von Zeit zu
Zeit in aktiver, gewaltsamer Vertreibung
entlädt und dabei auch bereit ist. Tote un-
ter den Ausländerinnen in Kauf zu neh-
men.
Im Grunde ist damit der Zustand wieder
cingctrcten der seit dem Ende der Angrif-
fe in Hoyerswerda jeweils zwischen den
Pogromen Normalzustand in der BRD
ist: Laut Statistik des BKA fand im Jahr
1991 durchschnittlich jeden Tag (!) ein
rassistisch motivierter Sprengstoff- oder
Brandanschlag statt. Die Dunkelziffer
dürfte allerdings ein Vielfaches dieser
Zahl betragen. Über die Angriffe gegen
ausländisch ausschcrde Menschen in al-
len öffentlichen Bereichen ist damit im
Übrigen noch gar niclits gesagt.
Angesichts solchen Ausmaßes des rassi-
stischen Normal-Terrors bilden Pogrome
nur die Spitze des Eisbergs. Gleichzeitig
erscheinen sie im Gesamtzusammenhang
der rassistischen Gewalt einerseits und
der menschenverachtenden Ausländerpo-
litik andererseits auch gar nicht mehr als
das Besondere, sondern eher als folge-
richtige zeitweilige Steigerung der übli-
chen rassistischen Gewalt.
Ich weiß nicht, was soll es bedeuten...
Grund genug, sich Gedanken darüber zu
machen, wie kontinuierliche antifaschi-
stische Politik gestärkt werden kann, und
welche Möglichkeiten wir haben, speziell
auf die Pogrome zu reagieren:
Auf die Ereignisse in Rostock reagierte
die radikale Linke ent einmal mit boden-
loser Hilflosigkeit. Grüppchcnweisc fan-
den zwar einige schnell und spontan den
Weg nach Lichtcnhajicn, ohne allerdings
recht zu wissen, was man/frau dort ma-
chen könnte. Die erste größere, von Au-
tonomen getragene Aktion (eine antifa-
schistische Demo) fand erst am nächsten
Wochenende, also eine ganze Woche
nach Beginn des Pogroms statt, quasi als
“alles vorbei” war. Auch die weithin ge-
tragene Aufforderung an die I.ichtenha-
gener Bevölkerung: "Schämt euch”,
zeugt von Ohnmacht der Situation ge-
genüber.
Wofür soll sich die so angesprochene
Bevölkerung denn schämen? Etwa dafür,
daß mit ihrer tatkräftigen Unterstützung
beinahe 150 Vietnamesinnen verbrannt
wären? Die Aufforderung, "sich zu
schämen", scheint angesichts der bewußt
in Kauf genommenen Gefährdung von
Uber 1 50 Menschen doch wohl etwas un-
angemessen. wenn nicht gar lächerlich.
Sic verniedlicht geradezu den Terror der
deutschen Bevölkerung, indem sic so tut,
als würde man mit "dummen Jungs"
schimpfen. Nimmt die Linke die Bereit-
schaft zu rassistischer Gewalt der ganz
normalen Durchschnittsbevölkerung im-
mer noch nicht ernst...?
Pogrome stellen die Linke offenbar in
mehrfacher Hinsicht vor eine neue Situa-
tion:
Wurde in den letzten 2 Jahren noch ver-
sucht, den Schutz von Flüchtlingsuntcr-
künften gegen faschistische (Klein)-
Gruppen zu organisieren (z.B. durch Te-
Icfonkctten) so können kleine, antifaschi-
stische Gnippchcn gegen einen Mob von
mehreren hundert Leuten wenig ausrich-
tcn. Allein in Quedlinburg ist cs gelun-
gen, sich mit ca. 200 Leuten relativ spon-
57
tan schützend vor ein Heim zu stellen
und darüber hinaus rechte Gruppen so-
wie die randalierende Bevölkerung anzu-
greifen und wenigstens für die Dauer der
Anwesenheit der Autonomen zu vertrei-
ben. Solches Vorgehen finden wir bei-
spielhaft und un!>edingt nachahmenswert
in einer Situation, in der cs einerseits
darum gehen muß. den öffentlichen ras-
sistischen Konsens auf der Straße durch
Präsenz und durch militante Angriffe auf
die Rassistlnnen zu brechen, andererseits
die Flüchtlinge, die auch in Quedlinburg
z.B. noch im Heim waren, zu schützen
oder, wo möglich, gemeinsam mit ihnen
Schutz zu organisieren (wie z.B. Ende
Oktober in Greifswald). Zum ersten Mal
seit cs die Pogrcmc in Deutschland gibt,
mußten die Ema-Normalrassistlnnen, die
dort seit Tagen allabendlich ihr Bier
nicht mehr vor der Glotze, sondern auf
der Straße vor dem Heim tranken, zur
Kenntnis nehmen, daß sie persönliche
Konsequenzen und Risiken ftlr ihre Be-
teiligung an den Angriffen zu tragen ha
ben. Soweit uns bekannt ist. blieben die
Aktionen von Autonomen in Quedlin-
burg, die die rassistische Bevölkerung in
einer eskalierten Situation vor Ort mit al-
len Mitteln an weiteren Angriffen zu
hindern suchten, die einzigen dieser Art,
die nicht von Flüchtlingen getragen wur
den.
Dafür gibt cs unserer Meinung nach ver-
schiedene Gründe: Wir denken, daß sol-
che Aktionen vielen Autonomen zu un-
differenziert erscheinen. Dahinter steckt
die Weigerung, die an den Pogromen Be-
teiligten ohne jede Beschönigung als Tä-
terinnen und damit als handelnde Sub-
jekte zu erkennen, die auch eine Verant-
wortung für ihre Taten haben und nicht
nur fehlgeleitete, bewußtseinslose, arme
Opfer sind; statt dessen wird der Versuch
unternommen. *Erklänmgcn" für das
rechte Verhalten in (angenommenen) so-
zialen Problemen zu finden
(Arbeitslosigkeit, enge Wohnungen, Ori-
entierungslosigkeit durch die unterstellte
Auflösung sozialer Strukturen.. .), die
trotz gegenteiliger Beteuerungen häufig
nichts anderes sind als verständnisvolle
Entschuldigungen. Indem sie die Ursache
für die rassistische Gewalt ständig bei
den sozialen Problemen dieser Gesell-
schaft und der bösen, bösen Welt sucht,
trägt die Linke zur Tätcrlnncncntlostung
und Legitimation der Angriffe auf Aus-
länderinnen bei.
Wir verstehen antifaschistische Gegen-
wehr gegen die rassistische, deutsche Be-
völkerung nicht wie im Papier:
“'Schönau' Rassismus - Antirassismus -
Klassenkampf' beschrieben als "das au-
tonome ‘Konzept Strafexpedition', das
nicht mehr differenziert, das nicht polari-
siert und nicht politisiert, sondern im mo-
ralischen Überschwang kurzerhand
(einen ganzen Stadtteil; Einfügung von
uns) zu faschistischem Gebiet erklärt" .
Wir finden militantes Vorgehen gegen
die an einem Pogrom beteiligte Bevölke-
rung legitim und notwendig. Es geht in
solch einer eskalierten Situation vor Ort
nicht um die "saubere" Vermittclbarkeit
einer antifaschistischen Aktion, nicht um
"Überzeugungsarbeit vor Ort oder
(moralische) Appelle; erstes Ziel muß die
Verhinderung oder zumindest Begren-
zung des Terrors und der Schutz der
Flüchtlinge sein. Das funktioniert (u.a.
vor Ort) nur. wenn der rassistische Kon-
sens, in der sich die Bevölkerung bewegt,
gebrochen wird und die Täterinnen dar-
über hinaus durch militante Angriffe auf
sie abgeschreckt und eingeschüchtert
werden.
Alle weiteren Überlegungen über das
Aufbrcchcn rassistischer Bewußtseins-
Strukturen und der Vcrankemng antifa-
schistischer Ideen kommen danach. Das
bedeutet nicht, daß wir auf eine Analyse
verzichten wollen, die die Bedingungen
und Ursachen der gegenwärtigen rassisti-
schen Masscnmobilisieningen erklärbar
macht.
Die Hilflosigkeit der Linken resultiert
aus einer uneindcutigcn Haltung den
Rassistlnnen gegenüber. Deswegen mei-
det sie die Konfrontation mit der rassisti-
schen Gewalt und geht erst auf die Stra-
ße. wenn die Pogrome vorbei sind. Mit
jedem gelungenen rechten Angriff wird
cs jedoch für uns schwieriger werden,
den Rechten was entgegenzusetzen, denn
jeder Abend den sie ungehindert ein
Flüchtlingsheim angreifen können, jeder
"ausländerlnnenfreie" Stadtteil, macht sie
stärker und uns schwächer.
Wir haben oft den Eindruck, daß gerade
die Linken, die sich um eine differenzier-
te, analytische Betrachtung der gesell-
schaftlichen Situation sowie der Ent-
wicklung der staatlichen, faschistischen
Tendenzen bemühen, die Frage nach den
praktischen Konsequenzen autonomer
Politik nicht stellen. Mit dem Verweis
auf eine fehlende Analyse und dem zwei-
fellos oft wenig differenzierten Gesell-
schaftsbild der Autonomen wird die
Frage nach den jetzt möglichen und not-
wendigen Politikansätzen in den Bereich
zukünftigen Geschehens verwiesen. Dem
wollen wir entgcgcnhalten, daß es eine
politische Perspektive, die an der prakti-
schen Lösung hier und jetzt vor Ort vor-
beikommt, nicht geben wird.
Eine beschriebene Uneindeutigkeit gege-
nüber den rassistischen Normalbürgerln-
nen füllt z.B. bei denjenigen Linken auf,
die große Hoffnungen in die Revolutio-
nierung der Arbeiter(inncn)khssc setzen,
aber leider zeigt sich, daß bei vielen die-
ser Arbeiterinnen (z.B. in Lichtenhagen
und Schönau) eine große Bereitschaft zu
öfterem, rassistischem Terror besteht.
Damit wollen wir nicht sagen, daß wir
das "Proletariat" für die rassistischste
Klasse halten. Z.B. wohnen in den Plat-
tcnbausicdlungcn der Ex-DDR im Ge-
genteil zu vergleichbaren westlichen
Wohngegenden alle sozialen Schichten
(außer richtige Bonzen) zusammen. Also
auch Akademikerlnnen. Beamte.... die
mit Sicherheit genauso vor die Heime
gezogen sind und Beifall geklatscht ha-
ben. In Villcngcgcnden. in denen Aus-
länderinnenheime errichtet werden soll-
ten ixlcr worden sind, organisiert sich die
dort lebende Bevölkerung z.B. in rassisti-
schen Bürgerinitiativen, gründet Vereine
oder versuchte Druck auf die Lokalpoliii-
kerlnnen auszuüben. Die Uppcr-class be-
dient sich dabei oft einer subtileren rassi-
stischen Argumentation.
Dennoch: gegenüber dem Proletariat
heißt "Aufklärung" das Zauberwort, das
den deutschen Arbeiterinnen bzw. der
Bevölkerung der Ex-DDR- endlich die
Augen öffnen, sie auf den Pfad der revo-
lulionären Tugend bringen soll. Gilt der
Dialog mit Nazis, also organisierten Fa-
schisten. weitgehend als verpönt, so soll
die Botschaft an die rassistische Bevöl-
kerung sein: “Ihr handelt gegen unsere
Interessen als Arbeiterinnen, gegen die
Flüchtlinge, was eure Klassengenossin-
nen sind und damit auch letztlich gegen
euch selbst... Ihr schadet der Arbeiterin-
nenklasse und nützt cfcn Reichen, den
Managern und Politikern..."
('"Schönau'...". Ludwigshafen).
Dort wo radikale Gegnerinnenschaft und
Konfrontation notwendig wären, ver-
sucht die Linke, die anbiedemde Bekeh-
rung der Rassistlnnen. Diese Bevölke-
rung mit linken Argumenten erreichen
und "überzeugen" zu wollen, zeugt von
vollkommener Selbstüberschätzung und
einer falschen Analyse der Situation, in-
dem davon ausgegangen wird, daß der
Zusammenhalt der Arbeiterinnen als
"Klasse" einer ■'Spaltungsstrategie“ der
Herrschenden (genannt Rassismus) zum
Opfer fällt und allein durch Informati-
onsarbeit das “getrübte”, "verschleierte"
Bewußtsein aufgehellt werden könnte.
Den Höhepunkt dieser dumpf-marxisti-
schen Haltung fanden wir in der Wildcat
60. Oktober 92. in der rassistischer Ter-
ror schon beinahe als "vorrevolutionäre”,
auf alle Fälle das System angreifende
Handlung gewertet wird | die von den
Verf .innen zurecht kritisierte Haltung
bspw. der wildcat ist zwar dumpf aber
keineswegs ( traditionsfmarxislisch. son-
dern von der Klassenbewußtseins-Theo-
rie von Lukdcs Theorie vom ' falschen
Bewußtsein" und der Offensiv-Mytholo-
gie des - sich ebenfalls als
'undogmatisch' begreifenden - Operais-
58
mus ('die Arbeiterklasse bestimmt die
Kapitalbcwegung') geprägt. Anm. d. Hg.]
- leider nur noch ein wenig fehlgeleitct
durch die medienwirksam geführte Asyl-
debatte sowie der sonsligen Medienhatz
gegen Ausländerinnen:
'Gerade zwei Jahre nach dem Anschluß
sind die Parteien und Gewerkschaften in
der Ex-DDR am Ende - aber die Leute
bleiben mit ihter Kritik auf halber
Strecke stellen: Sic verweigern sich und
beklagen im nächsten Moment, sic wür-
den von politischen Entscheidungspro-
zessen ausgeschlossen'. Sie merken, daß
dieser Staat gegen ihre Interessen han-
delt. aber anstatt ihn zu bekämpfen, ver-
weigern sie nur ihre Teilnahme (...): erst
Opfer de* Stdlinisinus, dann Opfer der
Umstrukturierung, Opfer der Medien.
Opfer der Antifa. . Die Panik vor der Zu-
kunft wächst, aber sie packen nicht selbst
an (...) (In Rostock. Quedlinburg. Hoy-
erswerda ... haben sie's angepackt, aber
das wollt ihr wahrscheinlich nicht wahr-
tiaben! d. Tippse). Gerade die von staatli-
cher Alimcntiercng Abhängigen haben
Panik, ihr Geld an bettelnde Roma zu
verlieren. Krawalle sind oft Verhand-
lungsformcn (Hervorhebung von uns) in
Systemen, wo Menschen sich nicht
(mehr) politisch vertreten fühlen."
(Wildcat 60. S. 6).
Und weil nicht sein kann, was nichi sein
darf, wird die gesellschaftliche und poli-
tische Realität einfach geleugnet und um-
geschrieben, als hätte es die wochenlan-
gen Pogrome einfach nicht gegeben:
"Die 'faschistische Gefahr' ist ein Medi-
enprodukt. das Copyright liegt bei der
Linken und den Profitzwängen der kapi-
talistisch organisierten Medien. Ein und
derselbe Fascho erscheint in 5 Zeitschrif-
ten: Reporter bezahlen Skins für Angriffe
auf Heime. In Talkshows werden Jugend-
liche aufgeforden jetzt doch mal endlich
'was Auslandcrfeimiliches' zu sagen; (...)
In Rostock waren während der Randale
500 Reporterinnen Zugänge. Nehmen wir
mal an. nur die Hälfte von ihnen hätte
Kamera und Mikrofon aus der Hand ge-
legt und jeweils drei hätten sich einen
stcincwcrfcndcn Jugendlichen ge-
schnappt, dann wäre die Randale beendet
gewesen - die Medienfritzen hätten aber
durch so ein Vorgehen natürlich weniger
Geld verdient.” (Wildcat 60. S. 5f).
Eine blödsinnigere Verdrängung und
Verdrehung der Tatsachen und gleichzei-
tige Entschuldigung der rassistisch-chau-
vinistischen Bevölkerung als Opfer ist
wahrhaftig kaum mehr vorstellbar.
"Eine Verharmlosung und Entschuldi-
gung. die in der deutschen Linken Tradi-
tion hat. Die heutige Linke ähnelt hier
dem marxistischen Antisemitismustheo-
retiker. der im Judenhaß einen annehm-
baren Kem erkennen will. Für diesen
Theoretiker steht das 'Juda verrecke’ als
unaufgeklärte Einkleidung für die an sich
erstrebenswerte Beseitigung von Zins
und Geld. Im Judenverfolger wird der
Genosse erkannt, dem lediglich die mar-
xistische Schulung fehle." (Heinsohn.
1988) (...).
Diese Linke, die das deutsche Volk so
umsorgt, Kritik an den Massen möglichst
vermeidet und “Erziehung” und
"Therapien" empfiehlt, ignoriert nicht
nur den aktuellen Zustand dieses Volkes,
sondern ignoriert auch dessen Taten in
der Geschichte. Mehrheitlich waren die
Deutschen in irgendeiner Funktion (und
wenn sic noch so banal erschien) an der
Vernichtung der europäischen Juden im
Nationalsozialismus beteiligt. Und sie
werden es wieder tun, wenn es auf höch-
ster Ebene beschlossen wird, und es wie-
der ganz normal finden, wenn sic von
Angriffen, Vertreibungen, Ermordungen
mitbekommen (oder mitmachen). Den
Linksiudikalcn ist cs noch nicht einmal
im Bewußtsein, daß sic dies zum Thema
machen und damit reflektieren müßten."
("Fluchschrift"; Nr. I; Juni 1992; Frank-
furt/M.). richtig die Kritik an Thera-
pie- und Erziehungskonzepien ist, so
fatsch ist es, die Linke {nach all der sta-
linisti.schen, autonomen und antiimperia-
listischen Sektiererei/ gerade wegen zu
wenig Massenfeindlichkeit zu kritisieren.
Im übrigen ist die pauschalisierende Re-
de von "dieses Volk“, “ waren (...) und
(...) werden es wieder tun" etc. mytholo-
gisierend - letztlich biologislisch - und
geschlchisdeierminlstiscli. Aiun. d. Hg. J.
Die Linke will es nicht wahrhaben, wenn
sich z.B. die Ex-DDR Bevölkerung
sclbstbcstimmt und selbstorganisiert ge-
gen Ausländerinnen verhält. Ob in Form
rassistischer Pogrome oder BI’s gegen
Flüchtlinge, das kann nix Selfcstbestimm-
ics sein, denn dieser Begriff ist im auto-
nomen Einmaleins doch ganz anders be-
setzt??!!
Die Orte Fürstenberg und Goldberg ha-
ben wir als exemplarische Beispiele da-
für herausgesucht, wie sich die Bevölke-
rung in der Ex-DDR selbstorganisiert:
Der On Fürstenberg wird sicherlich vie-
len in diesem Zusammenhang ein Begriff
sein. Auf dem Gelände des ehemaligen
Konzentrationslagers Ravensbrück sollte
ein Supermarkt eröffnet werd;n, der Bau
dafür war nahezu fertiggestellt. Nach Be-
kanntwerden dieses Plans begann eine
kontroverse öffentliche Diskussion
darum, die Jüdische Gemeinde und viele
andere Gnippen protestierten gegen die
geplante Eröffnung. Die Lckalpolitike-
rlnncn verteidigten das Vorhaben mit
dem Verweis auf die dringenden Vcrsor-
gungsbcdüfnissc der Fürstenbergerln-
nen. als wenn es im ginzen Ort keinen
anderen Platz für einen Supermarkt ge-
geben hätte.
Die ansässige Bevölkerung mischte sich
alsbald tatkräftig selbst in die Diskussion
ein. Eine Bürgerinitiative für den Super-
markt wurde gegründet; einmal müsse
die Gcschichtslast doch abgeworfen wer-
den, damit wolle man/frau jetzt nichts
mehr zu tun haben, zumal mit dem verei-
nigten Dcuischland der dunkle Teil deut-
scher Geschichte doch wohl überwunden
sei..., so lautete die Argumentation pro
Supermarkt. Straßcnblockadcn. Kundge-
bungen und fast tägliche Protestdemos
wurden auf die Beine gestellt.
Zweites und ganz aktuelles Beispiel ist
die 5000-Seden -Kleinstadt Goldberg, in
der gerade gegen rumänische Flüchtlinge
(hauptsächlich Roma) mobil gemacht
wird, die nach Goldberg kommen, weil
dort in einer ehemaligen NVA-Kascmc
eine ZAST (Zentrale Anlaufstcllc für
Asylbewerberinnen) eingerichtet wird.
Von Fremden wollen die Goldbcrgcrln-
nen zwar leben, hatten dabei aber eher an
"deutsche Touristen” gidacht und nicht
an "Zigeuner”, die "wie die Heuschrek-
ken und nicht zu integrieren” seien, und
die "alle beklauen", O-Ton Frau Waltraud
Müller (53) (siehe ft>to) im Spiegel
4-1/1992, aus dem auch die folgenden Zi-
tate stammen.
Den von "oben" kommenden Planungen
und Anweisungen wird in Goldberg nicht
mehr gefolgt. Es wird mit einer Energie
und Vehemenz kritisiert, protestiert und
Widerstand geleistet, bereit, bis zum Äu-
ßersten zu gehen - die man/frau sich zu
anderen Anlässen nur wünschen könnte:
"Hatte der Minister sie (die Bevölkerung,
d. Verf.) etwa um ihr Einverständnis ge-
beten. seine ZAST in dieser Idylle errich-
ten zu dürfen? Hatte er sich um die sen-
sible Wirtschaftslage gekümmert? Natür-
lich nicht, sagt jedenfalls Frau Bier (siehe
Foto) und deshalb sei das Diktatur"
(Spiegel, 44/1992).
Frau Müller und Frau Bier gehörten zu
den Hauptorganisatorlnnen des Wider-
stands, der Großteil der Bevölkerung hat
sich angeschlosscn. Innenminister Kup-
fer, der den rassistischen Mob schon
während der Pogrome in Rostock ver-
ständnisvoll und wohlgcsonncn in Schutz
genommen hat, zeigt ein offenes Ohr für
die Probleme der Goldbcrgcrlnncn: Er
erklärt, daß "wir in unserem Staat die
Asylbewerber nicht einfach einsperren
können. 'Leider', fügt er hinzu". Die Lan-
desregierung hat mittlerweile verspro-
chen, daß die ZAST in Goldberg im
April nächsten Jahres wieder geräumt
wird.
Dies sind zwei Beispiele dafür, daß die
Bevölkerung sich sehr wohl von "unten”
59
organisieren kam. wenn cs um eine Sa-
che gehl, die ihnen unter den Nägeln
brennt, die also ihre Interessen betrifft.
Dabei stellen sie sich keineswegs dumm
an und können politische Erfolge für sich
verbuchen.
Nun mag man uns cntgegenhalten, daß
sich die Bevölkerung, indem sie sich ge-
gen Ausländerinnen organisiert, dem
Konsens mit der gegenwärtigen staatli-
chen Politik, mit "denen da oben", sicher
sein kann und das rassistische Klima aus-
nutzt. Zweifelsohne wirkt sich die tägli-
che Bestätigung der eigenen, rassisti-
schen Position durch z.B. die staatliche
Ausländerpolitik verstärkend auf die Mo^
tivation zum rassistischen Verhalten aus;
das erklärt jedoch nicht die grundsätzli-
che Bereitschaft dazu. Zeit, Energie und
Entschlossenheit in eine rassistische Or-
ganisierung und rassistischen Terror zu
stecken.
Einen weiteren Grund für die Haltung
und das Nicht- Verhalten von Linken der
rassistischen Bevölkerung gegenüber se-
hen wir in der seit ca. 3 Jahren rasant
voranschreitenden Isolation linksradika-
ler Positionen. Die eigene Isolation durch
den Rechtsruck, den alle gesellschaftli-
chen und politischen Kräfte vollzogen
haben, macht Druck auf die radikale
Linke in Richtung Liberalismus, also et-
wa steigt die Bereitschaft einen höheren
Preis für Bündnisse mit Linksliberalen
oder Grün-Alternativen zu zahlen
[Sicherlich ist es zu kritisieren, daß im
Interesse des Zustandekommens von
Bündnissen heute häufig die eigene
(revolutionäre) Position nicht mehr ge-
äußert oder gor revidiert wird (der
Übergang ist fließend); aber die früher
häufig anzutreffende Haltung, die Über-
nahme der eigenen Position durch die
potentiellen Bündnispartnerinnen zur
Bündnisvoraussetzung zu machen, war
keine sinnvolle Alternative dazu. Denn
sie bedeutete der faktischen Verzicht auf
jede Bündnispolitik . Anm. d. Hg.] (und
verstärkt die Zweifel) an den eigenen Po-
sitionen.
Gab cs z.B. noch 1986 seitens der Grü-
nen und AL die 'Aktion Fluchtburg", die
das Verstecken der von Abschiebung be-
drohten Flüchtlinge (und damit die Orga-
nisierung illega’er Aufenthaltsmöglich-
keiten...) zum Ziel hatte, so legten die
Grünen Anfang dieses Jahres den kom-
pletten Entwurf eines
"Einwanderungsgesetzes" vor, im Zuge
dessen die Quotierung von Ausländerin-
nen gefordert wird (was bedeutet, daß le-
diglich eine bestimmte Zahl von Auslän-
derinnen überhaupt in die BRD eingelas-
sen werden soll).
Wir sehen uns also einem völkisch-nati-
onalen und rassistischen Konsens gegen-
über. der in der deutschen (und unserer)
Geschichte nach '45 ohne Beispiel ist.
Niemand, weder grün-alterrutivc noch
sonstige liakslibcrale Kräfte vertreten in-
haltlich auch nur annähernd unsere Posi-
tionen in Sachen Ausländerpolitik (von
politischen Konsequenzen ganz zu
schweigen). Im Gegenteil; sic tragen den
dcutschtüirelndcn und rassistischen Kon-
sens auf grün-altcmativc Art und Weise
mit. Angesichts solcher Isolation der ei-
Ecnen Position kann den Autonomen
Angst und Bange werden, was z.B. eine
verklärende, populistische Haltung gege-
nüber den Rassistlnnen hervonuft.
"Auf wen sollen wir uns denn hier sonst
noch beziehen...?", hören wir schon die
(selbst-) zweifelnden Bedenken... Wir
denken daß Populismus und Anbiede-
rung an eine Bevölkerung, die schon
lange etwas ganz grundsätzlich anderes
will als wir. uns nicht weiterhelfen, son-
dern im Gegenteil zu einer Verwässerung
der eigenen anti-rassistischen Positionen
führt. Statt dessen kann nur eine radikale
Konfrontation in Wort und Tat den na-
tionalistisch-rassistischen Konsens in
dieser Gesellschaft ankratzen, überall
dort, wo rassistische Gewalt aoftritt.
Einen letzten Grund für die schleppende
bis nicht-vorhandene Reaktion der Auto-
nomen auf die Pogrome sehen wir in der
Unflexibilität und Unorganisertheit de-
rer, die bereit dazu wären, sich mit vielen
schützend vor ein Heim zu stellen und
eventuell sogar den Mob anzugreifen.
Wir denken, daß sich ein nennenswertes,
spontanes Reagieren auf di; Angriffe
kaum mit unserem, in der Regel reichlich
durchorganisiertem Alltag vereinbaren
läßt. Schließlich sind wir ja auch nicht
durch direkte eigene Betroffenheit zur
unmittelbaren antifaschistischen Gegen-
wehr gezwungen, sondern können cs uns
aussuchen, wann wie oder ob wir über-
haupt reagieren wollen. Diese "Freiheit"
nehmen sich auch die meisten von uns
(um nicht zu sagen: alle) henuis. [Das ist
eine rein moralische Kritik, die daran
vorbei geht, daß wir alle tatsächlich un-
ser Leben organisieren müssen. Anm. d.
Hg]
Wenn wir nicht zukünftig dazu in der
Lage sind, die Notwendigkeiten unseres
Alltags so einzurichten, daß wir auch mal
flexibel reagieren können (es Finden ja
auch nicht täglich Pogrome statt), dann
werden wir in solchen Situationen immer
das Nachsehen haben.
Niemand (außer den Flüchüingen, die
sich selbst verteidigen oder den Bullen)
wird so dem rechten Terror eine Grenze
setzen. Wenn man bedenkt, mit welcher
Selbstverständlichkeit die Leute vor dem
Flüchtlingsheim agieren oder zumindest
rumstchcn wird klar, daß sie sich nicht
nur im Recht Fühlen, sondern auch nicht
die geringste Angst vor irgendeinemfr
Gcgrcr/in haben, der/die ihnen dieses
"Volksfest" kräftig vermasseln könnte.
Ihr Handeln bleibt bisher ohne Konse-
quenz seilen« der Antifsschistlnnen. von
wenigen Ausnahmen abgesehen.
Zu der zur Zeit notwendigen Flexibilität
gehört einerseits die Vernetzung unter
den Leuten, die bereit sind, im Falle ei-
nes Pogroms sofort dorthin zu fahren,
das heißt, man muß sich erreichen und
verständigen können, andererseil.« muß
jedc/r für sich überlegen, ob sie/er nicht
vielleicht das nächste Mal krankfeiem
kann, um mehr Zeit zu haben, die Kinder
abwechselnd mit anderen Eltern betreut
bzw. bereit ist. einige der sonstigen ge-
sellschaftlichen "Verpflichtungen", die
so zu den angenehmen Seiten des auto-
nomen Szcncalltags gehören (wie Es-
sensverabredungen. Kino, Feiern u.ä.)
mal sausen zu lassen. Sonst werden es
nie viele sein, die gerade mal zufällig
Zeit haben. Es kommt, wie gesagt, ohne-
hin nicht jeden Tag zu solchen Pogromen
wie in Hoyerswerda oder Rostock und
bei den täglichen Eirzclaktioncn von
Rechten können wir vor Ort sowieso
kaum etwas machen, weil sie in den mei-
sten Fällen nicht berechenbar sind.
Von linken Erklärungsansätzen oder:
die Untiefen der Risikocescllschafl
Wie wir hoffentlich deutlich ausgedrückt
haben, stehen wir nicht so sehr auf das
Erklärungsmuster, das die sozialen Pro-
blem» einer an Leistung und Verwertbar-
keit orientierten "Risikogesellschaft" (der
Begnff ist zahllosen wissenschaftlichen
Untersuchungen zum Thema entlehnt)
zur Ursache des rassistischen Terrors
macht. Als die konkreten Probleme wer-
den benannt: Arbeitslosigkeit, Woh-
nungsnot, Angst vor Deklassierung, Zer-
störung der gewohnten sozialen Ord-
nung. Zerstörung der herkömmlichen
Bindung (in der Regel ist die deutsche
Dumpf-Familie damit gemeint) und dar-
aus resultierende Halt- und Orientie-
rungslosigkeit - so wollen es jedenfalls
die zeitgenössischen sczialwisscnschaft-
lichca Untersuchungen über rechtsex-
treme Motivation, mit denen auch die au-
tonome Linke liebäugelt.
Uns drängt sich da die Frage auf, aus
welchem Grund denn Wohnungsnot und
Arbcitsplatzvcrlust für eine gewaltbe-
reite. ausländerinnenfeindliche Haltung
prädestinieren sollen??? Die Argumenta-
tion, die "Armut und Deklassierung" zum
Ausgangspunkt rassistischer Gewalt
macht, ist doch gerade auch den Flücht-
lingen gegenüber reichlich zynisch und
verächtlich, sind sic doch um ein vielfa-
ches ärmer und deklassierter als diese pr-
ivilegierten Weißen in einem der reich-
sten Länder der Metropole.
60
Außerdem haben z.B. einige Länder des
Trikont sehr hohe Aufnahmequoten für
Flüchtlinge; in einigen afrikanischen
LUndem und /..B. in Pakistan ist das fast
die Hälfte der Bc«ilkcning. Wir haben
aus diesen Ländern nichts Vergleichbares
an Haß und Aggressionen gegen diese
gehört, ganz im Gegensatz zu den reich-
sten Ländern der Welt, in denen es mitt-
lerweile zum gängigen Erklärungsmustcr
für rassistisches Verhalten gehört, daß
Einwanderung von ausländischen Men-
schen eben Fremdenhaß erzeugt.
Nebenbei bemerkt gibt es auch einiges an
sozialwisscnschaftlichen Untersuchun-
gen. die sich zwar zum Ziel gesetzt ha-
ben. die rechte und rassistische Bevölke-
rung zu Opfern der unterstellten sozialen
Misere, Oricntierungs- und Haltlosigkeit
der modernen "Risikogescllschaft" zu
machen, die aber dann doch irritiert fest-
steilen müssen, daß "ökonomische Be-
drängnis" weder durch Arbeitslosigkeit
noch allgemein im Sinne von niedriger
Schichtzugehörigkeit für rechtsextremes
Verhalten prädestiriert. "Rcchtscxtrcmc
Jugendliche kommen eher aus dem mit-
tclständischen Milieu" ("Rcchtscxtrcmc
als Opfer der Risikogesellschaft". Rom-
mclspacher, Birgit, in: 1999 2/91 S. 78).
Bei den Republikaner-Wählerinnen ist
"WohnunES- und Hausbcsilz (...) sogar
etwas überrepräsentiert. Republikaner-
Sympathisanten sind mit ihrer wirtschaft-
lichen Lage zufriedener als SPD-Wähler
und Grüne“ (ebda.).
Die Haltlosigkeit der
"Armutsargumentation" zeigt sich auch
daran, daß wesentlich weniger Frauen als
Männer die Republikaner wählen, oder
ihnen gar beitreten. Frauen bilden be-
kanntlich die Hälfte der Bevölkerung, die
deutlich weniger Uber unabhängigen
Reichtum oder über eigenes Einkommen
verfügt. Außerdem haben Frauen und
Mädchen durch ihre Geschlechtszugehö-
rigkeit auf dem Arbeitsmarkt die schlech-
teren Chancen, was sich durch höhere
Arbeitslosigkeit, niedrigeren Verdienst,
miesere, weniger abwechslungsreiche
und weniger spainende Jobs und
schlechtere Aufstiegsmöglichkeiten im
Vergleich zu Männern ausdrückt. Trotz-
dem scheinen sie weniger anfällig für
rechtsextreme Positionen und Politik zu
sein: Sic sind in rechten Parteien unter
den Mitgliedern sowie unter den Sympa-
thisantlnncn deutlich untcrrcpräscnticrt
und nach ihrer politischen Orientierung
befragte Mädchen zeigen sich z.B. viel
seltener rechtsradikal oder rassistisch
bzw. sind in ihrer Haltung (sollte diese
rechtsgerichtet sein) weit weniger gefe-
stigt als männliche Jugendliche. Eine Er-
klärung dafür sehen wir darin, daß Mäd-
chen sich häufig an der Meinung und
Haltung der Jungs orientieren, mit denen
sic z.B. in einer Clique zusammen sind,
oder schlicht an der ihres aktuellen
Freundes. Diese Orientierung am Mann
(wie sic ja auch ( und was noch? Das ist
doch wohl der wesentliche Grund.' Anm.
d. Hg .] gesellschaftlich gewünscht wird)
macht sie weniger gefestigt in ihren poli-
tischen Urteilen, da diese ja nicht ihre ei-
genen sind. Das halten wir den Mädchen
keineswegs zugute, [ das ist ja sehr gene-
rös: "wir halten den Mädchen keines-
wegs zugute," daß sie unterdrückt wer-
den und deshalb eine weniger gefestigte
rassistische Einstellung haben. Anm. d.
Hg.] im Sinne, sie wären weniger rassi-
stisch und also die 'besseren" Kids. Wir
denken aber, daß die Problematik
"rassistische Einstellung“ bei Mädchen
(und auch bei Frauen) z.T. eine grund-
sätzlich andere ist, als bei
Jungs/Männem. Die Argumentation, die
Armut zur Ursache von Rassismus er-
klärt, blendet diese Tatsachen aus. Sie
ignoriert, daß das Verhalten von Män-
nern und Frauen am Punkt Rechtsextre-
mismus und rassistische Gewalt signifi-'
kant auseinanderfällt und versucht allein
für das Verhalten der rassistischen Män-
ner eine Erklärung zj finden, ohne diese
Einschränkung deutlich zu machen. Mit
der Nicht-Beachtung des unterschiedli-
chen Verhaltens von Frauen und Män-
nern wird einmal mehr der Mann zur
Norm für die Menschheit im allgemeinen
gemacht - Frauen kommen in dieser Be-
trachtung nicht vor.
Ähnlich verhält es sich mit dem anderen
"Risikobcrcich", der unterstellten Ver-
einzelung und Orientierungslosigkeit
durch die Zerstörung der sozialen, beson-
ders der familiären Beziehungen und
dem daraus angeblich resultierendem Be-
dürfnis nach vorgegebener alten Ord-
nung. Auch hier der männliche Blick auf
die Realität, wenn es um die Wertung der
Tatsachen und deren vermeintliche Kon-
sequenzen geht:
Wieso ist ein zweifellos fortschreitender
Jndividualisierungsprozcß in dieser Ge-
sellschaft allein negativ zu bewerten?
Wir sind uns sicher, daß die höhere Brü-
chigkeit der Familien von vielen Frauen
als mindestens widersprüchlich und eben
nicht eindeutig negativ erlebt wird. Im-
mer mehr Frauen kämpfen nicht mehr um
jeden Preis für den Erhalt “ihrer” Fami-
lie. wodurch sic deren Entwertung selbst
mit verursachen. Anders ist der über-
durchschnittlich hohe Anteil der Schei-
dungen, die von Frauen eingereicht wer-
den. nicht zu erklären. Diese Entwick-
lung ist doch auch ein Schritt zur Befrei-
ung aus patriarchalen Zwängen und wird
von vielen auch so erlebt.
Die Auflösung der Familie bedeutet ne-
ben dem Verlust eines traditionellen Ori-
entierungsmusters und der oft nur
scheinbaren sozialen Sicherheit eben ge-
rade für Frauen ein Mehr an Unabhängig-
keit und Selbstbestimmung über eigenes
Geld, Zeit, Wohnung. Freundschaften,
über den eigenen Körper und die eigene
Sexualität, eben eine Befreiung aus der
sozialen Kontrolle der patriarchalen Insti-
tution "Familie” und aus der ganz materi-
ellen Gewalt, die diese meistens bedeu-
tet Sehr viele Frauen wissen das zu
schätzen.
Das Gejammcre über den Verlust des so-
zialen Haltes "Familie” scheint eher die
männliche Beurteilung der Dinge zu sein,
der um sein Reproduktionsruhekissen,
den Bestand seiner emotionalen, sexuel-
len und sozialen Sicherheit und Versor-
gung und nicht zulct?t um seinen Macht-
und Herrschaftsbereich "Familie" bangt.
Birgit Rommelspachcr sieht darüber hin-
aus eine Parallele zwischen den her-
kömmlichen Erklärungen von rassisti-
scher und sexistischer Gewalt. Genauso
wie die sozialen und ökonomischen Pro-
bleme der/des Einzelnen zu den Ursa-
chen rassistischer Einstellung und Ge-
walt gemacht werden, müssen eben diese
Probleme von Männern auch als Ursache
für sexistische Gewalt gegen Frauen hcr-
halten. In der patriarchalen Argumentati-
onslogik wird der einzelne,
"bedauernswerte" Mann zum Opfer sei-
ner persönlichen Biographie und sozialen
Herkunft erklärt, der keinen anderen
Ausweg mehr hat, als Gewalt gegen
Frauen auszuüben; in der rassistischen
Argumentationslogik sind es die sozialen
Verhältnisse der "Risikogesellschaft", die
die weißen Rassistlnnen zu Täterinnen
machen. In beiden Fällen werden die Tä-
ter zu den eigentlichen Opfern, die Leid-
tragenden (Frauen bzw. Flüchtlinge)
[vielleicht gibt es ja euch welche, die ihr
"Leid" nicht (er)tragen, sondern sich
wehren?! Anm. d. Hg.] werden zu
"Opfern der Opfer" (es gibt überhaupt
nur noch Opfer), oder sie werden nicht
beachtet. Die Vorteile. Macht und Privi-
legien, die die Tätcrlnen (Männer bzw.
weiße Rassistlnnen) aus ihrem Verhalten
ziehen, werden dabei einfach ignoriert,
sie sind praktisch nicht existent. Eine
Einordnung der sexistischen bzw. rassi-
stischen Gewalt in cfce bestehenden ge-
sellschaftlichen Zusammenhänge in dem
Sinne, daß es sich bei dem rechten bzw.
patriarchalen und sexistischem Terror um
reale Machtverhältnissc handelt, findet
nicht statt.
Doch zurück zur rassistischen Bevölke-
rung:
Die Linke hat nun als Erklärung für die
rassistische Gewalt die
"Sündenbocktheorie" anzubictcn, nach
der die Durchschnittsbcvölkcrung schnell
bereit ist, in den Ausländerinnen die
"falschen Verantwortlichen" für die ei-
61
gene mißliche Loge zu sehen. Diese
Theorie unterstellt den Handlungen der
Rassistlnnen einen rationalen Kern, dem-
zufolge sic versuchen, jemanden für ihre
eigene Misere verantwortlich zu machen.
Aus dieser Annahme folgt dann auch der
Vorsatz und die Praxis, der Bevölkerung
mit rationalen Argjmcntcn klar zu ma-
chen. daß die in Wohncontainem und
Turnhallen zusammengepferchten
Flüchtlinge, die nach dazu mit einem
mehrjährigen Arbeitsverbot belegt sind,
ihnen gar keine Wohnungen und Ar-
beitsplätze wegnehmen können. Wir fra-
gen uns allerdings, warum die Argu-
mente mit denen die Linke ja nicht erst
seit gestern versuch«, die Bevölkerung zu
"überzeugen" und auf ihre Seite zu zie-
hen, so vollständig wirkungslos an ihr
abprallen. [Für welche linke Aktivität gilt
das eigentlich nicht? Anm. d Hg.] Noch
merkwürdiger ist es, daß dieses offen-
sichtliche Faktum von der Linken so
hartnäckig ignoriert wird.
Wir haben dafür nur eine Erklärung: Das
heiß umworbene ‘gemeine Volk" will
von unseren Argumenten einfach nichts
wissen - nicht etwa, weil sic falsch oder
unverständlich oder die Leute zu blöd
sind, um sic zu kopieren, sondern weil
sie andere Interessen haben. [Diese Aus-
sage ist theoretisch sicherlich korrekt .
Aber was folgt politisch-strategisch dar-
aus? Eine aufklärerische Strategie ist da-
mit < zurecht ) obsolet; eine repressive
Strategie ist (abgesehen von ihrer politi-
schen Fragwürdigkeit) allein schon we-
gen des - von dieser Interessenlage be-
dingten - militärisch/zahlenmäßigen
Kräfteverhältnisses aussichtslos. Solange,
nicht gesagt werden kann, was die poli-
tisch-praktische Alternative zu einer auf-
klärerischen Strategie ist, werden große
Teile der Linken immer wieder auf die
Sündenbock-Theorie zurückgreifen.
Denn auf deren (zwar falscher ) Grund-
lage ist es möglich, eine Handlungsstra-
tegie zu entwickeln und so - wenn auch
völlig folgenlos - das Bedürfnis, 'etwas'
gegen die moralische 7uimutung des ras-
sistischen Terrors tun zu wollen, zu be-
friedigen. Dieses Bedürfnis ist auf
Grundlage der richtigen Analyse bisher
nicht zu befriedigen . Anm. d. Hg.] Ras-
sismus ist keine Form fehlgclcilctcr Ag-
gressionen, die durch eine perfide insze-
nierte Medienkampagne die Auslände-
rinnen trifft, aber doch im Kem gut ist.
weil sic im Grunde aus der eigenen so-
zialen und ökonomischen Unterdrückung
resultiert.
Rassistisches Verhalten ist vielmehr eine
Möglichkeit, den nationalistischen Chau-
vinismus des deutschen Herrenmen-
schentums und dazu die eigene Macht als
Weiße in einem durch und durch auslän-
derfeindlich und rassistisch strukturier-
tem Land im Einklang und Pakt mit den
Herrschenden auszuleben. Rassistische
Gewalt bietet eine, durch staatliche Poli-
tik geförderte Möglichkeit, sich einer als
die "Anderen" definierten Gruppe über-
legen zu fühlen. Auf der Straße im siche-
ren Verbund mit der Masse und in der
Gewißheit und dem Bewußtsein im staat-
lichen und gesellschaftlichen Konsens zu
handeln, .die nationalistisch-chauvinisti-
sche Sau rauszulossan, dazu muß dcr/dic
deutsche Normal-Rassistln nicht unbe-
dingt arbeits- oder wohnungslos sein.
Die Bevölkerung hat sich aktiv auf die
Seite der Herrschenden gestellt, sie wol-
len wieder "wer” rein, wollen zu den
Siegerinnen gehören, ihr Selbstwertge-
fiihl ihre Identität ziehen sie aus ihrer
Macht gegenüber den "Anderen". Einer
solchen Haltung ist logisch-argumentativ
nicht beizukommen. Große Teile der Be-
völkerung haben die Interessen der Herr-
schenden zu ihren eigenen gemacht. Sic
verteidigen ihre Privilegien, ihren (selbst
armseligen) Wohlstand, ihr Auto oder
das Eigenheim mn Gartenzwerg. Sie
wollen, daß die Verhältnisse, und insbe-
sondere ihre Posilion darin, erhalten
bleiben und nicht nur das: in einer Ge-
sellschaft, die vollständig an Leistung
und Konsum ausgerichtet ist, ist die Gier
nach immer größerem Wohlstand und
immer größerer Macht unersättlich. Der
Anspruch nach "mehr” bemißt sich nicht
daran, an was es eiaemfr objektiv zu ei-
ner menschenwürdigen Existenz mangelt
oder etwa, was ökologisch gerade noch
vertretbar wäre, od:r was ohne die ge-
waltsame Einschränkung und Ausbeu-
tung anderer Menschen zu haben wäre,
sondern einfach daran, was man nicht hat
und noch haben könnte. Diese Einstel-
lung macht das egozentrische Begehren
zum Maßstab aller Dinge und des eige-
nen Verhaltens. Jeder erworbene Besitz
weckt wie selbstverständlich das subjek-
tive Bedürfnis nach mehr Besitz und dem
Empfinden darüber, was einem an Wohl-
stand und Konsum “zustcht" sind nach
oben keine Grenzen gesetzt. ( Ist das
nicht auch eine etwas sehr geradlinige
Analyse, die noch dazu von einer frag-
würdigen (s. FIATs Clube of Rom) Kon-
sumverzichts-Propaganda durchsetzt zu
sein scheint? Anm. d. Hg.] Die Bemü-
hungen um die Verwirklichung des eige-
nen Strebcns nach immer mehr Eigentum
und immer mehr Privilegien werden da-
bei rigoros auf Kosten anderer Menschen
und deren Bedürfnisse durchgesetzt.
Deshalb verteidigt die weiße Bevölke-
rung die herrschend: Ordnung, in der sie
ihre Privilegien und ihre Macht zu behal-
ten und auszubauen sucht, und sieht sich
in letzter Konsequenz als Richter über
Ixbcn und Tod auf.
Man spricht nicht laut bei Tisch
Zur herrschenden Ordnung gehören je-
doch nicht nur die aus der weißen Haut-
farbe und dem deutschen Paß abgeleite-
ten Macht- und Konsumansprüche; zu
dieser Ordnung gehören genauso die
Vorstellungen der deutschen Bevölke-
rung über "Sitte". "Ordnung",
"anständiges“ Verhalten und bürgerliche
Kultur, die zur Allgciuciiigültigkcit erho-
ben werden. Zu den gesellschaftsfähigen
(Vcrhaltens-)Normen. die qua weißer
Defmitionsmacht fcstgelegt und. wie wir
zeigen werden, mit Gewalt durchgesetzt
werden, gehören die "preußischen" Tu-
genden wie: Ordnung, Höflichkeit. Sau-
berkeit, Pünktlichkeit, rcibungs- und wi
dcrspnichsloses Funktionieren Anpas-
sungsfähigkeit und Duckmäusertum,
"Gesundheit" und natürlich Hcterosexua-
lität. Diese Normen bilden den Sozial-
charakter großer Teile der weißen Bevöl-
kerung. Wer ihnen nicht entsprechen
kann oder will, wird ausgegrenzt, geäch-
tet und verfolgt.
So wurde als eine dir wichtigsten Ursa-
chen für die Angriffe auf die ZAST in
Rostock/Lichtenhagen immer wieder die
Tatsache benannt, daß wochenlang
Flüchtlinge vor der ZAST kampieren
mußten, weil sie von dar Behörde keine
Unterkunft erhielten. Das Schlimmste,
was der zarten Lichtenhagcncr Volks-
seele in diesem Zusammenhang wider-
fahren konnte, war nicht der Fakt, daß
den Flüchtlingen wochenlang keine Un-
terkunft. Verpflegung und sanitären Ein-
richtungen zur Verfügung gestellt wur-
den, sondern daß diese eben aufgrund
des Fehlens jedweder Versorgung in die
Büsche scheißen mußten. Derartigen
Mißständen ("scheißende Asylanten“)
muß natürlich Einhalt geboten werden -
notfalls mit gewaltsamer Vertreibung
und eben nicht mit dem Aufstellen von
Toilcttcn-Hüuschen - mal ganz abgese-
hen davon, daß cs fiir die meisten deut-
schen Typen ganz und gar nicht unge-
wöhnlich ist. auf dem Weg von der Knei-
pe nach Hause in eine Ecke oder an den
Baum zu pissen - aber das ist selbstver-
ständlich eine andere Geschichte... In
diesem Zusammenhang stehen auch die
wenig beachteten Angriffe von Nazis auf
ein Heim mit behinderten Kindern in
Stendal, sowie auf einen Bus mit gehör-
losen Kindern irgendwo in Brandenburg.
Auch sie fallen aus cer Norm, in der Na-
zi-Zeit hieß es: der Norm des "gesunden
Volkskörpcrs". heraus. Wie die Flücht-
linge werden sie, ausgehend vom Stand-
punkt des gesunden, weißen Herrenmen-
schen, als "die Anderen" definiert, die als
Kranke oder Behinderte nicht dem ge-
sellschaftlichen Gesundheitsfetisch ent-
62
sprechen - damit sind sie /.um Abschuß
freigegeben.
Ein anderes Beispiel für die Prägung
deutscher Saubcrmänncr/frauen -Charak-
tere ist der Spremberger Nazi-Skin Sven
Grimm, der unlängst in einem Interview
im ARD (29.10.92) erklärte, daß er mit
seinen ''Kameraden" nachts Streife fährt,
um neben Ausländerinnen und Linken
"kriminelle Einbrecher" zu jagen. Da
trifft sich sein "Bedürfnis” nach Ruhe
und Ordnung mit dem z.B. der Lichtcn-
hagener oder Goldberger Bevölkerung,
die Angst vor den Diebstählen der
"Zigeuner“ haben. Die Konditionierung
des Sozialcharakters der deutschen Be-
völkerung auf eben die genannten Werte
und Normen ist in der Ex-DDR noch we-
sentlich ungebrochener als im westlichen
Teil der BRD. So kommt eine verglei-
chende Studie der Uni Potsdam zu dem
Ergebnis, daß die "klassischen Tugenden
wie Gehorsam, Ordnungsliebe, Höflich-
keit und Verantwortungsbewußtscin" bei
der Kindererziehung in der Ex-DDR we-
sentlich durchgängiger eingefordert wer-
den als im Westen, wo es mehr Eltern auf
Autonomie. Selbstverwirklichung. Origi-
nalität und persönlichen Erfolg ihrer
Kinder ankam (Sturzbecher, Dieter; Insti-
tut für Familien- und Kindheitsfor-
schung; Potsdam; 1990).
Wir nehmen an, daß im Westen linke
Bewegungen (angefangen von den
68em) sowie deren gesellschaftliche In-
tegration in vielerlei Hinsicht diese preu-
ßisch-tradilionalistijchc Prägung der
Grundwerte aufgebrochen haben - eine
Entwicklung, die in den Städten und der
Umgebung linker Zentren natürlich fort-
geschrittener ist als auf dem Land bzw.
dort, wo linke emanzipatorische Bewe-
gungen nur geringen Einfluß hat-
ten/haben.
Kinderläden und breit diskutierte Kon-
zepte der antiautoritären Erziehung,
Frauenbewegung, Lesben- und Schwu-
lenbewegung. Alternative und Grüne und
eine Menge anderer cmanzipatorischcr
Ansätze sind zuerst in linken Zusammen-
hängen und Lebensformen ausprobiert
worden, prägten jedoch zunehmend auch
andere gesellschaftliche Bereiche und
wurden allmählich zum verbreiteten All-
gemeingut der westlichen Gesellschaft.
Einerseits konnten durch die Verallge-
meinerung dieser Ansätze viele vormals
antistaatlichc Linke wieder gesellschaft-
lich integriert werden andeierseits ließen
sic sich zum guten Teil kapitalistisch ver-
werten: Selbständiges Denken und Ar-
beiten. persönliches Engagement Eigen-
initiative und (Selbst-) Organisiemng,
Unabhängigkeit (z.B. von familiären
Bindungen) sind nur einige Schlagworte,
die ein karriereorientiertes Yuppileben
heute kennzeichnen.
Einen vergleichbaren Umbruch des über-
kommenen Sozialcharakters hat cs in der
DDR einfach nicht gegeben, weshalb
sich die gesellschaftlichen Wertstruktu-
ren dort wesentlich besser halten konn-
ten. Ungeachtet dessen, daß Verhaltens-
muster wie: Autorititshörigkeit. fehlende
Zivilcourage, Angepaßthcit und Unter-
ordnung, ebenso wie die genannten bür-
gerlichen Tugenden den deutschen Fa-
schismus noch im völligen Kriegschaos
bis zur Perfektion am Funktionieren ge-
halten haben, verstand die SED-Rcgie-
rung es, sich gerade diese zunutze zu
machen. (Was nicht heißt, daß nicht auch
im Westen, v.a. in Kleinstädten und länd-
lichen Regionen der dumpfdeutsche
Muff vorherrscht.)
Während der kapitalistische Westen eine
immer größere Bereitschaft zur Flexibi-
lisierung von jeder/m einzelnen ver-
langte, funktionierte der so geprägte So-
zialcharakter in der DDR systemstabili-
sicrcnd - die SED war an einem Auf-
bruch dessen nicht interessiert. Sie orien-
tierte sich, was Scz.ialvcrhaltcn, Wert-
maßstäbe im Umgang miteinander und
Kultur anging, an den althergebrachten
(bewährten?) bürgerlichen Werten und
Idealen. Die/der Arbeiterin sollte die pro-
letarischen Umgangsformen ablegen und
sich "zivilisiert”, also den bürgerlichen
Normen entsprechend, verhalten. Ebenso
wie im Westen blühte in den 50er Jahren
in der DDR der Verkauf sog. "Benimm-
Bücher" ("Gute« Benehmen von A-Z";
Smolka; 1957), die die Regeln des alltäg-
lichen zwischenmenschlichen Umgangs
festschrieben. Was nach der Beurteilung
der Rcalsozialistlnnen im kapitalistischen
Westen "hohles Formengepräge" war,
das allein der Verschleierung sozialer
Konflikte und Klassenwidersprüche
diene, wurde im sozialistischen Osten als
Ausdruck "wirklicher gegenseitiger Ach-
tung und Rücksichtnahme unter Gleich-
gestellten" und als Beweis für sozialisti-
sche Kulturfähigkeit emporgehoben
("Guten Tag. Herr von Knigge";
Schweickcrt. Hold; 1957). Diese realso-
zialistische Verklärung deutschen Spie-
ßertums und bürgerlicher Vcrhaltcnsmu-
stcr wurde praktisch bis zur "Wende" '89
durch nichts, außer einer sehr kleinen
Subkultur in manchen Städten, in Frage
gestellt.
Schnitt
Su. wenn ilir’s bis hierher geschafft habt
meldet sich mal die Endfassungs- und
Überarbeitungsabteilung zu Wort. Wir
kriegen immer alle Texte auf den Tisch,
die unsere Redakteurinnen nicht ge-
schafft haben, vollständig bis zum Abga-
betermin fcrtigzustcllcn. Wir sollen die
Beiträge dann in ein; druckfähige Form
bringen - ihr könnt euch vorstellen, was
das für ’n mieser Job ist: Fehler suchen,
unvollständige Sätze, widersprüchliche
Passagen ausbügcln, manchmal werden
auch Vorwörter gewünscht - und das al-
les unter Zeitdruck. Tja, und jetzt ist uns
5 Minuten vor Schluß auch noch dieser
Beitrag auf den Tisch geflattert - ohne
jeden Schluß wie ihr seht. Da können wir
jetzt auch irgendwie nix mehr dran än-
dern. Es bleibt, wie's ist - vielleicht habt
ihr ja Bock, den Beitrag weiterzuschrei-
ben. zu kritisieren otfcr zu den Problema-
tiken was zu sagen, die hier erstmal of-
fensichtlich ausgeklammert wurden (z.B.
Antisemitismus, Frauen und Rcchtsradi-
kalismus. oder so).
Ansonsten war's das erstmal von uns -
bis zum nächsten Mal.
eure Endfassungsabtei lung
Für ungewöhnliche Maßnahmen
in ungewöhnlichen Situationen
Und Tschüss!
Anm. d. Hg.
Die im Text erwähnten Fotos konnten
wir leider nicht reproduzieren.
I7C
/«'ilnnij fur den Rot
KRAUTS TO HELL
PART 6:
* KUUURAUSMUS: Omok/Miiche.
Raubmus
* ZUM KONKRET KONGRESS: Bettina
Höttje entweiht den „Rajie'-Dijkuulef
Türcke
* CHMA- AVANT GARDE- MALEREI IN
BERLIN
a« GÜNTHER JACOB kh-ldentltit und
Nationale Identität
ETWAS BESSERES AU DIE NATION:
üU*uu*o«ut>e*u«gt, Ihesen, Sire« zur
FNl/.DDR'/Zonen-Tour der WohBahrU-
auuehüne
ab sofort Im linken Buchhandel
od« direkt batclkn bA IT’«, c/o Bucht und-
tun* Im Scturumvicnrt SchuItobUtt SS. 203S7
lUL Einzdpreb: 6 1>M * ?o*to <J,SO UM), ABOS- 4
Nummern: ZS,- DM. V Schmidt. Sondciknnto,
Klo- Nt 7 139WV2UO. P<«ilro HM (BIZ. 200 100 2»)
63
Frauen aus verschiedenen politischen
Bereichen
Zur Politik der Frauen
aus dem antirassistischen
Zentrum und grundsätzli-
che Überlegungen zur
antirassistischen Politik
wir sind trauen, die aus verschiedenen
politischen bereichen kommen
(antiimperialismus, antirassismus. antifa,
bevölkerungspolitik) und zum größten
teil seit mitte der achtziger jahre daran
arbeiten.
wir sind sowohl mit frauen als auch mit
männern organisiert.
[... Der Text der Genossinnen hat eine
Vergewaltigung im - in besetzten Räu-
men der Technischen Universität Berlin
1991/92 eingerichteten - Antirassisti-
schen Zentrum (ARZ) zum Anlaß. Die
Vergewaltigung wurde zunächst als
"sexistischer Angriff' verharmlost. Die
Verfasserinnen kritisieren aus diesem
Anlaß das "zurückdrehen von fraucn-
kämpfen": "bereits die frauenbewegung
seit 68 setzte sich mit der paroic 'das pri-
vate ist politisch' dafür ein. patriarchale
gewaltvcriiälUiisse jenseits von
'bcfindlichkciten' zu definieren und in ei-
nen gesellschaftlichen kontext zu stellen,
mittlerweile sind auscinandersetzungen
um sexistische Strukturen innerhalb der
linksradikalcn gruppen/stnikturen fast
vollständig in die 'privaten bereiche' ab-
gedrängt worden, eine offene auseinan
dersetzung um sexistische gc-
walt/vcrgcwaltigung wird wieder tabui-
siert." Wir teilen diese Kritik. Wir druk-
ken den entsprechenden Abschnitt des
Textes der Genossinnen hier dennoch
nicht ab, da dies nicht das Thema dieses
Kapitels der Broschüre ist und wir zum
Thema Patriarchat im nächsten Kapitel
verschiedene Texte abdrucken, die sich
direkt mit der Position der RAF dazu
auseinandersetzen. Wir dokumentieren
hier stattdessen die Abschnitte des Papie-
rcs, die sich mit dem Verhältnis von Kri-
tik und Selbstkritik sowie der Gefahr
auseinandersetzen, daß über eine sozi-
alarbciterlnnenische Praxis die revolutio-
näre politische Orientierung verloren ge-
hen kann. Die Überlegungen der Genos-
sinnen zur Sozialarbeit können allerdings
nicht ohne weiteres auf unser Thema
übertragen werden. Denn sie kritisieren
eine Sichtweise, die Fllichtlingsmänncr
nur als Opfer/Objekte (von Rassismus
und Kapitalismus) und nicht auch als
sexistische Täter-Subjekte sieht. Wir kri-
tisieren in diesem Kapitel eine Sicht-
weise, die weiße Deklassierte nur als Op-
fer des Kapitalismus und nicht auch als
rassistische Täterinnen erkennt. Weitere
Diskussionen über Gemeinsamkeiten und
Unterschiede der Situationen sind also
erforderlich. Entsprechendes gilt für den
Sexismus weißer proletarischer Männer.
Wir verweisen dazu u.a. auf die nächsten
beiden Kapitel der Broschüre. ...)
uns fällt es schwer, die konkrete kritik an
euch, losgelöst vom ARZ und grossen
(eilen der antirassistischen politik 'seit
hoyerswerda“ zu formulieren, einige
grundsätzliche kritikpunkte sind in dem
papier "kritik und Überlegungen zur auto-
nomen flüchtlingspolitik und zur tu-be-
setzung' in der interim nr. 1 68 veröffent-
licht worden, auf dieses papier können
wir uns positiv beziehen, einige punkte
unserer kritik wollen wir jedoch in kurz-
fassung aufgreifen:
— {... Wir lassen die ersten beiden Punkte
aus thematischen und Platzgründen aus.
argumente wie "zeitdruck",
"überrödelei". "politische notwendigkei-
ten" um genauso weiterzu machen wie
bisher.
— autonome politik als "lückenfüllcr” für
funktionen, die kirchcn. parteien, huma-
nistische kräftc nicht mehr besetzen, als
autonome sozialarbeiterlnnen und lager-
verwalterlnnen.
in diesem Zusammenhang wollen wir mal
darstcllen, dass sich unsere kritik nicht
an gruppen in der form richtet, die jahre-
lang kontinuierliche arbeit machen, ver-
schiedene ansätzc finden wir als ebene
von politik wichtig und notwendig, jeder
politische ansatz sollte allerdings ge-
trennt diskutiert werden, anhand von po-
litischen zielen unJ anhand einer per-
spektiv- bzw. strategie-diskussion. bera-
tung, sozialarbcit und praktische hilfe
kann durchaus eine ebene autonomer po-
litik sein, allerdings sollte die bc-
schränktheit und Systemkonformität darin
immer wieder thematisiert und in den ge-
sellschaftlichen kontext gestellt werden,
ansonsten werden verschiedene erfah-
rungen und diskussions- oder praxisan-
sätzc (wie z.b. eine umfassendere diskus-
sion um Internationalismus oder eine dc-
batte um militante Organisierung...) raus-
gekickt. es entsteht eine arbeitsteilung
bzw. ein eingeschränkter blickwinkcl von
politik.
— funktionalisierung/objektivierung der
flüchtlingc. vcrcinnahmung.
— flüchtlinge werden vorwiegend als Op-
fer betrachtet und somit als hilfsbedürf-
tig. sie sind allerdings keine homogene
gruppe (siche jugendbanden, wo cs ein
gespaltenes Verhältnis der autonomen zu
gibt).
— "opfer können nicht gleichzeitig täter
sein” - eure logik.
— die eigene idertität wird zurückge-
nommen oder rausgelassen, um eine Zu-
sammenarbeit bzw. 'breite" zu erreichen
und um konflikte zu umgehen.
- darüber entsteht da> gcfühl. ganz wich-
tiges zu tun, rüdclu zu müssen und dabei
die eigene perspektivlosigkcit (siehe
zahlreiche diskussionen nach hoyers-
werda) zu verdrängen.
- flüchtlingspolitik wird hauptsächlich
auf bestimmte ereignisse zugespitzt ge-
sehen. wie abschicbungcn. angriffe...
weder die fluchtursachcn noch die ver-
antwortlichen werden thematisiert, ein
internationalistischer bezug wird nicht
mehr hergestellt...
- das "angebot" der quotcnlösung (die
flüchtlinge der tu auf die berliner quote
anzurechnen, was bedeutet, das andere in
die ex-ddr müssen) wurde nicht offen
thematisiert und gemeinsam diskutiert.
- eine auseinandersetzung um verschie-
dene ansätze und erfahrungen von flücht-
lingsgruppen, um ziele und forderungen,
wie z.b. offene grenzen, sind kaum noch
in derdiskussion.
- mangelnde Vermittlung • von eigenen
ansätzen, inhalten und polilikvcrständnis
(eigene motivation von politik).
diese und ähnliche kritikpunkt sind so-
wohl an euch als auch an anderen formu-
liert worden - bisher mit sehr wenig cr-
gebnis. stattdessen kam von euch sehr
schnell die forderung nach durchsctzung
von frauenräumen im Zentrum, wir ken-
nen aus eigener erfahrungen, daß fraucn-
räume notwendig sein können, wissen
aber auch, dass Strukturen nicht losgelöst
vom inhalt entstehen können, solange die
eigenen Strukturen und fehler nicht ange-
gangen werden (auch innerhalb der frau-
enräume), gibt es auch keine garantie, die
fehler nicht der reihe nach zu wiederho-
len.
[...]
insgesamt schätzen wir euer verhalten als
ein totales festhallen an eurem projekt
ein, daß einen zentralen punkt der anti-
rassistischen politik darstcllen soll, für
uns ist das ein realitätsverlust und eine
grobe Selbstüberschätzung, jede grund-
sätzliche kritik an euch und eurer politik
wird mit dem begriff der
"cntsolidarisicrung" (von euch und auch
von den flüchtlingen!) abgeblockt, bishin
zu dci bczciclmuug "aasgeier". das steht
dann unter dem altbekannten motto: "wer
nicht für uns ist, ist gegen uns." einerseits
schreibt ihr, ihr fühlt euch isoliert von
der autonomen linken, andererseits wird
cs als ein ’schicksalsschlag" erklärt, los-
gelöst von der massiven kritik und den
bedenken vieler vor der bcsclzung. wir
wollen damit nicht ein verhalten der
sccne legitimieren, "stammtischmäßig"
über gerade laufende initiativen zu het-
zen und in dem eigenen Zusammenhang
darüber abzuziehen, ohne dass kritik of-
fen und konstruktiv formuliert wird, das
64
kann aber eure erfabung nicht sein, eine -- wie können wir eine Zusammenarbeit
"interne" auscinandcrsctzung hat unserer mit anderen erreichen, wo wir uns als po-
mcinung nach nicht viel gebracht, des- litischcs Subjekt transparent machen und
halb machen wir die kritikpunkte ttffent- die eigenen ansätze vermitteln, ohne wi-
lich. viele punkte beziehen sich natürlich dersprüche, z.b. patriarchat. zu verschlei-
nicht nur auf euch, sondern auf alle zu- ern?
sammenhitnge in der linken. -- welche möglichkeiten gibt es, aus ei-
wir haben auch nicht vor. mit moralisch nem eigenen Verhältnis heraus, als frau-
erhobenen Zeigefinger autonome ansätze en. selbstorganisierungsiendenzen zu un-
und vermeintliche klarheiten in alter ma- terstützen? unter welchen voraussetzun-
nier festzuklopfen, allerdings gehen wir gen?
davon aus, daß cs eine gcschichte gibt. - begriffe wie intcmationalis-
auf die wir uns positiv beziehen können, mus/solidarität sind nicht mehr in der
und daß es insgesamt darum geht, diese diskussion. wie können wir uns wieder
geschichte gemeinsam aufzuarbeiten. mehr daran auseinandersetzen, um nicht
an den punkten rassismus/sexismus Symptombekämpfung in den metropolen
könnten es im moirent folgende fragen zu betreiben und das eigentliche ausmaß
oder diskussionsstränge sein: der fiüchtlingspolitik aus den äugen zu
-- eine bilanz der antirassistischen initia- verlieren?
tiven der letzten zeit... was hat z.b. das wir denken, daß cs verschiedene ebenen
ARZ für konkrete Verbesserungen ge- gibt, hintergründe aufzuzcigcn, verant-
bracht? wo sind die knackpunkte wie z.b. wörtliche zu benennen, die zusammen-
die quotendiskussion.. hänge zu uns herauszuarbeiten und ge-
- wäre ein langsames rausgehen der un- mcinsamc ziele herauszufinden,
«erstützerinnen möglich, indem sie zu- f... den Rest haben wir aus thematischen,
nächst einmal nur organisatorisches inhaltlichen und Platzgründen weggelas-
übernehmen, un sich tendenziell ganz scn. ...|
rauszuziehen? (damit meinen wir nicht,
das projekt nicht mehr zu unterstützen,
weil fehler gelaufen sind, sondern evtl. " pr». r t p. Kt thn
andere formen der Zusammenarbeit zu
finden).
welche antiimperialisti-
schen/anti rassistischen initiativen wären ■ rMums.gtfr.tnufa
/./.. denkbar? wo kann unter hintergrund • w»»crr-«.irat«r
einer gesellschaftliche analysc druck auf
verantwortliche ausgeübt werden, ohne
daß es beliebig wird, ergebnislos bleibt?
in diesem Zusammenhang wäre auch eine
genauere diskussion über bestimmung
der nächsten schritte notwendig auf dem
hintergrund von gemachten erfahrungen
in der Organisierung zu diesem thema.
dabei geht es um bür.dnisse genauso wie
um militante Organisierungsansätze (z.b.
die rz-kampagne). an welchen punkten
können sich dezentrale ansätze und ver-
schiedene ebenen antirassisiischer politik
ergänzen ohne inhaltlich zu verwässern?
(z-b. zentrale punkte in den Stadtteilen,
wo flüchtlinge hingehen können, ver-
schiedene bündnissc, militante initiati-
ven, demos usw...).
•• wie gehen wir einerseits mit rechtsra-
dikalen/rassistischcn Strukturen um. an-
dererseits mit dem Wegfall der sozialen
puffer (humanistische kräfte, kirchen, al.
soziales netz)?
-- wie können wir eine politik verbinden,
die sowohl die einzelnen flüchtlinge un-
terstützt, gleichzeitig aber auch offensiv
für uns selbst ist?
Antifaschistisches
Das Antifaschistische
Infoblatt erscheint als
bundesweite Zeitung
alle 2-3 Monate.
Dio Schwerpunkte sind
* Entwicklungen und Aktivitäten
der Neonazis in der BRD und
international
* Entlarvung und Veröffent-
lichung ihrer FChrerlnnen
* Neue Rechte und Braunzone
* Antifaschistische Aktivitäten in
der BRD und international
* Darstellung von Diskussionen
über Möglichkeiten von
Antifaarbeit
* Der Ruck nacn Rechts und
die Rolle der Biedermänner in
der Regierung
* Rassismus, Sexismus und
Nationalismus in der Gesell-
schaft
* Wirtschaftliche und soziale
Entwicklungen
* Progressive Entwicklungen
und Aktivitäten
Das Antifa-Info ist eine
Grundlage für antifaschistische
Aktivitäten von Einzelpersonen,
Gruppen oder Organisationen.
Es ist eine nichtkommerzielle
Zeitung, die von aktiven Antifa-
schistinnen im Eigenverlag
herausgegeben wird.
Das Antifa-Info Ist für 4,- DM
+ 2,- DM Porto zu erhalten.
Ein Abo über fünf Ausgaben
kostet 30,- DM.
A dio zeilung (ür
& Information übo
1 29a- verfahren
und andere poli-
tisch« prozeseo
Kontaktadresse
— wanim tauchen ziele wie "offene gren-
zen" nicht mehr in der diskussion auf?
haben sich Vorstellungen und Utopien
verändert?
fo, c/o L.Meyer
^eisenaustr. 2a
fi.10961 Berlin
dock wort; 129«
Wibniitr*&« 24
6600 mainx
65
IV. Der gesellschaftliche Antagonismus zwischen Män-
nern und Frauen I: Feministische Kritiken an der alten
und neuen Politik
"(...) in diesem sysicm (wird) alles zur wäre (...Jauch das Verhältnis zur körperlichkcit. wobei natürlich die trauen am
meisten dazu gezwungen werden, ihren körper als wäre zur schau zu tragen. (...).”
RAF, Weiterstadt-Erklärung
Die “Annahme eines linearen Zusammenhangs in dem Sinne, daß 'der Kapitalismus' sexuellen Bedürfnissen
durchgängig seine Warenform überstülpe'', läßt sich aber nicht begründen. Es läßt sich zwar “nicht leugnen, daß
bestimmte Formen der Sexualität von Frauen und Männern durchaus Warencharakter besitzen - Prostitution, si-
cherlich auch manche 'Versorgungsehen’ - (...)“. Aber auch in diesen Fällen stellt sich die Frage: was daran "kapi-
talistischer Vergesellschaftung geschuldet ist und was nicht? Prostitution bezeichnet ein Gewerbe, das älter ist als
der Kapitalismus, 'Waren' wurden hier schon immer ausgetauscht. Was ist dann das spezifisch 'kapitalistische' an
der Prostitution?* Mit diesem Beispiel soll lediglich verdeutlicht werden, wie kompliziert, vermutlich aber auch
aussagekräftiger eine Gcscllschaftsanalyse wird, wenn sie monokausale fcrklärungsansatzc ‘ (wie alles sei Aus-
druck der Warenstruktur) ''aufgibt und sich der Differenziertheit sozialer Phänomene“ - triple oppression - "stellt.
Ursula Beer, Geschlecht, Struktur, Geschichte, Frankfurt am Main / New York, 1990, 103 f,
1 . Schweizer Fcministinncn. Ein Stein in der Sonne (1990)
2. Frauen aus der radikal, Stellungnahme zu "Ein Stein in der Sonne"
3. Sterin. Die inhaltliche Debatte weiterentwickeln (Okt. 1992)
4. Frauen/Lesben aus Gießen, Eine feministische Kritik (Feb. 1993)
- Dokumentation: Die RAF - eine nachholende Resistance? Die BRD - eine gefestigte Demokratie ? Auszüge aus dem
KONKRET-Interview der Celler Gefangenen (6/1992) und dem Odranoel- Beitrag von Lutz Täufer
5. deutsche Lesben aus dem linksradikalen Frauen-/Lcsbcn-Spcktrum, Stellungnahme zur "Feministischen Kritik" (Mai
1993)
* Wir wollen in diesem Zusammenhang daran erinnern, daß für den Kapitalismus nicht die Existenz von Warenverhältnis-
sen charakteristisch ist, sondern daß in ihm auch die Arbeitskraft zur Ware wird. Dies verlangt für die Analyse einen Ter-
rainwechsel von den Awwusc/ibeziehungcn zu den /VorfuÄ/wtsverhältnissen.
66
Feministinnen aus der Schweiz
Ein Stein in der Sonne
Feminismus ist der Klassenkampf von
ganz unten gegen das ganze System
Liebe Eva und Gisel,
l ) Wir sagen Nein zum scheinbar so
basisdemokratischen "alle gleichzeitig
voran", weil es immer auf die selbstmör-
derische Illusion hinausläuft, der Sieg
über die ausgezeichnet vorbereiteten,
feindlichen Kräfte könne ein spontaner
Akt nicht-vorbcrcitctcr Massen sein. Wir
halten daran fest, daß ein Teil der Klasse
(eine “Avant-Garde"!) den Kampf um die
Macht in nicht-revolutionärer Periode
vorbereiten muß, und daß der bewaffnete
Kampf zugleich die wirksamste Form der
politischen Propaganda in nicht-revolu-
tionärer Periode ist. All diese Tauachen
werden nicht dadurch außer Kraft ge-
setzt. daß das der Situation angemessene,
technologische Niveau heute in der
Schweiz tief ist. Entscheidend ist das
bewußte und gezielte Vorantreiben.
Nachdem Ihr nun aber so klar und offen
zum Feminismus Stellung genommen
habt, wollen wir als Feministinnen eben-
so klar und offen Stellung nehmen. Wir
müssen dazu etwas ausholcn.
Das imperialistische Patriarchat
und seine aktuellen Projekte
Das System - wir nennen es imperiali-
stisches Patriarchat - beruht auf der
Ausbeutung und Gewalt gegen Frauen
weltweit. Alle einzelnen Projekte sind
Angriffe gegen Frauen, die neben und
in geringerem Maß auch Männer tref-
fen.
“im kampf der fraucn wird ein zentraler
nerv des herrschenden Systems freige-
legt". schreibt Ihr. Wir meinen, da unter-
treibt Ihr maßlos: Frauen leisten konser-
vativ geschätzt (durch die UNO) welt-
weit 2/3 der gesellschaftlichen Arbeit
und bekommen dafür 1/10 der direkten
oder indirekten Lohncinkommcn. Dabei
ist gesellschaftlich notwendige Arbeit
wie Schwangerschaft, Geburt. Stillen,
Verhütung, Abtreibung, emotionale und
sexuelle Dienste noch nicht einmal mit-
gcrcchnct. Frauenarbeit ist der Nerv des
Systems!
Ganz folgerichtig zielen die aktuellen
Projekte des Kapitals gegen die Frauen.
Diese sollen noch mehr arbeiten für noch
weniger Einkommen.
[... cs folgt eine Auflistung von damals
"aktuellen Projekten" ...)
Das Proletariat als Zwischenklasse
Das Kapital und sein Staat als oberste
Organisatoren des Systems können Ih-
re Projekte nur durchziehen, weil die
durch das Kapital ausgebeuteten Pro-
letaricrmänncr zugleich als ausbeu-
tende Klasse gegen die Frauen funk-
tionieren: Die Frauen würden weltweit
niemals zwei Drittel der weltweiten
Arbeit leisten und sich mit einem
Zehntel des Einkommens begnügen,
wäre nicht die sexistische und sexisti-
sch-rassistische Gewalt durch jeden
Mann gegenwärtig - auch durch jeden
Proletaricrmann. Wir rechnen deshalb
die Klasse der Proletariermänner zu
den Zwischenklassen.(l)
Frauen würden sich niemals unentlohnt
in Haushalt, Kinderbetreuung und Dien-
sten an den Männern abrackem, sie wür-
den niemals all die unentlohntcn und
zum Teil ideologisch unsichtbar gemach-
ten Dienste an Männern überall in der
Gesellschaft leisten, müßte die Handvoll
Untcmehmerbossc selbst dis Kontrolle
garantieren. Der Handel mit Frauen aus
Afrika. Asien, Süd- und Mittelamerika
würde niemals rentieren, würde nur die
Handvoll Unternehmerbosse Prostitu-
ierte. GogD-Tänzcrinncn oder Ehefrauen
kaufen, Sexindustrie und Werbung wür-
den niemals rentieren, würde nur die
Handvoll Untemehmerbosse nach Zer-
stückelung. Folter und Mord an Frauen
lechzen. Tatsächliche Mißhandlung.
Vergewaltigung und Mord an Frauen wä-
ren niemals so massenhaft verbreitet,
käme nur die Handvoll Untemehmerbos-
sc als Täter in Frage.
Die Männer - auch die große Masse der
ausgebeuteten Männer - haben die Verfü-
gungsgewalt über die Frauen und deren
Kinder durch alle Epochen des Patriar-
chats hindurch bis heute erfolgreich ver-
teidigt. Erst diese Massenhaftigkeit der
Gewalt garantiert die für die Ausbeutung
notwendig? Lückenlosigkeit. Verschie-
dene Feministinnen nennen das. was die
Proletariermänner aus den Frauen aus-
beuten und konsumieren "Arbeitsrente“.
Diese senkt den Wert der Lohnarbeits-
kraft und steigert folglich den Mehrwert.
Frauen erfahren alltäglich, daß alle
Männer objektive Klasseninteressen
gegen die Fraucn zu verteidigen haben
und mit allen Mitteln verteidigen. Die
feministische Klassenanalyse geht von
diesem gesellschaftlichen Standort der
ausgebeuteten Frauen aus.
Was von diesem Standort sofort sichtbar
ist, bleibt vom Standort der Männer un-
sichtbar. Engels hat unfreiwillig einen
Katalog der Gewalt- und Ausbeutungs-
formen geliefert, die in (seiner Ansicht
nach) "klassenlosen Gesellschaften" Vor-
kommen: Frauenraub und - lausch
("bloße Methoden, sich Fraucn zu ver-
schaffen"). sexuelle Monopolrechte von
Männern über Frauen. 'Rechte der Män-
ner xuf gelegentliche Untreue, grausame
Strafen auf Untreue der Frauen",
"Belastung der Weiber mit übermäßiger
Arbeit", Eigentum des Mannes an den
Produktionsmitteln ("Brauch der damali-
gen Gesellschaft") sowie Ausschluß der
Frauan von Stammcscigentum und Mit-
sprachc in Stammcsangclcgcnhcitcn (2).
All das gilt den Marxistinnen bis heute
als zwar moralisch verwerflich, aber
nicht als klasscnspaltcnd. Vergewaltiger
und Vergewaltigte, Ausbeuter und Aus-
gebeutete sitzen demnach im gleichen
proletarischen Boot! Moral ist keine aus-
reichende Grundlage für einen revolutio-
nären Befreiungskampf.
Mit dem Aufschwung der neuen Frauen-
bewegung, und weil sie auf die Frauen
als Aktivistinnenbasis angewiesen sind,
haben sich einige marxistische Gruppen
vordergründig angepaßt, ohne ihre Klas-
senanalyse und Politik zu ändern. In die-
sem Punkt können wir Eure Kritik voll
unterschreiben: "und es ist auch trüge-
risch zu glauben, daß die linke hier da-
durch revolutionär wird, daß nun
'feministische ansätze’ verbal in den ver-
schiedenen linken Zusammenhängen prä-
sent sind. ”
Indem die unverändert marxistische Pro-
paganda vom Proletariat als unterste
Klasse durch Begriffe wie "Patriarchat"
oder "antipatriarchalcr Kämpf' ergänzt
wird, ändert sich tatsächlich nichts, selbst
bei zusätzlicher cntglasung eines Scxla-
dens alle paar Monate. Vielmehr entste-
hen Scheinharmonien und scheinbare
Einverständnisse zwischen Marxismus
und Feminismus. Diese blockieren die
Herausbildung eigenständiger, marxisti-
scher oder feministischer Identitäten und
somit den Radikalisicnngprozeß insge-
samt
Wenn - wie Marxistinnen behaupten -
zwischen ausgebeuteten Fraucn und
Männern keine Klassenspaltung besteht,
dann wäre autonome Bewegung und Or-
ganisierung von Frauen eine willkürliche
Spaltung des objektiv einheitlichen revo-
lutionären Subjekts. Das heißt: Autono-
mer Feminismus wäre kontrarevolutio-
när. Wenn wir auch die marxistische
Klassenanaly.se und diese ihre Konse-
quenzen ablchncn, so schätzen wir doch
Eure Haltung: Ihr sprecht die unsägliche
Konsequenz marxistischer Klassenanaly-
se fast offen
aus.
Frauenkampf - und Feminismus
- die politische Identität
Überall auf der Welt leisten Frauen
Widerstand gegen charakteristische
67
Merkmale weiblicher Existenz im Pa-
triarchat: Armut und Elend, Obdach-
losigkeit Überausbeutung der Ar-
beitskraft, Zwangscingriffc in die
Fruchtbarkeit, Verstümmelung der
Sexualität, Kommerzialisierung des
Körpers, Männergewalt und Staats-
gewalt Sie befinden sich dabei nicht
auf einer Vorstufe des proletarischen
Kampfes, sondern auf dem extremen
Gegenpol zu Kapital und Staat: ganz
unten, Feministischer Kampf ist Klas-
senkampf von ganz unten gegen das
gesamte System.
Frauen kämpfen in Afrika gegen die Fob
tcr von Clitorisbcschncidung und Infibu-
lation, in Indien gegen Brautmorde und
Witwenveibrennungen, überall auf der
Welt gegen Mißhandlungen, Vergewalti-
gung und Inzest, gegen die Zerstörung
der Felder durch Agrogifte, gegen Be-
tricbsschlicßungcn. gegen Preiserhöhun-
gen usw. Überall auf der Welt richten
sich Frauenkämpfe gegen Kapital und
Staat als oberste Organisatoren des Sy-
stems wie auch gegen die Zwischenklas-
sen der Kleinbiirgermänncr. der Prolcta-
riermänner und der teilweise
"hausfrauisierten" Männer in ihrer aus-
beutenden Funktion. Überall auf der
Welt solidarischeren sich Frauen in ihren
Kämpfen mit den Befreiungskämpfen der
Männer in ihrer aus$ebeutctcn Funktion.
“Frau-Sein ist kein Programm", hat Ing-
rid Strobl einmal geschrieben.
“Frauenkampf’ ist such keins, fügen wir
bei. Solange wir uns allein aus individu-
eller oder Szenen-Herkunft ("von uns
ausgehend“), partiellen Forderungen und
nicht näher bestimmtem Revolutionsziel
definieren, können all unsere Kämpfe
durch klassenfremde Interessen instru-
mentalisiert werden. Frauenbefreiung
wird dann illusorisch. Als Frauen, die
für eine umfassende Befreiung kämp-
fen, brauchen wir ein kollektives Be-
wußtsein über das gesellschaftliche
Wohin und Wie unseres Kampfes, Wir
müssen:
— von ganz unten bis ganz oben durch-
schauen wie das System konstruiert ist
und wie verschiedenen Ebenen zu-
sammenspielen,
— die Aufgaben und den Charakter
der zu erobernden Macht bestimmen,
so daß Befreiung bis ganz unten mög-
lich wird,
— aus eigenen und fremden Kämpfen
Schlüsse ziehen und die so entste-
hende, revolutionäre Theorie als Leit-
faden für die Weiterentwicklung der
Kämpfe nutzen.
Da und dort haben kämpfende Frauen di-
ese revolutionäre Theorie und Praxis von
ganz unten "Feminismus" genannt. Wie
immer sie genannt wird, das Zusammen-
kommen der Kämpfe und die fortlaufen-
de Systematisierung der Erfahrungen
zum immer neu überprüften Leitfaden
steckt noch weit in den Anfängen. Femi-
nismus ist deshalb noch lange keine in
haltlich präzis definierte, internationale
und internationalistische Bewegung. Das
hat verschiedene Gründe. Erstens ist es
naheliegend, daß die historisch am tief-
sten verwurzelten Ausbeutungsverhält-
nisse die längste Ausgrabungszeit erfor-
dern. 2. kann es in den Anfängen des be
wußten Kampfes noch nicht klar sein, in
welchen Formen und mit welchen Mit-
teln Ethnozentrismus und Rassismus
zwischen ausgebeuteten Frauen ver-
schiedener Hautfarbe, Herkunft
(Trikont/MetropoleX Geschlechterorien-
tiernng (1 isbe/Hetera) usw. aufzuheben
sind. Die feministische Methode - auto-
nome Identität und Aktionsbündnissc -
beginnt sich hier erst abzuzeichnen. 3. ist
die Thcoricarbcit wegen der extremen
Ausbeutung der untersten Klasse auf
Ausnahmefrauen angewiesen: Frauen,
die ihre Last an entfremdeter Arbeit in
etwa auf das von Proletariermännem ge-
leistete Maß reduzieren können. Es ist
ein weiteres, zu bearbeitendes Problem,
daß diese Ausnahmen in der Metropole
häufiger sind als im Trikont.
Wie jeder revolutionäre Kampf muß
der feministische in offenen und ver-
deckten oder ausschließlich verdeckten
Formen geführt werden, je nach Situa-
tion. Aber revolutionär-feministischer
Kampf muß sich gegen zwei Klassen
und ihre Repression decken: Frauen
müssen sich unter Umständen unter dem
Vorwand traditionell weiblicher Arbeiten
zu Sitzungen treffen, sic müssen in ihren
Fraueuorganisationen Alibimänner mi-
torganisicrcn und vieles andere mehr, um
von den Männern ihrer Familie nicht als
ihrer Klasse bewußte Frauen, das heißt
Fcministinncn erkannt zu werden: das
kann lebensgefährlich sein.
Wo immer ein Befreiungskampf Formen
und Begriffe annimmt, macht sich die In-
strumentalisierung des Kampfes für klas-
senfremde Interessen an diesen Formen
und Begriffen fest. So wie es einen re-
formistischen “Sozialismus“ und einen
revisionistischen "Kommunismus’ gibt,
so gibt es« einen reformistischen
"Feminismus“ und einen marxistisch-len-
inistischen "Frauenkampf. Das
(unvermeidliche) Anfügen von klärenden
Eigenschaftswörtern verhindert nicht den
neuerlichen Mißbrauch. Denn die Ursa-
che liegt in den Kräfteverhältnissen.
Proletarische Macht und
feministische Macht
Die Eroberung der proletarischen
Macht erlaubt die Beseitigung der
Gewalt- und Ausbeutungsverhältnisse
von der Zwischenklasse der Proletari-
ermänner an aufwärts. Die Eroberung
der feministischen Macht erlaubt die
Beseitigung der Gewalt- und Ausbeu-
tungsverhältnisse von der untersten
Klasse an aufwärts. Kurz: alle.
"bei der feststellung, daß nirgends eine
revolution die befreiung der frau ge-
bracht hat, stellt sich sofort die frage, für
wen hat sie sic gebrüht."
Das ist nicht unsere Frage. Sondern: Er-
laubt der Charakter der eroberten Macht,
in einem zweifellos längcrdaucmdcn
Prozeß sämtliche Gewalt- und Ausbeu-
tungsverhältnisse zu beseitigen? Die pro-
letarische Macht kann auf Grund ihres
Geschlcchtscharaktcrs nicht mehr als
frniienfrenndliche Reformen /«igestchen
bis die (auch in der proletarischen Revo-
lution unverzichtbare) Mobilisierung der
Frauen gebrochen ist, die objektiv in die-
sem Moment zur weitergehenden, femi-
nistischen Macht tendieren muß. Die pro-
letarische Macht kann nicht anders, als in
diesem Moment die Reformen zurückzu-
nehmen: Es liegt nicht im objektiven In-
teresse des Proletariermannes, 50% statt
wie bisher 33% der gesellschaftlichen
Arbeit zu leisten und dafür 50% statt wie
bisher 90% der direkten oder indirekten
Lohneinkommen zu beziehen. Da gcht's
nicht mehr um die schönen und tiefen
Beziehungen, sondern um knallharte,
materielle Interessen. An diesen Akten
der Blockiemng des Befreiungsprozesses
- Reform und Rücknahme der Reform -
kann die proletarische Macht nicht ande-
rs als zu Grunde gehen. Dies schafft die
Voraussetzungen, in denen eine neue
Ausbeuterklasse über Frauen und Män-
ner die Macht erobern kann. In der bishe-
rigen Geschichte war das eine Bürokra-
tie, die auf Einheitspartei, staatlichem
Repressionsapparat und staatlichem Mo-
nopol über die materiellen Reprodukti-
onsmittcl und über die Fruchtbarkeit be-
ruht. Die Bürokratie tendiert dazu, das
kapitalistische Patriarchat wiederherzu-
stcllen.
Um mit einem bekannten, wenn auch pa-
triarchal motivierten Bild zu sprechen: Es
ist realistisch, ein Ei an die Sonne zu le-
gen und zu sagen: Es wird möglicherwei-
se lange dauern, aber schlußendlich kann
ein Küken ausschlüpfen. (Echt? die ver-
blüffte S’in. Mao lesen [Ausgcwählte
Werke, Bd. I, 369], sagen die Hg.). Eine
revolutionäre Politik wird nicht dadurch
falsch, daß cs lange dauert. Die Erobe-
rung der proletarischen Macht als
Weg zur Befreiung der Frau zu pro-
pagieren bedeutet einen Stein an die
Sonne zu legen und das Ausschlüpfen
eines Kükens anzukündigen. Revolu-
tionärer Feminismus setzt die Erobe-
rung der feministischen Macht als Ziel.
Das kann zwar auch lange dauern -
68
aber immerhin ist es ein Ei und nicht
Stein in der Sonne.
Aber warum denn heute schon so weit
denken? mögen nicht wenige sagen. ( Ihr
in Bezug auf Euren Kampf nicht, das
wissen wir gewiß). Warum nicht zuerst
Männer und Frauen gemeinsam für die
proletarische Revolution und in der
Etappe danach irgendein unbekanntes
Subjekt für die feministische? Das Patri-
archat hat sich von der einfachen Klas-
senspaltung zwischen den Geschlechtern
als historisch erster Klasscnspaltung in
mehreren Tausend Jahren und über viele
verschiedene Formen zu seiner hoch-
komplexen kapitalistischen Form entwik-
kelt. Im kapitalistischen Patriarchat
treffen Gewalt und Ausbeutung in redu-
zierter Form auch die große Masse der
Männer. Diese Langzeitfolgcn des patri-
archalen Unterwerfungsaktes können die
Prolctaricrmänncr rieht mehr allein zer-
schlagen. Darum kommen ihnen plötz-
lich die Frauen in den Sinn. Darin liegt
für uns Frauen nicht nur die Gefahr der
Unterwerfung unter männerorientierte,
revolutionäre Führungen, sondern auch
eine historische Chance, zugleich den
ursprünglichen patriarchalen Unter-
werfungsakt aufzuheben. Möglich ist
dies nur mit autonom-feministischer,
revolutionärer Führung.
Die Notwendigkeit feministischer
Autonomie
Revolutionär-feministischer Kampf
muß in jedem Moment fähig sein, den
revolutionären Prozeß auch bei rcak-
tionär-motivierten Rückziehern des
revolutionär-proletarisch oder -klein-
bürgerlichen Kampfes weiterzutrei-
ben. Revolutionär-feministischer
Kampf muß aus diesem und keinem
anderem Grund autonom sein, das
heißt unabhängig gegen Staat und
Zwischenklassen. Der Gradmesser fe-
ministischer Autonomie ist der jeweils
erreichte Stand dieser notwendigen
Fähigkeit. Die formal-organisatori-
schen Mittel sind wichtige, aber weder
einzige noch ausreichende Mittel, um
die reale Autonomie herauszubilden.
Ein Beispiel: Vorder Revolution der Na-
tionalen Befreiung von 1979 in Nicara-
gua war die Fraienorganisation AM-
PRONAC formell autonom, theoretisier-
tc ihre Autonomie aber nicht als politi-
sche Notwendigkeit. Während der Revo-
lution unterstellte sie sich im Glauben an
ein gcschlcchtsneutrales
"Allgemeininteresse” der Führung der
Frente Sandinista. Sie organisierte die
Massenbasis der Revolution, garantierte
Versorgung. Unterschlupf. Meldedienste.
Pflege der Verwundeten und ähnliches.
Ein Teil der Frauen kämpfte bewaffnet in
der geschlechtlich-gemischten Guerilla.
Als dann nach der Revolution die Frauen
vom Waffendienst in den sandinistischen
Streitkräften ausgeschlossen wurden,
protestierten Guerillas gegen die Verwei-
gerung des elementaren Rechts, bewaff-
net für die Befreiung zu kämpfen.
Der Frente hatte unter dem Deckmantel
eines dringlichen und angeblich gc-
schlcchtsneutralen "Allgcmcinintcresses"
die Männermacht stabilisiert Das weitere
ergab sich dann von selbst. Der Freute
stoppte die Fand- und Betriebsbesetzun-
gen und garantiere das kapitalistische Ei-
gentum an den Produktionsmitteln. Mit
der Agrarreform - Kernstück der Revolu-
tion - schaffte er eine neue Zwischen-
klassc von 1 jndeigentümern und Famili-
enoberhäuptern. Ganz folgerichtig gin-
gen 92% der Landtitel der Agrarreform
an Männer. 8% an die Frauen. Ebenso
folgerichtig konnte das sandinistische
Alimentengcsetz die Schwangerer nicht
zu Versorgungsleitungen an kleine Kin-
der zwingen, garantierte ihnen aber den
Zugriff auf eheliche und uneheliche Kin-
der im arbeitsfähigen Alter
(mehrwcrtproduzicrende Arbeitskräfte!).
Ebenso folgerichtig war die Opposition
gegen die Lockerung des somozistischcn
Abtreibungsgesetzes, das dem Schwan-
gerer ein Vcto-Reclt erteilt, auch in den
sandinistischen Reihen enorm.
Die wichtigsten ausbeutbaren Arbeits-
kräfte der sandinistischen Agrarreform
blieben die Frauen: ohne Eigentum an
Produktionsmitteln und ausgeschlossen
von der Mitgliedschaft aus den Koopera-
tiven. Frauen hatten weiterhin 18 Stun-
den pro lag zu arbeiten. Männer neun.
Illegale Abtreibung war weiterhin die
häufigste Todesursache von Frauen im
gebährtähigen Alter. Die frisch bestätig-
ten Familienoberhäupter beanspruchten
gegen alle aufklärerische Propaganda ihr
Eigentumsrecht, "ihre" Frauen zu schla-
gen und zu vergewaltigen.
Wir betonen nochmils: Es geht uns nicht
darum, Befreiungsleistungcn zu zählen
wie Erbsen. Eine Revolution der Natio-
nalen Befreiung ist keine Beseitigung des
Kapitalismus und eia Trikontland ist kein
reiches Land. Mit dem Beispiel Nicara-
gua wollen wir deutlich muclien, daß
die separate Organisierung der Frauen
nicht genügt, um die Stabilisierung der
Männermacht zu verhindern. Ent-
scheidend ist die feministische Auto-
nomie. Die Mchrfachbclastung der Frau-
en, die Verfügung Uber Fruchtbarkeit und
Kinder und die Münncigcwalt anzugrei-
fen hätten bedeutet, das weitcrbcstchcn-
de, kapitalistische Patriarchat im Landes-
innem an der Wurzel anzugreifen. Auto-
nomer Feminismus hätte zwangsläufig
eine Alternative darstellen müssen zum
sandinistischen Projekt der Aussöhnung
der Zwischcnklasscn mit dem privaten
oder genossenschaftlichen Eigentum an
den Produktionsmitteln und dem kapitali-
stisch»“!» Markt.
Feministische Autonomie beruht auf der
Erfahrung und dem Bewußtsein, daß es
in einer patriarchalen Gesellschaft nichts
geschlechtsneutrales gibt. Jede noch so
geschlechtsneutra! erscheinende Kate-
gorie von Gewalt und Ausbeutung
nimmt gegen Frauen die volle Form
an, gegen Männer eine reduzierte.
Darüber hinaus gibt cs Kategorien, die
fast oder ganz ausschließlich Frauen
treffen: Ausbeutung von Sexualität
und Fruchtbarkeit. Die nicht-vollzäh-
ligen und reduzierten Formen lassen
sich nur von den vollzähligen und vol-
len Formen her mit der Wurzel ver-
nichten. Die geschlechtlich-gemischte,
das heißt männcr-orientierte Bewegung
geht umgekehrt vor: Sie richtet den
Kampf gegen die reduzierte Form und er-
gänzt bisweilen verbal, was bis zur vol-
len Form fehlt. Das ergänzte nennt sie
"Frauenfrage".
Enteignung von den Subsistcnzgrundla-
gen, Hunger. Vertreibung und Obdachlo-
sigkeit, Ausbeutung der Arbeitskraft,
(Erwcrbs-)Arbcitslosigkeit, Folter usw.
haben allesamt eine volle weibliche und
eine reduzierte männliche Form. Am
Beispiel der Aufstandsbekämpfung
möchten wir kurz den Blick auf eine
volle Form lenken. Sie setzt gegen Frau-
en auf extrem tiefer Stufe des Wider-
stands ein: individueller Eigensinn kann
genügen. Frauen können körperlichen
Strafen bis zur Todesstrafe unterworfen
werden, wenn sic sich "frei” in privaten
und öffentlichen Räumen bewegen, in
denen gleichzeitig Männer sind. Als
Agentinnen der Aufstandsbekümpfung
treten nicht nur die staatlichen auf. son-
dern auch Einzclmänncr. Männerbanden
und die Psychiatrie (Frauen werden be-
kanntlich wegen gcringstfugigen
"Abweichungen“ von der Norm psychia-
trisiert). Gegen widerstand-lcistcnde
Frauen darf jeder Mann als knüppelnder
Polizist auftreten, nicht allein Faschoban-
den und die eigentliche Polizei, usw.
Die Einbindung des Frauenkampfes in
ein angebliches "Allgemeininteresse"
hat deshalb immer eine doppelt nega-
tive Wirkung:
— Der Frauenkampf wird auf soge-
nannte "Frauenfragen" reduziert
(Sex, Kinder haben, Internationale
Frauentage und so).
- Das Befreiungsziel wird auf diejeni-
gen Ausbeutungsformen reduziert, die
auch Männer treffen. Ausgebeutete
Frauen müssen für ihre Befreiung den
zentralen Repressions- und Ideologieap-
parat (Staat) zerschlagen. <’ rrivatei-
gentum an den materiellen Pi.uuktions-
69
mittein aufheben, den dezentralen Rc-
prcssions- und Idcofcigicapparat (Machos
und Männerbanden) zerschlagen, das
Privateigentum von Männern an Frauen
und Kindern aufheben und sich selbst
aus der Stellung des Menschen- Produkt i-
onsmittcls und Sexualobjektes befreien.
Ausgebeutete Männer müssen für ihre
Befreiung "nur" den Staat zerschlagen
und das Privateigentum an den materiel-
len Produktionsmitteln aufheben.
Kritische Solidaritit mit Revolutionen
der nationalen Befreiung
Bezüglich der nationalen und/oder an-
tikapitalistischen Befreiungsbewegun-
gen und bezüglich national und/oder
vom Kapitalismus befreiten Länder
sind internationalistische Feministin-
nen in den Metropolen solidarisch mit
den Klassen ganz unten und ihrem na-
tionalen wie auch gegen das kapitali-
stische Patriarchat gerichtete Befrei-
ungsinteresse: den Frauen. Frauen aus
diesen Ländern haben in den letzten
10 Jahren ihre Kritik an diesen nach-
wievor
patriarchalen Bewegungen und Syste-
men zum Ausdruck gebracht. Als Fe-
ministinnen würden wir aber auch
dann Stellung nehmen, wenn die pa-
triarchale Gewalt und Ausbeutung in
nichts als sprachlosem Elend aus-
drückte: Wir teilen nicht die Ideologie
der Herrschenden, wonach die der
Sprache beraubten glücklich wären,
"wir kennen die Kritik vieler Frauen an
den Befreiungsbewegungen und national
befreiten Ländern im Süden, weil in ih-
nen die Unterdrückung der Frau nicht
oder ihren eigenen Vorstellungen ent-
sprechend beseitigt wird," schreibt ihr.
Im Sommer 1980 fand in Den Haag ein
workshop statt. Die dortigen, kritischen
Siiuationsbeschreibungen durch Frauen
aus Vietnam, Kuba, Nicaragua, Zimbab-
we, China. Jugoslawien sowie Indien und
Südafrika wurden durch internationalisti-
sche Fcministinncn auch in der Metropo-
le aufgenommen und haben viele Dis-
kussionen ausgelöst. Die gemischte
Linke, einschließlich marxistisch-lenini-
stische Gruppen, haben diese Frauen aus
Afrika, Asien Süd- und Mittclamcrika in
aller Regel totgeschwiegen oder als aus-
ländisch-gesteuerte Marionetten diffa-
miert (3).
"Täglich sehen wir. daß die Lebenspraxis
der Frauen dieses Volkes eine Reihe von
Glaubensvorstcllungen widerlegt, welche
die patriarchale Ideologie uns aufge-
zwungen hat", schreibt die nicaraguani-
schc Feministin Aida Rcdondo nach aus-
gedehnten Gesprächen mit Marktfrauen
von Managua. Als eine dieser Glaubens-
vorstcllungen nennt sie jene, "daß der
Feminismus eine charakterisch-ausländi-
sehe Bewegung sei... Wenn jene Frauen
Feministiiinen sind, welche die patriar-
chale Ausbeutung und Unterdrückung
durchschauen, dann ist die Mehrheit der
Marktfrauen und der Frauen des nicara-
guanischcn Volkes Feministinnen." Tat-
sächlich drückt sich in den Zitaten der
Marktfrauen der Klassenhaß gegen beide
Bosse aus: den kapitalistischen und den
proletarischen (4). Beide machen das
"Gefängnis" aus, wie Ihr es nennt. Nichts
weniger als das kann im Interesse der
Frauen im Trikont liegen, und in nichts
weniger als diesem sind wir solidarisch
mit ihnen.
Antipatriarchaler Kampf
(der Männer) und
feministischer Kampf
(der Frauen)
Aus jeder ausbeutenden Klasse können
einzelne individuell austreten. So kön-
nen auch einzelne Mitglieder der Zwi-
schcnklasson Proletarier, Kleinbürger
- erste Schritte Richtung Verzicht auf
Gewalt und Ausbeutung gegen Frauen
machen. Aber niemals wird sich eine
ganze Klasse durch Einzelaustritte aus
Ihrer ausbeutenden Rolle löse.
“die männer in der RAF wären nicht da,
wenn sie die gesellschaftlichen und ihre
eigenen patriarchalen Strukturen nicht als
dcformiciungen ihres eigenen mensch-
seins, als ihre eigene Zerstörung erkannt
und damit gebrochen hätten", schreibt Ihr
als Entgegnung auf einen Satz, im 8.
März-Flugi der Frauendemo, daß
"Männer niemals ihre Privilegien freiwil-
lig aufgeben". Zweifellos können Mit-
glieder ausbeutender Klassen aus revolu-
tionärer Überzeugung oder aus anderen
Motiven individuell aus ihrer Klasse aus-
treten (die Hoffnung eines jeden Auto-
nomen... d. s'erinnen). Ein Fabrikherr
kann seine Fabrik den Arbeiterinnen ver-
schenken und selbst Arbeiter werden. Ein
Prolctaricrmann kann anfangen, auf die
brutalsten Formen der Gewalt und Aus-
beutung gegen Frauen zu verzichten und
für die subtileren Formen ansatzweisc ein
Bewußtsein zu entwickeln. Doch was
ändert der Austritt des einzelnen Fabrik-
herm an der Notwendigkeit des Kampfes
gegen die Bourgeoisie als Klasse, die
eben nicht freiwillig austritt? Was ändern
die tastenden Schritte des einzelnen Pro-
letarier mamics (tapps. tapps. d. s'in) hin-
aus aus mehrtausendjähriger Gcschlech-
tcrspaltung an der Notwendigkeit des
Kampfes gegen die Massen der Verge-
waltiger und Machos als Klasse, die eben
nicht freiwillig austritt? Die Illusion, daß
sich irgend eine Klasse durch freiwilligen
Austritt ihrer Mitglieder auflösen könnte,
entspricht einem längst überwundenen,
utopischen Sozialismus.
Wenn Ihr Uber die Menschlichkeit der
Beziehungen in der RAF schreibt, geht
das am Feminismus vorbei: Er zielt nicht
auf die Umwälzung des gemischten revo-
lutionären Widerstands, sondern des Sys-
tems insgesamt.
Zweifellos können sich Prolctaricrmän-
ner in MUnncrgruppcn, um ihre lastenden
Schritte gemeinsam zu tun und einen an-
ti-patriarchalen Kampf (den Kampf vom
Männer-Standort) zu entwickeln versu-
chen. Sie müssen cs sogar. Die histori-
sche Chance besteh: darin, daß sich im
Sturz des kapitalistischen Patriarchats
nicht mein einfach Flauen und Männer.
50% und 50% der Gesellschaft gegen-
Uberstchcn brauchen. Ob die Chance ge-
nutzt wird, ob Teile der Zwischcnklasscn
(Proletariat und Kleinbürgertum) in einen
anti-patriarchalen Kampf gezogen und
andere neutralisiert werden können,
hängt ganz und gar von der autonomen
Kraft eines revolutionären Feminismus
ab. Diese Kraft beruht absolut nicht auf
verbaler Emanzipationshilfe, aber ganz
und gar auf dem bewaffneten Kampf ge-
gen Kapital, Staat and resistenten patri-
archalen Teilen der Zwischenklassen.
Das fortgeschrittenste, uns bekannte Bei-
spiel in dieser Richtung sind die bewaff-
neten Gruppen schwarzer Frauen in Süd-
afrika. die Vergewaliiger liquidieren.
Revolutionärer Feminismus ist die Me-
thode, restlos alle Klassenspaltungcn
in der Gesellschaft zu beseitigen. Dies
muß ansatzweisc bereits im Verlauf
des revolutionären Prozesses gelingen,
um die für den Erfolg unerläßliche
Zentralisierung der Kräfte zu errei-
chen. Die feministische Zentralisierung
auf Grund von Autonomie und Akti-
onsbündnissen wird sich gegen die leni-
nistische der Unterordnung unter Mün-
ncrintcrcsscn durchsetzen müssen.
'radikaler brach' und
befreite Beziehungen
Ihr benennt die Voraussetzung befrei-
ter, menschlicher Beziehungen klar
und deutlich: "der radikale brach mit
dem systemalltag". Aus Eurem Mund
heißt das: Bewaffneter Kampf mit all
seinen Konsequenzen. Abseits vom ra-
dikalen Bruch, abseits vom kontinuier-
lichen und bewußt vorantreibenden
Kampf (dessen technologische Mittel
wir heule in der Schweiz tiefer anset-
zen müssen als Ihr in der BRD), gibt es
nichts als den öden Kreislauf links-al-
ternativer Reproduktion der Arbeits-
kraft.
Das leuchtet sofort ein. daß auf der
70
Grundlage des radikalen Bruchs (in Eu-
rem und keinem andern Sinn!) 'die elen-
de irennung ... des Icbcns von der polilik
und diskussion ... aufgehoben wird.”, daß
dann Politik zu etwas anderem wird als
"ansichtssachen und hier und da mal eine
initiative", daß dann "befreiung in den
beziehungen der manschen ... materiell
wird'. Der gemeinsame radikale Bruch
und die sich dann erschließende revolu-
tionäre Politik bedeutet ohne Zweifel die
tiefste aller Beziehungen.
Und doch lallt auf, wie leicht diese Eure
Sätze für die Verklarung von Jinksaltcr-
nativer Politik und Szenelcben ganz ohne
radikalen Bruch verwendbar sind. Ob cs
an der Häufung von Ausdrücken wie
"Mensch". "Menschlichkeit",
"Sclbstbcwußtscin" usw. liegt, die so
sehr das freischwebende Philosophieren
anregen? Werden diese Eure Sätze ab-
seits vom radikalen Bruch verwendet, so
sind sie reformistisch, sexistisch und ras-
sistisch zugleich: Sie verschleiern sämtli-
che Klassenspaltungen und reduzieren
das Klassenbewußtsein auf das ärmliche
'Selbstbewußtsein". Aus Eurem Munde,
das heißt glaubwürdig bezogen auf revo-
lutionär kämpfend: Zusammenhänge,
haben sic eine andere Bedeutung. Aber
auch an dieser haben wir unsere Zweifel:
Wir glauben nicht daran, daß die Wun-
den. die Narben und die Deformation aus
so viel Tausend Jahren Patriarchat so
schnell verheilen.
Für Euren radikalen Bruch, für Eure
Kämpfe, für Euer Dran-Bleiben am
Kampf, für Entschiedenheit in allen
Konsequenzen haben wir für Euch die
tiefste und leidenschaftlichste Solidari-
tät
(kommt uns’n bißchen wie Bewunderung
vor!? d. s'in)
20.6.1990
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Hi ihr lieben Schweize-
rinnen,
wir haben uns riesig gefreut, als wir euer
Papier in die Händ: bekommen haben.
Die linksradikalc, feministische Szene tut
sich schwer. Ziel, Inhalt und Methoden
ihres Kampfes unter sich in die Diskus-
sion zu bringen. Immer, wenn ein Text in
der Richtung auftaucht, freuen wir und
unsere Freundinnen uns doof und dusse-
lig-
Zuerst gehen wir auf euren Text ein.
Gleichzeitig beziehen wir uns dabei in
Gedanken selbstkritisch auf unseren Text
aus der | radikal Nr., Anm. d. Hg.] 140.
Kritik und Selbstkritik gehen fast immer
Hand in Hand.
Ob's so schlimm war, werdet ihr im fol-
genden an unseren hoffentlich geistrei-
chen Anmerkungen feststellen können...
Anschließend machen wir einen kleinen
Ausflug, welche Richtung wir inhaltlich
und praktisch gut fänden weiterzuvcrfol-
gcn.
Ihr setzt euch mit zwei Frauen aus der
Raf und dem antiimperialistischen Wi-
derstand auseinander. Ihr sagt zu Beginn
eure Schwierigkeiten, die ihr hattet, die
Diskussion überhaupt anzuleiem.
Ir)
Genug - ihr habt ja trotz dieser Aufzäh-
lung euch entschieden, eure Hcrange-
hcnswcisc und Kritik darzustcllcn, und
das finden wir gut.
Eure inhaltliche Analyse hat uns über
große Teile hervorragend gefallen.
Die Einführung des Begriffs
"Zwischenklassen" hat bei uns allerdings
zu einigen
Heiterkeitsanfällen geführt. Das liegt
hauptsächlich daran, daß wir an unsere
weiten Genossen denken mußten, die
immer so ernsthaft Uber der neuesten
"Klassenzusammensetzung" brüten. Die
sich viel Mühe geben, neben der
"Klasse" nicht die "Frauen" zu vergessen,
und die nun mit diesem Begriff sehr ein-
deutig ihren Platz zugewiesen bekom-
men.
Gleichzeitig sind wir hier am Knack-
punkt angekommen.
Einerseits fanden wir den Text unter dem
Aspekt der Patriarchatsanalyse gut, aber
er unterschlägt - wie unser Text der 140
auch - die Diskussionen, die unter Frauen
schon länger zu Rassismus laufen.
Wie ihr richtig fcststellt gibt cs nichts,
was geschlechtsneutral ist. Ebenso klar
ist auch, daß cs nichts gibt, was nicht von
der Hautfarbe abhängt bzw. der Her-
kunft.
Ein linksradikaler Frauenkampf, der sich
Internationalismus auf die Fahnen
schreibt, kann nicht in der Form, wie ihr
oder wie wir dies tun. die Unterdrückung
durch Rassismus, die Geschichte von
Kolonialismus und Imperialismus am
Rande abhandcln.
Geschieht das, läuft es zwangsläufig auf
eine Vcrcinnahmung von anderen Kämp-
fen hinaus. Andere Kämpfe werden aus-
schließlich aus der Perspektive der eige-
nen (weißen) Geschichte und daraus
entwickelten Kriterien betrachtet und mit
diesen dann bewertet.
Ihr sprecht über Solidarität mit Frauen
der trikontincntalcn Länder, redet über
ihre Kämpfe.. .doch wie können wir sie
einschätzen, ohne sie wieder cinzuvcrlci-
ben und in unsere Herangehensweise zu
pressen?
" Was empfinden schwarze Frauen ge-
genüber der Frauenbewegung? Miß-
trauen. Sie ist weiß, daher suspekt. Trotz
der Tatsache, daß Befreiungsbewegun-
gen in der schwarzen Welt Katalysatoren
für den weißen Feminismus waren, ha-
ben zu viele Bewegungen und bewußt
begonnen, Schwarze einzubeziehen, mit
dem Ergebnis, sie einzuwickeln. Sie wol-
len nicht schon wieder benutzt werden,
jemandem zu helfen, Macht zu gewinnen
- eine Macht, die ihnen gezielt vorenthal-
ten wird... Schwarze Frauen sind ver-
schieden von weißen Frauen, weil sie
sich selbst anders sehen, anders gesehen
werden und ein anderes Leben geführt
haben." Toni Morrison, 1971 (!). Beiträ-
ge 27. S. 27
Auf Seite 8 [in dieser Broschüre: S. 67
Anm. d. Hg.) schreibt ihr von der Aus-
grabungszeit, das sehen wir ähnlich.
Aber gegraben wird nun wahrlich schon
eine ganze Weile. Daß weiße Frauen jetzt
mit der Nase auf die Rassismus-Ausan-
dersetzung gestoßen werden und nicht
schon weitaus früher "von selber" drauf
gekommen sind, macht deutlich, daß da-
hinter Maclitvcrhiiluüssc stecken. Wo
"wir" unsere Rolle rieht reflektiert ha-
ben.
"Als Gruppe befinden sich schwarze
Frauen in einer ungewöhnlichen Positi-
on in dieser Gesellschaft, denn wir ...
sind am schärfsten von sexistischer, ras-
sistischer und klass'istischer Unterdrük-
kung betroffen. Gleichzeitig sind wir die
Gruppe, die nicht dahingehend soziali-
siert wurde, die Rolle des Ausbeu-
ters/Unterdrückers anzunehmen: Uns
wird kein institutionalisierter 'Anderer'
überlassen, den oder die wir unterdrük-
ken könnten... Weiße Frauen und
schwarze Männer haben beide Möglich-
keiten. Sie können als Unterdrücker oder
als Unterdrückte handeln. Schwarze
Männer mögen Opfer von Rassismus
sein, aber Sexismus erlaubt es ihnen, als
Ausbeuter und Unterdrücker von Frauen
zu handeln. Weiße Frauen mögen Opfer
von Sexismus sein, aber Rassismus ver-
leiht ihnen die Fähigkeit, als Ausbeuter
71
und Unterdrücker von Schwarzen Men-
schen zu handeln. Beide Gruppen haben
Befreiungsbewegungen geleitet, die ihre
hitcrcssscn favorisierten und die anhal-
tende Unterdrückung anderer Gruppen
unterstützen." Bell Hooks. 1984. Beiträ-
ge Nr. 27. S. 47.
Da kommt das Modell der
"Zwischenklassen" ins Schwimmen. Es
kommt immer auf den Standpunkt an,
von dem aus Un'.erdrUckung definiert
und von daher die "Plätze zugewiesen"
werden.
"Zwischenklassen" könnten wir die Klas-
se der proletarischen und kleinbürgerli-
chen Männer in Bezug auf das interna-
tionale Patriarchat nennen, das zwar ver-
schieden ausgeprägt ist, aber als Grund-
lage die Unterdrückung und Ausbeutmg
von Frauen hat.
Dann müssen wir unter den
"Zwischenklassen" nochmal differenzie-
ren. Wie bezeichnen wir weiße Frauen
als Gruppe in ihrer Stellung gegenüber
schwarzen Frauen?
Weiße Frauen sind gegenüber schwarzen
Männern privilegiert. Obwohl die Frauen
von Männe rgewalt bedroht sind, werden
rassistische Männerhorden auf der Straße
als erstes "Ausländer klatschen". Auch,
wenn diese Männerhorden die größten
Frauenfeinde sind, möchten wir diesen
Unterschied festhalten.
Dabei geht cs nicht um die Frage: Wel-
cher geht es besser, welchen geht’s
schlechter (weißen Frauen oder schwar-
zen Männern)? Daß schwarze Männer,
die hier leben, auch weiße Frauen anma-
chen. unterdrücken, sich über sie stellen,
ist klar. Und die versuchen auch, das
Rassismus- Argument gegen uns zu dre-
hen: Vielen Frauen ist es schon passiert,
daß ihnen der Mann, der sie in der U-
Bahn anmachte, vorgeworfen hat: sie
würde sich aus Rassismus wehren. ("Das
machst du nur. weil ich Türke bin!" -
"Du bist rassistisch, bei deutschen Män-
nern würdest du dich nicht so anstellen!).
Klar ist, daß uns das nicht im Geringsten
ein schlechtes Gewissen macht. Solche
Situationen sind eindeutig sexistisch und
dementsprechend verteidigen wir uns
dann auch.
Uns geht es dabei um das Problem der
Definitionsmacht. Wer hat das Recht zu
definieren, wer wie stark unterdrückt
wird, wer legt Rollen im revolutionären
Prozeß fest usw.
Z.B. der Spruch: 'Alle Menschen sind
Ausländer - fast überall!" trifft den Kern
der Sache. Der Spruch will eine
"tolerante" Haltung gegenüber Auslände-
rinnen fördern und erinnert daran, daß
jede von uns in anderen Ländern auch
nicht heimisch ist. Der Spruch unter-
schlägt aber, daß die Definition
"Ausländer" seine volle Bedeutung im
rassistischen Zusammenhang bekommt.
Der Begriff hat Menschen aus einem
westeuropäischen Land gegenüber eine
andere Färbung als bei Menschen aus ei-
nem trikontincntalem Land oder aus Ost-
europa.
Es existiert eine rassistische Wertehierar-
chic, die sich aus Geschichte
(Kolonialismus/Faschismus) und der ak-
tuellen wekweiten Hierachie von kapita-
listischcn/impcrialisiischcn Industrie-
mächten und von ihnen abhängigen Län-
dern des Trikont ergibt und ableitet.
In diesem System definieren weiße Män-
ner und auch Frauen, wer "Ausländer"
ist.
Wenn eine von uns in ein Trikontland
wist, ist sie dort weniger “Ausländerin",
als vielmehr eine Weiße aus diesem oder
jenem Land. Natürlich ist sic auch
"Ausländerin", aber ob das Definitions-
macht besitzt, sic das also zu spüren be-
kommt, hängt vom Kräfteverhältnis ab.
Aktuell zu sehen ist das bei Südafrika.
Die Schwarzen können dort aufgrund ih-
rer organisierten Stärke den Weißen
praktisch zeigen, daß sie fehl am Platz
sind. Vorher konnten sic das sagen, aber
Konsequenzen folgen in einem Macht-
kampf nur aufgrund von Siegen und auf
Stärke von unten.
Auf uns bezogen heißt das: Wir müssen
als weiße Frauen Rassismus gleichwertig
zu sexistischer Unterdrückung und Patri-
archat miteinbeziehen. Wir können ande-
ren Unterdrückten rieht unsere Definiti-
onsmacht, die wir als Weiße haben auf-
drückcn, wie weiße Männer dies uns ge-
genüber lange genug gemacht haben,
wenn sic uns als "Nebenwiderspruch" ab-
taten oder unsere Autonomie als Spal-
tung in Frage stellten.
Wie wenig die Auseinandersetzung mit
Rassismus entwickelt ist, merken wir an
Sätzen wie : “ Ausgebeutete Frauen müs-
sen . für ihre Befreiung den zentralen Re-
pressions- und Ideologicapparat (Staat)
zerschlagen, das Privateigentum an den
materiellen Produktionsmitteln aufheben,
den dezentralen Repressions- und Ideo-
logieapparat (Mackos und Münncrban-
den) zerschlagen, das Privateigentum
von Männern an Frauen und Kindern
aufheben und sich selbst aus der Stellung
des Menschenproduktionsmittels und Se-
xualobjekts befreien. Ausgebeutete Män-
ner müssen für ihre Befreiung "nur" den
Staat zerschlagen und Privateigentum an
den materiellen Produktionsmitteln auf-
heben."
Der erste Abschnitt stimmt. Beim zwei-
ten wird deutlich, daß ihr ausschließlich
von weißen Männern redet. Die Erfah-
rung von schwarzen Männern gehl über
diese zwei von euch genannten Punkte
hinaus.
Aus den Befreiungskämpfen schwarzer
Menschen, wie in dem Zitat von Toni
Morrison erwähnt, kommen eine Menge
Erkenntnisse, wie Unterdrückung "nach
innen“ verlagert wird und so viel schwe-
rer zu bekämpfen ist als ein konkret be-
stimmbarer. äußerer Machtapparat.
Fanon hat in den 50’em viel darüber ge-
schrieben:
"Ich wollte Mensch sein, nur Mensch.
Manche verbanden mich mit meinen ver-
sklavten. gelynchten Vorfahren: Ich be-
schloß. diese Vergangenheit auf mich zu
nehmen. Auf der universellen Ebene des
Intellekts verstand ich diese innere Ver-
wandtschaft - ich war ein Enkel von
Sklaven...
In Amerika werden Neger abgesondert.
In Südamerika peitscht man die streiken-
den Neger auf den Straßen aus und er-
schießt sic. In Westafrika ist der Neger
ein Tier. Und hier, ganz in meiner Nähe,
gleich nebenan sagt mir ein aus Algerien
gebürtiger Kommilitone: 'Solange man
den Araber zu einem Menschen erklärt
wie wir, wird es keine gangbare Lösung
geben.’
'Weißt du. mein Lieber, das Vorurteil der
Hautfarbe, das kenne ich nicht... Aber
was denn, treten Sie doch ein Monsieur,
bei uns gibt es kein Vorurteil der Haut-
farbe... Jawohl der Neger ist ein Mensch
wie wir... nicht weil er schwarz ist. ist er
weniger intelligent als wir... ich hatte ei-
nen senegalischcn Kameraden beim Re-
giment. Er war sehr feinfühlig...'
....wo mich verkriechen?
’Martiniquaner aus 'unseren' ehemaligen
Kolonien.'
'Schau den Neger di! ...Mama, ein Ne-
ger!...' - 'Still! Er wird böse werden...
Achten Sie nicht darauf, Monsieur, er
weiß nicht, daß Sie genauso zivilisiert
sind wie wir...'
Mein Körper kam ausgcwaltzt. zerteilt,
geflickt zu mir zurück, ganz in Trauer an
jenem weißen Winterlag. Der Neger ist
ein Tier, der Neger ist schlecht, der Ne-
ger ist bösartig, der Neger ist häßlich:
sich mal, ein Neger, es ist kalt, der Neger
zittert, weil er friert, der kleine Junge zit-
tert, weil er glaubt, daß der Neger vor
Wut zittert, weil er Angst vor dem Neger
hat. Der Neger zittert vor Kälte, jener
Kälte, die dir die Knochen verrenkt, der
niedliche Kleine zittert, weil er glaubt,
daß der Neger vor Wut zittert, der kleine
weiße Knabe wirft sich in die Arme sei-
ner Mutter Mam3, Jer Neger will mich
fressen.
Ringsum der Weiße, oben reißt der
Himmel den Nabel aus. die Erde knirscht
unter meinen Füßen und ein weißes, wei-
ßes Lied. Das viele Weiß, das mich aus-
brennt...
Wo mich nun verkriechen? Aus den un-
zähligen Zersplitterungen meines Seins
72
spüre ich das Blut in mir hochsteigen. Ich
war im Begriff wütend zu werden. Seit
langem war das Feuer erloschen, und
abermals zittert der Neger...
'Schau nur, er ist schön der Neger...'
Der schöne Neger scheißt auf Sic,
Madame!'
....Endlich war ich befreit von meiner
Grübelei. Und gleichzeitig wurde mir
zweierlei klar: Ich identifzierte meine
Feinde und erregte öffentliches Ärgernis.
Überglücklich. Man würde sich amüsie-
ren können!"
Fanon. "Schwarze Haut und weiße Mas-
ken"
Eigentlich hatten wir nicht vor. einen
Text zu Rassismus zu schreiben. Haben
wir auch immer noch nicht vor. Andere
haben dazu schon viel umfassendere
Texte geschrieben und viel genauer, als
wir das in der Kürze der Zeit könnten.
Wir haben nur mitbekommen, daß häufig
in autonomen Frauenzusammenhängen
die Auseinandersetzungen über Rassis-
mus sehr auf der subjektiven Ebene ver-
laufen - bin ich eine Rassistin, weil ich
eben gesagt habe: "Ich hätte gerne einen
Negerkuß."?
Das ist zwar eine wichtige Ebene, sich
selber abzuklopfcn. aber wir weigem
uns, das zum nonplusultra der Diskus-
sion /.u machen. Wir hallen das für die
absolute Luxusposition, wenn nicht
gleichzeitig die gesellschaftliche Ebene
des Rassismus analysiert wird, wo er sich
aus ... Weltmarkt... { Der Salz war leider
in dem uns vorliegenden Exemplar des
Textes unleserlich. Anm. d. Hg.)
Alleinstehend macht sic einmal mehr
deutlich: Na. die Weißen haben jetzt in
Zeiten des offensiven doitschen Macht-
zuwachses und nationalem Taumel nichts
besseres zu tun, als wieder mal um ihren
Nabel zu kreisen.
Im Emst: Das wichtigste an unserer Kri-
tik/Selbstkritik ist für uns folgendes:
In dem Moment, wo wir doch hoffentlich
alle übcrcinstimmcn, daß Feminismus
den Anspruch hat, alle Unterdrückungen
und Ausgrenzungen vom Tisch zu fegen,
müßten sich alle aufgrund ihrer eigenen
Denkweise, Analyse und dementspre-
chenden Praxis fragen, wie weit es damit
her ist. Eigentlich ist es doch der Hohn -
Alle wissen, mit EG 92 wird der Groß-
raum Europa gegen trikontincntale Frau-
en und Männer abgeschottet, es wird ab-
geschoben und wird hier auf der Straße
eine rassistische Gewalt materiell, die to-
tal brutal ist. gibt es die institutioneile
Entsprechung in Form von Ausländerbul-
len. Sozialstrategen, die den ausländi-
schen Jugendgangs auf den Straßen hin-
terherjagen. gibt es die rassistischen
Richterschweine, die alles juristisch ab-
segnen...
Und wir? Wo ist die Frauenbewegung,
wenn eingewanderte Frauen und Männer
angegriffen werden?
Wie stellen wir uns das vor, uns interna-
tionalistisch zu organisieren, wenn - aus
was für Gründen auch immer - wir prak-
tisch die Solidarität verweigern und oft
genug allein lassen, weil wir nicht von
uns aus die Bedingungen anderer in un-
sere Überlegungen miteinbeziehen. Son-
dern nur schauen, was passiert gegen
uns, als feministische Frauen, als Teil der
radikalen Linken etc.
Das steht in keinem Verhältnis, wie sich
über die eigene Psyche der Kopf gemacht
wird - Bin ich eine, bin ich keine... - das
interessiert keine, die angegriffen wird
und damit crstmal allein steht.
Wir machen das doch auch nicht anders.
Vertrauen bekommen wir nicht darüber,
daß Männer ihre eigene Sprache femini-
sieren, daß sic sich beim Pissen hinset-
zen, also "gute" aufgeklärte Männer sind.
Seht her, ich bin ein "solidarischer
Monn” - BÄH!
Nein, wir achten auf die Praxis, auf die
Hände, auf die Augen, wo hat er seine
Blicke - müssen Frauen auf Demos Män-
ner anmachen, weil sic ihre Knüppel in
"entspannten" Situa'ionen demonstrativ
zur Schau tragen und nicht unter die
Jacke packen können, oder achten darauf
auch Männer?
Gehen Männer dazwischen, wenn Frauen
angemacht werden- beziehen sie dar-
über einen Teil ihrer Identität des star-
ken, beschützenden Mannes, achten sie
immer zuerst darauf, ob die Frau das sel-
ber klarmacht Tritt in die Eier... oder
werfen sic sich gleich in die Arena....?
("Komm Kleine, jetzt komm ich und
schmeiß den Laden!")
So eine Sensibilität, so eine Praxis erwar-
ten wir. Das ist unser Maßstab, unsere
Basis, und ohne die läuft aber nix.
"Erst in dem Moment, wenn weiße femi-
nistische Aktivistinnen nicht nur den
Rassismus in der Frauenbewegung einge-
stehen und persönliche rassistische Vor-
urteile verweisen, sondern der rassisti-
schen Unterdrückung in unserer Gesell-
schaft grundsätzlichen aktiven Wider-
stand entgegensetzen, werden wir wis-
sen. daß weiße Frauen sich dem Rassis-
mus ernsthaft und auf revolutionäre
Weise stellen. Wir werden wissen, daß
sie sich gegen den Rassismus engagieren,
sobald sie mithelfen, die Richtung der
feministischen Bewegung zu verändern
und daran arbeiten, die rassistische So-
zialisation abzubautn, bevor sie FUh-
mngspositionen übernehmen. Theorien
entwickeln oder den Kontakt zu farbigen
Frauen suchen, um so nicht der rassisti-
schen Unterdrückung weiterhin Vor-
schub zu leisten und nicht-weiße Frauen
bewußt oder unbewußt zu mißbrauchen
oder zu verletzen. Das sind die wahrhaft
radikalen Gesten, welche die Grundlage
für das Erleben politischer Solidarität
zwischen weißen und farbigen Frauen
schaffen". Bell Hooks
Ja, es macht uns zu schaffen, daß bei
Frauen in punkto praktischer Solidarität
mit eingewanderten Frauen und Männern
zur Zeit eine Lähmung festzustcllcn ist.
Eine theoretische Auseinandersetzung
mit Rassismus halten wir für wichtig, da
wir die fehlende Klarheit über Bedeutung
und Verzahnung anderer Unter-
drückungsverhältnisse mit Sexismus und
Patriarchat für eine Ursache halten, daß
dazu wenig entwickelt wird.
Eine weitere Ebene ist, daß - wie be-
schrieben - entweder ausschließliche
Tiefenforschung" bei sich selber betrie-
ben wird, anstatt Rassismus ebenso als
gesellschaftliches Unterdrtlckungsver-
hältnis zu sehen.
Oder die Auseinandersetzung schwebt
knapp unter der Zimmerdecke und läßt
von daher keine praktischen Ansätze
mehr sehen.
Was fällt uns dazu ein...(nicht so viel!)?
Straße - alltäglicher Rassismus - garsti-
ges Bedienen von ausländischen Frauen
und Männern im Obstladen oder im Su-
permarkt, Blicke: IIHH sind die dreckig;
mitleidige Blicke auf türkische Frauen
mit 1000'en Einkaufrtüten auf dem Arm;
Sozi: Sacharbeitcr benutzen ihre Sprach-
gewandheit, damit die Türkin nix ver-
steht und wenn sie sich umdreht, gehl
das Gehetze los: "Di: sollen doch dahin,
wo sic herkommen. Schmarotzer"...
Dann kommt dir Großdcutschland in den
Sinn, und da sind sie und du hast sic im
Kopf, und ein Wort wird groß
"Konfrontation".
Sic, das sind Skins. organisierte Faschi-
sten, faschistische Fußballfans, bräunli-
che Bürgers. Duckmäuser aber, wenn
schlechte Laune, weil mieser Job. nach
Untentrctcr. gegen allcs-was-frcmd-ist-
Treter -AAARRRGGGHHHü!
Die braune großdeutschc Sauce halt.
Du denkst weiter. Spats: "In der Nacht ...
wurde von mehreren Unbekannten das
Asylantenlager... in ... mit Molotowcock-
tails und Steinen teworfen. Die Täter
entkamen unerkannt. 1 kurdische Frau
liegt schwerverletzt im Krankenhaus. Die
Polizei tappt im Dunkeln."
Du gehst auf die Straße, da rempeln ein
paar Doppelt-Deutsche einen Ausländer
an: klopfen Sprüche. Du bist allein und
traust dich nicht dazwischen - OHN-
MACHT - du sagst dir aber, das nächste
Mal bestimmt.
ln unseren Diskussionen sind wir oft bei
Konfrontation gelandet und dann waren
wir schnell bei Angst.
Es ist unter Frauen die Argumentation
verbreitet (nicht nur da), sic würden sich
73
von den Faschos nicht die Ebene der
Auseinandersetzung aufzwingen lassen.
Das ist verquere Polit-Argumentation. Es
ist natürlich richtig, genau eigene Kräfte
und Möglichkeiten gegenüber dem Geg-
ner abzuwägen und nicht in offene Mes-
ser zu rennen (im wahrsten Sinne des
Woites). Wir haben aber das Gefühl, daß
damit die Probleme, daß viele sich nicht
mehr sicher auf der Straße bewegen kön-
nen. daß die Existenz von der Willkür
des Staates abhangt, der abschicbi, aus-
weist, damit nur verdrängt werden mit
fadenscheinigen Argumenten.
Konfrontation macht Angst. Na klar, aber
was heißt überhaupt Angst? War doch
komisch, wenn die nicht da whr. es ist ja
auch zum Fürchten. Oder denken wir
Frauen, wir sind alle als Kampfmaschi-
nen auf die Welt gekommen, starke,
funktionierende Frauen?!
Aber sic ist real die Konfrontation.
Selbst, wenn wir sie nicht realisieren
wollen, sei cs aas politischer Unklarheit
oder aus Verdrängung, für andere besteht
gar nicht die Möglichkeit zu verdrängen,
die müssen reagieren.
Das sollte jede sehen und was draus ma-
chen.
Es geht um uns!
Wenn z.B ein gemeinsamer Schutz für
Flüchtlingslager organisiert werden
solL.Da haben meist nur gemischt-ge-
schlechtliche Gruppen vorerst Kontakt
hin.. .mit denen haben wir wenig zu tun.
die arbeiten zu Rassismus, haben zu
Sexismus nichts im Kopf, also fehlt die
Grundlage, ein Bündnis cinzugehcn ...
aber was dann...-
gar nichts dazu machen ... bei der Ab-
grenzung stchenbleiben "außerdem sind
hei so Angelegenheiten immer nur diese
Macker vor Ort’ - Wo tauchen wir dann
auf als großer Haufen, sichtbar und stark,
nicht untergehend?
Was hindert uns daran, fehlende Struktu-
ren/Kontakte aufzubauen und ein eigenes
Verständnis von anlirassistischcm, femi-
nistischem Kampf zu entwickeln?
Es gibt sicher eine Menge Erfahrungen:
von Frauen, die in Flüchtlingsgmppen
gearbeitet haben, von Fantifa-Fraucn, die
feministische Antifa-Arbeit machen ....
diese Erfahrungen und Ansätze müssen
zusammengetragen und ausgewertet wer-
den, damit nicht immer alle so isoliert
vor sich hinwurcchtcln!
Frauen bekommen alltäglich Gewalt zu
spüren... Da schlagen wir zurück. Hier
entwickeln wir den Ehrgeiz, Vergewalti-
ger zu jagen und auszuteilen für die jah-
relange. permanente Erniedrigung, die
uns entgegenschlägt.
Ja, cs geht um notwendige Militanz, or-
ganisierte Militmz. Wir wollen neben
dem notwendigen öffentlichen PtÜsent-
Sein auf der Straße, die ausdrückt: Wir
sind viele, die auf der Lauer liegen, falls
einer was passiert, wir sind solidarisch
miteinander, paßt bloß auf! noch viel
mehr, z.B. die Ergänzung, heimlich,
schlau und listig die Vergewaltiger auch
wirklich zu bekommen. Das muß ge-
nauso organisiert werden.
Wir wollen die Diskussion und Praxis,
die auch zielgerichtet die Schweine
kriegt, die uns uiigicifcn. Alle Schweine.
dieVergeualtiger. die Faschos, die
Schreibtischtäter, egal. Um beim Beispiel
Vergewaltiger zu bleiben, wenn wir ne-
ben der öffentlichen Präsenz gleichzeitig
überlegen, wie wir sie sicherlich in die
Hände bekommen und was wir dann mit
ihnen machen können und wie sehr so
eine Aktion auch anpowem würde, Mut
machen, die Frauen auf die Straße zu
treiben, dann denken wir, sowas von vie-
len organisiert, solche Überlegungen
konsequent und ehrgeizig ans Ende ge-
sponnen, wurden und einen großen
Sprung weiterbringen.
Mit dieser sehr ehrgeizigen Haltung fän-
den wir cs sehr gut, wenn alle auch an
die anderen "Themen" rangchcn. Das be-
trifft dann wieder die praktische Solidari-
tät mit anderen Unterdrückter.
Um diese Haltung kommen wir nicht
herum, weil Haarwurzeln angegriffen
werden und wir es ziemlich nötig haben,
uns wirkungsvolle Gcgcnstrstcgicn aus-
zudenken.
"Selbstbestimmtcs Leben" und jetzt
womöglich auch noch "selbstbestimmtcs
Angreifen ' kann auch Zeichen dafür
sein, daß wir uns eines Privilegs bedie-
nen, nämlich weiß zu sein, das heißt, cs
uns an bestimmten Punkten selbst aussu-
chen zu können, wann wir in eine Kon-
frontation gehen, während andere (z.B.
cingcwandcrtc Frauen und Männer)
schon mitten in der Konfrontation stec-
ken - ob sic wollen oder nicht. Das nur:
von wegen "Selbstbestimmung".
Das ist für uns keine Frage von Moral
("Wie könnt ihr nur?') sondern Ausdnick
dessen, wie stark die Unterschiedlichkeit
der Stellung von uns und anderen hier
ist, warum es so schwer ist, gemeinsam
was zu machen, wo die Gräben liegen,
wo das Mißtrauen...
Eine ehrliche Diskussion um Ansätze,
Perspektiven und Methoden des radika-
len. feministischen Frauenkampfes ist
mehr als überfällig . Hallo ihr alle- Pac-
ken wir's an!
Wir ergänzen noch 2 Kritikpunktc an
dem Papier von den Schweizerinnen, die
auch miteinander Zusammenhängen.
Das wär zum einen, daß wir nicht ganz
verstanden haben, wie ihr nun die Me-
thode des bewaffneten Kampfes beurteilt
und begreift.
Ihr trefft da sehr absolute Aussagen, die
wir immer relativieren würden. Aussagen
wie: "...daß der bewaffnete Kampf zu-
gleich die wirkamste Form der polni-
schen Propaganda in i \icht- revolutionä-
rer Periode ist" oder “Oh die Chance ge-
nutzt wird, ob Teile der Zwischenklassen
I Proletariat und Kleinbürgertum ) in ei-
nen aniipairiarchalen Kampf gezogen
und andere neutralisiert (scheußliches
Wort übrigens) werden können, billigt
ganz und gar von der autonomen Kraft
eines revolutionären Feminismus ah. Di-
ese Kraft beruht absolut nicht auf verba-
ler Emanzipationshilfe, aber ganz und
gar auf dem bewaffneten Kampf gegen
Kapital. Staat und resistent patriarcha-
len Teilen der Zwischenklassen.“
Wir würden immer dazu sagen, daß der
bewaffnete Kampf zur wirkungsvollsten
Methode werden kann, wenn die inhaltli-
che Ausrichtung treffsicher in die Situa-
tion paßt. Wenn cs ihm gelingt an/.upo-
wem. Mut zu machen, Kopfkrümpfe zu
losen (bei den Linken), Blicke zu ent-
schleiern und den Feind zu verwirren.
Eine Aktion muß natürlich nicht alle Kri-
terien auf einmal erfüllen. Oft reichen
schon weniger aus. um die Aktion zu ei-
ner starken Wirkung zu bringen, aber das
wären für uns wesentliche Gmndbedin-
gungen.
Eine weitere wichtige Voraussetzung ist.
daß er optimale Effekte erzielt, wenn er
eingebettet ist in Ansätze eines revolu-
tionären Konzeptes, wenn er nicht allein
mit diesen Ansätzen steht oder isoliert
ausschließlich von der Gruppe selber nur
getragen wird (aber auch da gibt es natür-
lich Ausnahmen, wo man drauf scheißen
muß. wie 77, wenn eine ganze Linke sich
verabschiedet und entsolidarisicrt. kann
an dem Punkt natürlich nicht die Me-
thode an sich in Frage gestellt werden,
also eine völlige Abhängigkeit von einer
so schwankenden Szene wie hier, darf
auch nicht sein), sondern sich organisch
einbindet in den Diskussionspro/eß der
radikalen Linken.
Kriterien gäbe cs da noch mehr, und dies
ist auch eine Diskussion an sich, aber ihr
seht, eure spärlichen Bemerkungen dazu
sind uns zu wenig,
Dann haben wir nämlich Schwierigkeiten
mit der Absolutierung, da sie auf eine
Stilisierung hinausläuft, auf eine Stilisie-
rung der Mclliodc und letztlich auch der
Aktcurlnnen selber.
Warum redet ihr nicht auch von
"militanten Kampf', was noch mehr an
.Aktionsformen und -möglichkcitcn er-
schließen würde. Dann müßtet ihr auch
nichl ständig betonen, daß hei euch in
der Schweiz das "technologische Niveau"
so niedrig ist. Das isi sicher auch ein
Problem, aber sicher ist es vor allem ein
inhaltliches? An dem Punkt ist uns auf-
gefallen, daß ihr so gut wie gar nichts zu
den Frauenkämpfen selber sagt in der
74
Schweiz. Wir kennen uns da nicht so gut
aus. Es wäre sieter wichtig, da mehr
drüber zu wissen. Dann könnte auch bes-
ser eine Diskussion über Methoden und
welche sind "angemessen" und welche
nicht stattfinden. So schwebt das nur als
Aussage im Raum.
Um beim Beispiel zu bleiben, wenn ihr
mehr von militantem Kampf reden wür-
det. könnten wir euch gleich erwidern:
genau da liegt u.a. eines unserer Haupt-
probleme in der BRD, daß es so wenig
Militante gibt. Wenn aber die einzigen
Militanten die von der Guerilla wären,
dann säßen die und die ganze Linke aber
ganz schön auf dem Trockenen - wenn
wir bei dem Bild eines "organischen
Konzeptes*' bleiben - politisch und nicht
strukturell gemeint. Militanz insgesamt
und überall, Subversion in der Luft, im
Herzen und in jeder unserer Handlungen
Die Kraft beruht natürlich nicht auf
emanzipaliver Argumentationshilfe, aber
absolut auf der inhaltlichen Ausrichtung
des Kampfes, der Entwicklung der Per
sönlichkeiten der Kämpferinnen und
Kämpfer und der parallel entwickelten
revolutionären Kampftechnik.
Wenn ihr vom * fongeschrittsten Beispiel
in dieser Richtung" die " bewaffneten
Gruppen schwarzer Frauen in Südafrika,
die Vergewaltiger liquidieren “ hcranzi-
tiert um eure These der Bedeutung des
bewaffneten Kampfes zu belegen, wer-
den wir ziemlich stinkig. Wir finden es
dreist das Beispiel so herauszugreifen
ohne ansonsten mehr über den Prozeß
von schwarzen Frauen in Südafrika zu er-
fahren, wie dort ihre Strukturen ausse-
hcn. wie sic mit Repression umgehen,
wie "iragfiihig” die Zusammenhänge sind
etc. - was bleibt ist die Radikalität der
Methode, ln der Form, wie ihr das aus
dem Zusammenhang rausreißt, ist das ei-
ne Instrumcntalisicmng der Kümpfe der
Frauen dort.
Aus diesem schrägen Verhältnis zum
bewaffneten Kampf resultiert dann für
uns euer opportunistisches Verhältnis zur
RAF. Auf der einen Seite kritisiert ihr sie
sehr stark inhaltlich (Seite 7, in dieser
Broschüre S. ... Anm. d. Hg.), wenn auch
schon fast durch die Blume.
Wir wetten 10 Kästen Bier, Sekt. Selter
oder Saft, daß bei sämtlichen anderen
gemischt-geschlechtlichen Zusammen-
hängen ihr bei solchen inhaltlichen
"Korken", wie die von euch analysierten,
nur noch mit dem Holzhammer drauf-
hauen würdet.
Wenn schon eine inhaltliche Polemik be-
ginnen, dann richtig und ordentlich. Die
kann auch solidarisch sein.
Ihr würdet einer dermaßen ignoranten
Haltung nur mit der absoluten Mißach-
tung begegnen und sagen, pah. wir spre-
chen uns in 10 Jahren wenn der militante
Frauenkampf auch dem letzten Trottel
eine Macht in den Weg gestellt hat. daß
kein Vorbeikommen mehr möglich ist.
Diese Diskrepanz ärgert uns außerordent-
lich.
Die Äußerungen der Gefangenen sind
auch nicht ständig aus eurer Kritik her-
ausnehmbar. wir ihr das tut:
" Der gemeinsame radikale Bruch und
die sich dann erschließende revolutio-
näre Politik bedeuten ohne jeden Zweifel
die tiefste aller Beziehungen Ihr nennt
die Voraussetzungen befreiter.
~ menschlicher " Beziehungen klar urui
deutlich: “der radikale Bruch mit dem
System-Alltag". Aus eurem Mund heißt
das: bewaffneter Kampf mit all seinen
Konsequenzen . Abseits vom radikalen
Bruch (= auschließlich bewaffneter
Kampf.?!? Protest!!!) abseits vom konti-
nuierlichen und bewußt vorantreibenden
Kampf .. gibt es nichts als den öden
Kreislauf links-altemativer Reproduktion
der Arbeitskraft. "
Da haben wir noch einmal Heiterkeitsan
fälle gehabt. Natürlich gehört es zu unse-
rem Selbstverständnis, sowas wie einen
"radikalen Bruch" zu leben, das auch
kontinuierlich und bewußt..und voran-
treibend. Aber mit den Beziehungen un-
tereinander - vielleicht findet ihr es jetzt
frech, daß wir uns jetzt mit der Guerilla
"vergleichen" ? - wir denken das liegt
doch auf der Hand, daß dir vor allem in
Streßsituationen, die eine solche Arbeit
mit sich bringt, die patriarchale Scheiße
nur so um die Ohren fliegt (zisch!). Das
hat nichts damit zu tun, daß die Bezie-
hungen nicht außerordentlich "tief sind
(auch wenn das dann auch nicht für alle
gilt, wie das halt bei Gruppen so ist): Es
zischt immer wieder.
Dann gibt es keine Zeit, die Streitigkeiten
aufzulösen, weil Teminc eingehalten
werden müssen, du Verpflichtungen an-
deren gegenüber haa usw.
So hat es zwei Seiten: auf der einen Seite
verbindet das Projekt, auf der anderen
Seite erschweren de Bedingungen die
Möglichkeiten, bis ins Letzte oder Vor-
dcrletzte "genau” miteinander umzuge-
hen - auch oft nicht dann, wenn du das
willst, sondern wenn das Projekt es dir
erlaubt.
Du kannst die Männer, wenn sic Scheiße
gebaut haben, oft ja nicht einfach sitzen
lassen, weil du vielleicht grad was am
koordinieren bist und daher aufeinander
angewiesen, dann bist du genervt gereizt,
die auch- na Halleluja!
Jede Stilisierung der Guerilla finden wir
daher aus unseren Erfahrungen falsch.
Da ist sicher genauso wenig Friede.
Freude, Eierkuchen wie woanders auch
nicht. Selbst wenn sic cs behaupten wür-
den - wir würden es nicht glauben, weil
es allen Erfahrungen entgegenstehl und
auch der objektiven Seite: Daß es nicht
um einen einmaligen Bruch geht und da-
nach ist klar Schiff, sondern es ein müh-
sames Ringen umeinander ist. was an die
Substanz geht und absolut nichts Glattes
ist.
Das wollten wir euch zum Schluß noch
sagen.
Wenn ihr euch nicht nochmal öffent-
lich meldet, dann schreibt uns doch zu-
mindest mal einen Brief!!!
Anmd. Hg.:
Wir habra di« Im Origina imtirslriihcncn Piiutn
Mt iwut
doc
m
or
29
'Ce die zeitung für die
freiheit der politischen
gefangenen
& Information über 129a
verfahren und andere
politische prozesse
einzelexemplar
-gooen 3. -dm in briefmarken
abobestellung
-mind. 5 exompl. 6 -,60dm
clockwork 129a
leibnfestraße 24; 6500 mainz
75
Sterin
Die inhaltliche Debatte
weiterentwickeln!
an. daß es keine Frau war.
Mit Beiträgen von Kommunistinnen, die
sich kritisch mit der RAF auscinandcrset-
zen. wurde ja in den letzten Jahren sehr
unoffen umgegangen. Dies mag zum Teil
seine Berechtigung gehabt haben, inso-
fern sic aus der Kritik an der alten K-
Gruppenpolitik in der BRD entspringt.
Dazu beigetragen hat sicherlich auch ein
Dogmatismus, der steh ausschließlich an
einer Parteiorganisierung orientierte und
die Rolle des Proletariats überbetonte
und als absolut setzte. Dazu kamen häu-
fig auch persönliche Abneigungen gegen
einzelne Personen, die sich nur kommu-
nistisch nannten, aber in Wirklichkeit ih-
re Position dazu benutzten unsolidarisch
GEGEN die RAF oder bewaffneten
Kampf im allgemeinen zu argumentieren.
Andererseits gab es in den letzten zehn
Jahren sehr produktive und ernsthafte
kommunistische Kntiken. die von anti-
imperialistischer Seite aus bestenfalls
ignoriert wurden. In Frankreich, Belgien.
Italien, Spanien etc. gab es vor dem, par-
allel zu oder gar zusammen mit dem
'Front-Prozeß" kommunistische
"Linien", die hier fllr die BRD jedoch nie
ernsthaft zur Debatte standen oder ein-
fach “abgetan” wurden. Dies war sicher-
lich ein Fehler der RAF und vieler Anti-
impcrialistlnncn. Es erklärt, warum sie
zum Beispiel heute noch nicht vom an-
tagonistischen Widerspruch "Kapital-Ar-
beit" oder einer Arbciterlnnenklasse
sprechen, sondern sich eher auf sozial-
demokratische bis grüne Vorstellungen
einer "2/3 Gesellschaft" beziehen.
Ich selbst - eine weiße - Frau aus dem
Widerstand hier - schreibe ebenfalls von
einer kommunistischen Richtung her,
ober einer sehr undogmatischen. Ich
werde deshalb im Folgenden zum Teil
andere Begrifflichkcitcn verwenden als
cs der Genosse in der Interim Nr. 208
macht. Den intellektuellen Sprachstil will
ich jetzt nicht kritisieren, denn seine Be-
griffe sind zumindest klar definiert. So
macht cs das Lesen einerseits schwerer,
das Verstehen jedoch andererseits leich-
ter. Beim August-Text der RAF dagegen
war cs umgekehrt. Ich bin mir nicht si-
cher, ob ich ihn richtig verstanden habe,
obwohl er in einem eher lockeren Stil ge-
schrieben ist.
Einstellung
Der August-Text der RAF macht einiges
präzise, besonders das Kriterium der
hen wird, sondern starker als bisher poli-
tisch verstanden wird. Für viele ist die
"Neue Politik" der RAF wohl eher unver-
mittelt gekommen, sogar für einige Ge-
fangene, doch die meisten Leute mit de-
nen ich diskutiere, haben den Schritt der
RAF - aus unterschiedlichen Gründen
begrüßt oder verstanden. Mir dagegen
ging es so. daß ich zunächst nach den
Erklärungen vom April und Juni eine Ge-
fahr darin sah. daß sich über die Einstel-
lung der Raum für Politik nicht erwei-
tern. sondern im Gegenteil noch einen-
gen könnte. Im Nachhinein denke ich,
daß sich der Raum in der Tat nicht erwei-
tert hat, daß die Diskussion um revolu-
tionäre Politik und effektive Organisie-
rung jedoch wichtiger und notwendiger
denn je geworden ist. Das hat die RAF
völlig richtig erkannt.
Gegenmacht von unten
Der Begriff der "Gegenmacht von unten"
sollte von dem Genossen pro Kommu-
nismus meiner Ansicht nach nicht auf ein
bloßes GEGEN reduziert werden. Weg-
zukommen von einer Politik und von Ak-
tionen von Revolutionärinnen, hin zu ei-
ner wirklichen Politik. einer
"Gegenmacht von unten", die auch Sozi-
alrevolutionäre Prozesse etc. mitein-
schlicßt, verstehe ich als eine Politik raus
aus der antiimperialistischen Selbstisolic-
ning. Wurden doch gerade Anfang/Mitte
der 80er Jahre nicht nur eine kommuni-
stische “Linie" für hier diskutiert, son-
dern ebenfalls autonome u.a. Ansätze
verworfen, wo sich Leute mit Arbeiterin-
nen auseinandersetzen oder sogar im
Stadtteil ansetzen wollten oder sich in
“Bewegungen" oder "Kampagnen" enga
gierten. (Stichwort: Teilbereichskämpfe).
Nur zur Erinnerung ein Beispiel aus Ber-
lin: Es gab einige Antiimperialistlnnen.
die - aus inhaltlichen Gründen - sich
nicht an der IWF-Kampagnc beteiligten,
einige zogen es sogar vor. in den Urlaub
zu fahren. Die KAI* hat sich jedenfalls
damals verhalten.
"Gegenmacht von unten" heißt für mich,
revolutionäre Politik auf eine breite Basis
zu stellen oder besser ausgedrückt: sie
von unten zu entwickeln. Das ist ver-
dammt notwendig, gerade jetzt wo sich
die Widersprüche allzu sichtbar immer
mehr zuspitzen; und das meine ich nicht
allein quantitativ, sondern auch qualita-
tiv.
Bewegungsorientierung?
Gegenmacht von unten ist gleichzeitig
ein sehr undeutlicher Begriff.
Niemand wird wohl darum herumkom-
men. ihn genauer zu definieren.
Bedeutet "Gegenmacht von unten", daß
sich die RAF in Zukunft stärker auf so-
ziale Bewegungen beziehen will oder auf
autonome Kämpfe usw.? Orientiert sich
die RAF zur Bcucgungsgucrilla um.
wird sie etwa zu einer RZ?
Einige wünschen sich das. andere be-
fürchten es eher...
Ich denke, um diese Diskussion weiter-
zuführen fehlt eine Selbstkritik der auto-
nomen und antiimperialistischen Bewe-
gung bzw. des Widerstands in der BRD.
Es geht überhaupt nicht, daß die RAF ih-
re "Vcrmittlungs"problcmc löst, indem
sie sich jetzt auf die Bewegung bezieht.
Der Widerstand muß sich ZUSAMMEN
MIT der Guerilla verändern. Das ist drin-
gend.
Zur Selbstkritik am Widerstand gab cs
gerade in den letzten drei, vier Jahren ei-
nige sehr interessanie Diskussionspapie-
re. Sic wurden in WG-Küchcn ver-
schlungen. aber sie standen nie offen zur
Debatte Z.B. hätte das Papier "Ich sag’s
wie's ist" - eine Kritik an der Hamburger
Bewegung durchaus eine heftige Diskus-
sion um wichtige Fragen im Widerstand
anschicbcn können. Auch einige berech-
tigten Fragen der RAF an die Hamburger
Bewegung werden darin ansatzweisc an-
gerissen. Wahrscheinlich war ja die Kon-
sequenz aus dem Papier für Autonome
wie für Antiimperialistlnnen
"abschreckend"? Sollte ich es “die Angst
der Autonomen u.a. vor der Partei”, nen-
nen oder etwas zynischer die Angst vor
jeder Art von Organisierung, die Uber die
Sclbstorganisicrung hinausgeht.
Hier nur einige Stichworte zur Selbstkri-
tik an der Bcwcqung: Feuerwehrpolitik,
Kampagnen Auf unJ Ab. leichte Vcrcin-
nahmbarkeit durch den Reformismus. In-
tegration von besetzten Häusern, unver-
netzte Klcingruppcn-Politik, informelle
Hierarchie. Mythos von riots, Defensive
und Hilflosigkeit gegenüber den Angrif-
fen auf Flüchtlinge.
Theoretische Lücken
Ich bin nicht die Einzige, der theoretische
Lücken der RAF auffallen. Diese Lücken
bestehen gerade dort, wo Widerstand
Selbstkritik und der Einstellung des be-
waffneten Kampfes: Für eine
Zuerst einmal habe ich mich über den "revolutionäre Entwicklung", die nun
Beitrag des kommunistischen Genossen weniger militärisch am Angriffsziel gc-
in der Interim Nr. 208 gefreut. Ich nehme gen die imperialistische Strategie gese-
76
eben nicht allein gegen die Kapitalstrate- sagt, daß ihr aus der Bewegung der An- EINE FEMINISTISCHE
gic, gegen Militär- und Staatsapparate fang 80er Jahre kommt ? roiTIlf
entwickelt wurde (NATO/MIK). Diese Fragen klingen vielleicht sehr kri- KK1 1 1K
Die inneren Widersprüche im Kapitalis- tisch, aber mehr noch sind sie mir wich-
mus lassen sich miidertnple oppression tig. Ich bin mit all diesen Fragen auch Im Januar 1992 tritt die sogenannte kgi-
beschreiben. Die äußeren würde ich ver- nicht allein. Die RAF schreibt und kriti- initiative' (kgt = koordinationsgruppe ter-
ktlrzt als Imperialismus der triplc oppres- siert. daß es Leute gab. die sich nicht rorismusbekämpfung) an die öffentlich-
sion bezeichnen. mehr kritisch geäußert haben und daß sic keit, im april verkündet die rote armcc
Auch gibt es inzwischen gute Texte, wie umgekehrt auch nicht kritisiert werden fraktion (raf) die cinstcllung militärischer
Bücher (Angela Davis, Viehmann und wollten. Das soll anders werden. aktionen. am 15. mai wird günther son-
Genossinnen usw.) Übrigens ist kritische Solidarität keine nenberg nach 15 jahren haft entlassen, im
Trotz dieser Lücken würde ich der RAF "bequeme Position", sondern sehr, sehr august bekräftigt und begründet die raf
aut keinen Fall unicrstcllen, daß es ihr unbequem, denn sie übernimmt politi- die grundsätzliche auigabe des bewaffne-
nicht um eine revolutionäre Entwicklung sehe Verantwortung. ten kampfcs. ende Oktober erklärt ein teil
geht; oder daß sic sich auf einen In vollem Bewußtsein der Unterschiede der gefangenen ihrerseits die prinzipielle
"bewaffneten Reformismus" hinbewegt, das Verbindende suchen. abkehr vom bewaffneten kampf. und daß
wie cs der Genosse pro Kommunismus
glaubt.
die RAF hat das letzte Jahrzehnt offen-
sichtlich einen eindeutigen praktischen
Standpunkt bezogen, der nicht mehr zu-
riickzunchmcn geht.
RASSISMUS in d*r BRD kann aller-
dings tatsächlich nicht mehr nur auf der
Erscheinungsebene kritisiert werden. Die
Wichtigkeit des antirassistischen bzw.
antifaschistischen Kampfes wird immer
dringender - sowohl die militante Ge-
genwehr als auch eine politisch-revolu-
tionäre Ebene.
PATRIARCHAT / SEXISMUS: Für
mich als Frau war cs besonders frustrie-
rend, fast schon zynisch, darüber nur ei-
nen Satz in der Erklärung zu lesen:
"Steigende Gewalt gegen Frauen. Kinder
und alte Menschen..“.
Offene Fragen an die Genossinnen der
RAF
Habt ihr die Texte um die “triplc oppres-
sion" gelesen oder nicht? Warum meßt
ihr diesen Diskussionen so wenig Bedeu-
tung bei?
Warum habt ihr scheinbar immer noch
Probleme mit dem Begriff Arbeiterin-
nenklasse?
Könnt ihr was zu den alten "Neuer Fa-
schismus "-Debatten der RAF im Zu-
sammenhang mit den aktuellen Angriffen
gegen Flüchtlinge u.a. sagen?
Denkt ihr, daß der Aufbau einer
"Resistance" notwendig ist?
Warum schreibt ihr Frauen aus der RAF
nichts zu eurer eigenen Entwicklung, zu
eurer Unterdrückung als Frauen, aber
mehr noch zu eurem Widerstand als
Frauen in der Guerilla?
Hatten die Frauen und Männer der RAF
keine Auseinandersetzungen mit femini-
stischen Frauen?
Anfang der 80er konstituierte sich doch
überall ein neues Frauenspektrum, die
mit den damaligen Kämpfen im Wider-
stand verbunden waren? Die Rote Zora
gewann damals an Bedeutung. Hatte dies
keinen Einfluß auf euch? Obwohl ihr
sie persönlich diesen im falle ihrer frei-
lassung nicht wiederaufnehmen werden,
mitte november ist entschieden worden,
daß bemd rüssner. der zuvor im knast in
kassel eingesperrt war. seine haft für 18
monatc in einer therapeutischen cinrich-
tung unterbrechen darf,
zu fragen bleibt: was geht hier eigentlich
vor und wie geht cs nun weiter? und da-
vor noch die frage: wamm beschäftigen
sich feministinnen überhaupt damit? zu-
nächst zur zweiten frage:
die ereignisse des letzten jahres im Zu-
sammenhang mit der raf. dem bis dahin
existierenden bewaffneten kampf in der
brd und den politischen gefangenen in
bundesdeutschen geflngnissen sind ein
ausdruck der gesamten politischen ent-
wicklung. gleichzeitig bestimmen diese
Vorgänge die heutigen und zukünftigen
politischen und gesellschaftlichen realitä-
ten mit, innerhalb derer wir fraucn/lcsbcn
leben und uns bewegen, darüber hinaus
ist cs notwendig, sich sozusagen ‘ins in-
nere' dieser auseinandersetzungen zu be-
geben und zwar aus verschiedenen grün-
den:
die antiimperialistische bewegung und
die raf haben lange zeit auf internationa-
listischer grundlage gegen Staat und kapi-
tal gekämpft, gemeint sind hier all dieje-
nigen bewegungen, gruppen, Organisa-
tionen, die mit grundsätzlich antiimpe-
rialistischem anspruch gegen Staat, kapi-
tal und Imperialismus vorgehen.
nicht zufällig kämpften viele frau-
en/lesben in der antiimperialistischen
bewegung. nicht zufällig sind viele von
ihnen aus der bewegung ausgetreten, um
sich dem feminismus zuzuwenden, frau-
en wurde und wird vor allem in der ab-
Ichnung, dem sogenannte ’bnich mit den
herrschenden Verhältnissen’ in der anti-
imperialistischen bewegung eine ver-
meintliche aniwort auf das eigene leben
und erleben im patriarchal suggeriert, die
antiimperialistische bewegung richtet
sich aber weder subjektiv - d.h. ihrer
praktischen arbeit und ihrem anspmch
nach - noch objektiv gegen die tatsächli-
chen Grundlagen des imperialistischen
77
Patriarchats. gegen die ökonomische, se-
xuelle, emotionale und psychische aus-
bcutung nicht des menschen durch den
menschen. sondern der frau durch den
mann, die praktische auswirkung dieser
’begrenzung’ erleben trauen innerhalb der
gcmischt-gcschlechilichen linken immer
wieder als brachiale kluft. letztlich be-
steht aufgrund einer gänzlich verschiede-
nen klassenanalyse samt deren auswir-
kungen auf alle bereiche des lebens und
vor allem den daraus folgenden unter-
schiedlichen Perspektiven und zielen des
kampfes ein unüberwindbarer interessen-
gegensatz zwischen dem feminismus und
der antiimperialistischen bewegung. trotz
dieses antagonismus besteht ein kritisch-
solidarisches Verhältnis zwischen dem
feminismus und bewegungen, gruppen,
Organisationen, die mit antiimperialisti-
schem anspruch gegen die herrschenden
Verhältnisse” vorgehen. solidarisch sind
feministinnen mit ihnen überall dort, wo
ihr kampf, ihre kampfziele mit feministi-
schen Ubereinstimmen, der feminismus
aber mit dem umfassendsten anspruch:
die befreiung der frauen weltweit, muß in
theorie und praxis antworten auf die
weitreichendsten politischen fragen fin-
den. der feminismus muß die allgemein-
ste und somit die konkreteste Perspektive
zur befreiung aller frauen und somit auch
aller männer weltweit beinhalten, hier
beginnt die feministische kritik: jeder pa-
triarchal geführte kampf und somit auch
der der antiimperialistischen bewegung
der brd kann nur um teilziclc kämpfen -
staat/kapital/impcrialismus stellen nur
Segmente im patriarchat dar. wichtige
zwar: werden jedoch sie allein bekämpft,
bleibt das patriarchat bestehen und orga-
nisiert sich neu gegen die frauen. cs ver-
steht sich von selbst, daß die feministi-
sche Auseinandersetzung eine andere gc-
schichtsforschung, andere organisations-
formen und Strategien hervorbringen
muß.
die weiße frauen-bewegung in ihrer ge-
samtheit hat viel geforscht und analysiert
über die grundbedngungen vor allem
von weißem frauenleben in geschickte
und gegenwart. obwohl diese forschung
in ihren anfängen steckt, hat sie doch ei-
ne fülle von erkenntnissen über die ver-
schiedensten formen der ausbeutung. Un-
terdrückung und Vernichtung von frauen
auf ökonomischer, politischer, sexueller,
emotionaler, kultureller, spiritueller,
psychischer und physischer ebene hcr-
vorgcbtacht. auf dci anderen sette gibt cs
von hier aus viel weniger anstrengungen,
die bedingungen des lebens von frauen
anderer hautfarben, kulturen, aus anderen
teilen der weit grundsätzlich begreifen zu
lernen, die folge davon ist, daß es hier
kaum eine detaillierte forschung und ein
wissen um den Zusammenhang der aus-
bcutungsvcrhaltnisse von frauen weltweit
gibt, und es gibt wenig bis keine Schluß-
folgerungen aus all dem. wie und mit
welchen mitteln eine grundlegende Auf-
hebung patriarchaler hcrrschaft möglich
sein wird - die internationale feministi-
sche revolulion.
die erkenntnisse aus der feministischen
und frauenforschung werden nicht in ei-
ne klassenanalyse umgesetzt, woraus sich
der gmndcharakter der auseinanderset-
zung ergibt - ein antagonistisches Ver-
hältnis von internationalem feminismus
und imperialistischen patriarchat.
cs gäbe bände zu schreiben über die Vor-
gänge des letzten jahres samt der jeweili-
gen crkläningcn der verschiedenen seiten
und beteiligten, und anhand derer wäre
eine schier unermeßliche fülle von fal-
schen grundlagcn, grober fchlcinschät-
zung, eigennütziger geschichtsverdre-
hung, reformistischer anbiederei und ein-
fach patriarchaler, systemtragender Posi-
tionen aufzudecken.
ich beschränke mich und werde im fol-
genden anhand einiger grundlegender
diskussionspunkte zur bedcutung und zu
den auswirkungen der cntschcidung der
raf und der aktuellen entwicklung des
kampfes der politischen gefangenen aus
feministischer sicht Stellung beziehen.
aschenputtel und andere marchen
oder: was ist die
"freilassungsdebatte"?
mit der sogenannten
'freilassungsdebatte” ist seit anfang des
jahres 1992 zu erleben, daß das System
seinen sieg über das kapitel bewaffneter
kampf in der brd feiert, die politischen
gefangenen sind ein "politisches erbe"
aus der zeit davor, das nun aufgctcilt
wird: die guten ins töpfchen, die schlech
ten ins kröpfchcn.
seit nunmehr rund einem jahr ist die öf-
fentliche austragung eines zug-um-zug-
"spicls" zu beobachten, der startpfiff fiel
mit dem Vorschlag der koordinations-
gtuppe terrorismusbekümpfung zur haf-
tcntlassung von 7 gefangenen, die kgt be-
steht aus Mitgliedern der bundcsanwalt-
schaft, des Verfassungsschutzes, des
bundeskriminalamtes, des bundesinnen-
ministeriums, des bundesjustizministeri-
ums. schon bei der aufzählung dieser
mitgliedschaften wird deutlich, daß die
kgt nichts anderes ist, als die effekti-
vierte. weil direkte Verschmelzung von
sogenannter offizieller icgieruiigsebene,
polizei und gchcimdicnstcn. diese eh-
renwerte gesellschaft bringt also in die
diskussion, bestimmte gefangene freizu-
lassen. teile der gefangenen schwenken
darauf ein. die alte mär von gegeneinan-
der ausspiclbarcn vcrhandlcm und bc-
tonköpfen im System wird aufgewärmt.
so sollen mehr linke draußen auf diese
linic verpflichtet werden, der damalige
bundesjusti/.minisier kinkcl und damit
der offiziell-öffentliche Staat steigt in die
debatte ein. die raf gibt ihre gcwultvcr-
/ichtserklärung ab. das alles im dienste
der neuen politik'. die raf erklärt den
Staat /um Verhandlungspartner und er-
kennt das gewaltironopol des Staates
an... die letzte runde im Zeitgeschehen
ist. daß bestimmte gefangene "der gewalt
abschwören'', zum ersten mal haben da-
mit gefangene aus dem
"gefangenenkollektiv" offen nur für sich
selbst gehandelt, parallel läuft die politi-
sche isolierung der 'unverbesserlichen',
deren vcmichtungshafibedinguiigcn da-
mit ein weiteres mal als "selbstgewollt''
legitimiert und verschärft werden kön-
nen.
die "neuen politikcnnncn und politiker-
erklären den kampf für die Zusammenle-
gung sowohl praktisch als auch als politi-
sche Orientierung für überholt, sic erklä-
ren das ziel der freilassung der politi-
schen gefangenen als einfacher, realisti-
scher. als das ziel, bessere bedingungen
im knast durchzusetzen, in den anfängen
begründete die raf ihren kampf noch mit
dem wissen, daß "foiter kein revolutionä-
rer kamplbcgriff ist"; bliebe folter, re-
pression im weitesten sinne zentrales
moment im widerstand, würde wider-
stand zum "moralischen rcflcx” und rich-
te sich schlußcndlich gegen die politi-
schen gefangenen, weil die inhalte. für
die sic kämpfen und cingcspcrrt sind, ne-
giert und bedeutungslos würden, wer im
knast nicht auf die "neue politik" cin-
schwenkt. darf für sich selber sorgen
bzw. im knast verrotten?
für die feministische bewegung muß das
bedeuten, daß sie die gefangenen, die
diesen aus verkauf nicht mitmachen, urv
tcrstützl. sic wird an dem ziel der befrei-
ung aller politischen gefangenen fcsthal-
tcn.
in einer Situation der schwäche der linken
- wie z.b. heute - führt der weg raus nur
über die aufgabc der politischen identität.
für die individuelle suche nach wegen
raus aus dem knast gibt cs immer ver-
ständliche gründe, sic sollten aber auch
als solche kenntlich gemacht werden,
der Charakter der diskussion der letzten
monate in bezug auf den knastkampf
wird verschleiert mit den pseudonymen
"realistisch", "durchsetzbar", mit diesen
begriffen gibt der Staat die ebene der
Auseinandersetzung vor. der widerstand
draußen soll auf diese ebene verpflichtet
werden, (s. dazu die crklärung der raf
zum anti-weltwirtschaftsgipfcl-trcffcn in
münchen: '...wir haben gesagt, daß es für
uns ein wesentlicher bestandteil in dem
jetzt notwendigen aufbauprozeß ist, die
freiheit unserer gefangenen genosslnnen
78
zu erkämpfen. ..cs muß die sache von al-
len sein, die ein ende der folter. die die
freiheil der politischen gefangenen wol-
len. in diesem kampf Verantwortung und
initiative zu übernehmen... raf.
29.6.1992).
eine dem kalkül des Staates entgegen-
kommende politik.
die ullgemcinpulitischc diskussion kreist
folgerichtig um "das neue", "die politi-
sche debatte". die zu führen ist, zu orga-
nisieren ist, zu "schützen" ist (gegen
wen?) und darum, daß in Zeiten allge-
meiner ver-gewilt-ung aller lebensberei-
che es keine revolutionäre gcwalt geben
könne, das ist d« ebene der sogenannten
"Sozialpartnerschaft”,
die letzten knapp 10 jahre betrachtend:
die gefangenen forderten die Zusammen-
legung und wurden draußen unterstützt,
die sogenannte 'gmßaktion an die politi-
schen gefangenen" war 1984 der versuch,
die Situation im knast und die forderen-
gen der gefangenen in weitere kreise hin-
cinzutragcn, Öffentlichkeit gegen die
kriminalisierung der zusammcnlcgungs-
forderung zu schaffen, mit mehr leuten
Uber die bedeutung der politik. für die
die gefangenen einsaßen, zu diskutieren,
gerade noch vorher brachten damals so-
genannte "links-intellektuelle kreise" die
"amnestickampagnc" ins rollen, deren
begriindung davon ausging: 'jeder
kampf, der gerechte, wie der ungerechte,
ist einmal entschieden, wenn Sieger und
Verlierer fcststchen, hört der kampf auf ...
daß die raf und die gesamte linke in der
brd verloren hat und besiegt ist, ist ein
unbezweifelbares faktum." (wolfgang
pohrt, konkret-reporter) dies hatte 3
ziele:
1. taktisch die bewegung draußen zu ent-
solidarisieren
2. die gefangenen zur aufgabe ihrer poli-
tischen identität aufzurufen, bzw. die be-
dingungen eines möglichen deals in
scheinbar linke Vokabeln zu fassen, und
schließlich
3. den bewaffneten kampf für beendet,
weil gescheitert zu erklären.
auch die zweite argumcntationslini:. die
heute wieder der hraten schmackhaft ma-
chen soll, war damals schon formuliert
und vom “komitee für grundrcchte und
demokratic" vertreten, nämlich die soge-
nannte "einsicht. daß das harte repressi-
onskonzept in eine sackgasse mit demo-
kratisch-rechtsstaatlich tödlichen folgen"
geraten sei. heutzutage wird der soge-
nannten kinkelfraktion als "verhandler”
im gegensatz zu den "betonköpfen" diese
"einsicht" zugcschricben, um die ver-
handlcr für die linken salonfähig zu ma-
chen.
die neue rhetorik des reformismus -
oder -
der spate anschluß ans positive denken
im wassermannzeitalter
die politische fUhreng der kpdsu hat
mitte der 80er jahre eine politisch-ideo-
logische Stilrichtung mit bürgerlich-reak-
tionären inhalt entwickelt, diese sollte
fortan die innen- und außenpolitische
praxis der Sowjetunion begründen, das
sogenannte neue denken der perestroika
stellt lediglich den höhepunkt der revi-
sionistischen entwicklung dar und setzt
somit wahrscheinlich insgesamt den end-
punkt des revisionismus selbst, die zur
zeit dominierende fraktion behauptet eine
grundsätzliche Veränderung der interna-
tionalen läge durch den entwicklungs-
stand der kommunikationssjstcmc und
der Waffentechnologie, durch den dro-
henden ökologischen kollaps sowie die
"soziale Zeitbombe" der Verelendung im
trikont. ein fundamentales intcresse am
erhalt der Zivilisation, der menschheit
schlechthin verbinde nun die
'weltgemeinschaft'. jenseits politisch-
ökonomischer systemunterschiede müsse
sie nun gemeinsam nach lösungen su-
chen. Voraussetzung dafür sei, selbst
neue wege zu gehen und gewohnte be-
trachtungsweisen zu krieg und frieden
abzubauen, aufgeklärte teile der westli-
chen kapitalistischen weit mußten und
könnten sich angesichts der drohenden
katastrophe zur friedensfähigkeit hinent-
wickeln. sogenannte "regionale kon-
fliktc". die den Weltfrieden gefährden,
sollten um den systcmwidcrspruch er-
leichtert "praktikablen lösungen" zuge-
führt werden.
das neue denken mit seiner grundprä-
misse der weltumspannenden interes-
scnsgleichheit der menschen als rein bio-
logische kategorie, ungeachtet ihrer klas-
senzugehörigkeit und damit ungeachtet
sexistischer und rassistischer ausbeutung
und Unterdrückung, ist weder neu noch
cmanzipativ. cs gleicht immer mehr dem
reformismus, den wir hier schon lange
kennen.
die lediglich neue rhetorik des revisioni-
stischen patriarchats akzeptiert und ver-
söhnt sich mit dem kapitalistisch-impe-
rialistischen patriarchal, sie untergräbt
jede - auch patriarchale traditionelle mar-
xistisch-leninistische kapitalismus- und
imperialismusanalysc. negiert jedes ob-
jektive klasseninteresse und setzt an die
stelle der notwendigkeit des klassen-
kampfes "die suche der mcnschcn nach
neuen wegen zu politischen lösungen für
akute, die gesamte menschbeit betref-
fende problcmc"!
nicht die neuerdings allseits festgestellte
veränderte Weltlage hat diese politische
Ideologie hervorgebracht, die gesamte
entwicklung entsteht aus der dialcktik der
klasssnkämpfe. umgekehrt hat das neue
denken erst den politischen raum eröffnet
und die legitimation verschafft für die
politischen, ökonomischen und militäri-
schen maßnahmen der sich im Umbruch
befindenden real-sozialistischen Staaten
zur beteiligung am aulbau der “neuen
weltordnung".
der bürokratische Sozialismus löste sich
zuerst ideologisch und im nachgang
praktisch auf. die ergebnisse sind im zer-
fall der politisch-ökonomischen Systeme
und in der territorialen auflösung der
Staaten des ehemaligen Ostblocks zu se-
hen. folge ist weiter die auflösung von
wirtschafts- und handclsabkommen, die
in einigen ländern der drei kontinente ei-
ne teilweise wirtschaftliche entwicklung
außerhalb des diktats des kapitalistischen
Weltmarktes und der knebclpolitik von
iwf und weitbank ermöglichten, die aus-
wirkungen dieses Zerfalls sind außerdem
kriege und blutige sogenannte
"nationalitätenkonflikte" in den ehemali-
gen Ostblockstaaten, die cinstellung mili-
tärischer und wirtschaftlicher "hilfe"
(materieller abhängigkeit und somit ideo-
logischer und praktische kontrolle) für
die lünder in den drei koatinenlcn und ih-
rer berreiungsbewegungen. weiter die ra-
pide ansteigende Verarmung afrikas. des
trikonts überhaupt, auch Osteuropas, die
ausweitung von flüchtlingsbewcgungcn,
vor allem von frauen und kindem. das
sprunghafte anwachscn faschistischer
gcwalt in den nictropolcn u.v.m. darin ist
z.b. die "konkrete forderung nach schul-
denstreichung" längst kein thema mehr,
die gläubigerseite - kapitalistisch-impe-
rialistische Staaten und internationale
banken - erlassen den ruinierten Volks-
wirtschaften aus eigenen politisch Öko
nomischcn erwägungen und intercssen
die groteskgigantischen zins- und schul-
denberge teilweise oder sogar ganz, er-
gebne der beendigung des kalten krieges
ist die einsetzung der uno als eine die
ganze weit beherrschend? regierung unter
der direkten kontrolle der stärksten kapi-
talfraktioncn. direktes ergebnis ist die
anneklion der ddr durch die brd. die Hun-
gerblockade z.b. gegen cuba genauso wie
der gemeinsame krieg der "zivilisierten
weltgemeinschaft" gegen die arabische
region.
direktes ergebnis ist aber auch die mithil-
fe der imperialistischen länder an der Zer-
störung jugoslawiens, das ihnen als ur-
sprünglich antiimperialistisches projekt
im wege stand, ergebnis ist die besetzung
79
Somalias durch us-soldaten, zur strategi-
schen kontrollc afrikas. ergebnis ist die
erneute bombardierung des iraks und die
durchsetzung der erttwaffnung des Iraks
die weltweite sozialistische bewegung.
hier verstanden als die Staaten des büro-
kratischen Sozialismus, marxistisch-leni-
nistische befreiungsbe wegungen, Partei-
en und Organisationen weltweit, zog bei
der ideologischen wende beinahe aus-
nahmslos mit - sei es aus eigeninteresse
ihrer bürgerlich-patriarchalen führungen
oder aus dem zwang der sich verschär-
fenden Verhältnisse.
das imperialistische patriarchal baut die
'neue weltordnung’ von oben her auf. um
darin erfolgreich zu sein, benötigt cs und
bedient es sich maßgeblich der mitwir-
kung von ehemals cppositionellen Partei-
en. Organisationen und bewegungen. die
sich die grundzüge des neuen denkens zu
eigen gemacht haben,
was hat das nun mit dem heutigen thema
zu tun?
die raf und mit ihr ein teil der hiesigen
antiimperialistischen bewegung reiht sich
mit ihrer "suche nach neuen wegen" in
genau diese entwicklung ein.
in den crklärungen der raf von april und
august und in jener an die teilnehmerin-
nen und teilnchmcr des anti-weltwirt-
schaftsgipfcl-kongrcsscs sind die grund-
zlige der oben skizzierten neuen rhetorik
des reformismus samt seiner bürgerlich-
idealistischen. kapitulationistischen und
chauvinistischen inhalte wiederzufinden,
ausgangspunkt der raf in ihren crklärun-
gen zur beendigung des bewaffneten
kampfcs ist eine "veränderte weit", in der
es "tausend probleme" gibt, die "nach lö-
sungen schreien”, weil sie sonst die
"ganze mcnschhcit in die katastrophe
führen", die jeweiligen befreiungsbewe-
gungen und "Völker - sind auf sich selbst
zurückgeworfen, sie müssen aus "ihrer
speziellen geschichte und ihren bedin-
gungen" ohne die althergebrachten Wahr-
heiten aus der zeit des kalten Krieges
"authentische ziele" und "Lösungen"
entwickeln, cs ist eine weit, in der die
menschen das recht auf die erfüllung
"unmittelbar konkreter bedürfnisse gegen
die herrschenden durchsetzen“ müssen,
in der alle althergebrachten Wahrheiten,
analysen und erkcnnlnissc überdacht und
aufgegeben werden müssen, um raum für
neues, lebendiges, lösendes, politisches
zu öffnen.
politischen inhalt. Umsetzung und aus-
wirkungen der raf-schen neuen rhetorik
des reformismus werde ich im folgenden
exemplarisch verdeutlichen.
von der marxistisch-leninistischen
klasseranalyse
mit großen blinden flecken zur
fehlenden klassononalyse und zum
Subjektivismus
auf die frage, wie cs dazu gekommen ist.
kann ich hier nicht so cingchcn. wie cs
nötig wäre.
in der april- und august-crklärung der raf
1992. sowie in der darauffolgenden dis-
kussion innerhalb der gcmischt-ge-
schlechtlichen linken (mit wenigen aus-
nahmen) hat dieses angeschlagene politi-
sche bewußtsein nur ein ausmaß erreicht,
das eindeutig als reformistisch bezeich-
net werden muß.
von dem in sich schon unvollständigen
antagonismus "Proletariat"
"bourgeoisie" ist nichts mehr übrigge-
blieben. die rede ist nur noch von
"menschen". im kontext der
"herrschenden Verhältnisse" von
"menschen" zu sprechen, negiert die ge-
samte ausbeutungs- und gewalthicrarchic
im imperialistischen patriarchal, cs ist
gewiss kein zufall. der entsprechende
griechische begriff ’homo' bedeutet über-
setzt gleich, entsprechend mann, die in
der Verwendung des begriffes 'mensch'
liegende negation von unterschiedlichen
ausbeutungssituationen kann nicht al-
leine mit fehlendem politischen bewußt-
scin erklärt werden, ihr liegt ein Subjekti-
vismus zugrunde, der es schafft, sich
selbst als nabelpunkt der weit zu begrei-
fen. nur so wird cs möglich, alles zu ver-
gessen. was über (oder besser unter) das
eigene sein hinausgeht, der "kämpf* wird
so zum eigenen heilungsprozess. zur Ic-
gitimation der eigenen "befreiung".
frauen können sich niemals den luxus er-
lauben, die "eskalation zurilckzunch-
men", für frauen herrscht täglich krieg,
der nur mit einem gegenkrieg von unten
zu überleben ist. dis fehlende ziel: die
befreiung der frauer, in bisher allen patri-
archal-linken Konzeptionen macht deut-
lich. daß der feminismus nicht ein einzi-
ges ausbeutungsverhältnis vergessen
darf, die reformistische, konterrevolutio-
näre entwicklung der raf und der antiim-
perialistischen bewegung ändert das kräf-
teverhältnis aber auch für andere fort-
schrittliche kräftc gegenüber dem impe-
rialistischen patriarchat zum schlechten.
der subjektive bruch mit dem System
- qualltät und Verherrlichung
schon oft wurde oberflächlich analysiert,
daß die raf in ihren anfänpen ein ideolo-
gisches konzept und daraus analytische
kriterien gehabt, diese aber über die jalire
aufgegeben hätte, eine solche bctrach-
tung isi undifferenziert, als produkl der
gesellschaftlichen Widersprüche ihrer zeit
prägten drei ideologische grundelemente
die raf in der brd:
1. eine marxistisch-leninistische klassen-
analysc und cinschätzung der sozialen Si-
tuation für die mctropolen, die sich in
etwa auf der ebene auch anderer kom-
munistischer gruppen der zeit bewegte:
2. eine theoretisch und praktisch intema-
tionalistische/antiimpcrialistische aus-
richtung ihres kampfes:
und
3. - aus der entwicklung der 60er jahrc
hervorgehend - nicht nur das theoretische
wissen von der bedeutung der
"entfremdung" und der "totalität des Sy-
stems' für den kampf in den metropolen.
sondern die praktische antwort darauf als
Perspektive, "der subjektive bruch".
stimmt cs. daß die kämpfenden damals
für die klassenanalyse in den metropolen
und für den internationalistischen kampf
auf ideologische grundsätzc und erfah-
rungen zurückgreifen konnten, so stimmt
es auch, daß sie die ideologi-
schen/politischen kriterien nicht auf den
dritten bereich übertrugen. der
"subjektive bruch" blieb subjcktivistisch.
machte das individuum zur zentralen in-
stanz einer moralischen cntschcidung:
Subjekt ist jede und jeder selbst im kampf
und sich selbst verantwortlich.
aber: jede politischc/gcscllschaftliche
entwicklung entsteht aus der dialektik
des aufstandes von unten gegen die herr-
schaft von oben, jede äußern ng von wi-
derstand ist ausdruck dieses kräftever-
hältnisses innerhalb der gesamtgesell-
schaftlichen bedingungen. auch wir. mit
dem was wir heute wissen und denken,
sind ein ausdruck der gesellschaftlichen
Verhältnisse, in denen wir leben, in der
geschichte der raf hat sich der
"subjektive brach" zu so etwas, wie einer
Zuflucht in der Vorstellung, zur nischc
jenseits der gesellschaftlichen bedingun-
gen entwickelt, und damit zu einer kon-
terrevolutionären idcologie. es gibt aber
weder für einzelne noch für kollektive
die möglichkeit, sich jenseits des gesell-
schaftlichen Kräfteverhältnisses zu defi
nieren und zu bewegen, nichtsdcstotrotz
liegt gerade im aufgreifen der theorien
über die entfremdung und die totalität der
Herrschaft in den mstropolen. in der be-
antwortung dieser realität (dem durchbre-
chen des staatlichen gewaltmonopols) die
Gesellschaftliche bedcutune der raf
80
für die feministische bewegung heute ist
es wichtig, zu verstehen, daß die 'raucn-
bewegung damals und mehrheitlich auch
heute noch organisierte militante politik
vielfach praktisch ablchnt. ja bereits
theoretisch für unangemessen, weil
"unwciblich" erklärt. zurück zur bedeu-
tung des "subjektiven bruchs": als lesbi-
sche feministin ist mir sehr bewußt, wie-
viel kraft freigeset/t wird, wenn flauen
subjektiv "brechen” mit ihrer rolle und
funktion in dieser gesellschaft. im patri-
archat sind männcr aktcurc. also Subjekte
und frauen opfer, also Objekte, daraus
aufzustchen und Subjekt zu sein im
kampf für die tefreiung der frauen heißt
für jede frau persönlich ganz viel, heißt,
erfahrene Verletzungen nicht länger zu
leugnen und zu ignorieren; heißt, die ei-
gene realitüt jenseits von patriarchaler
Verschleierung wahrzunehmen: heißt, die
kraft der frauen. fast alles crlragcn zu
können, um/uwaniieln in den mul, nicht
länger alles ertragen zu wollen!
"der cntschluß. die weit zu nähren, ist der
einzig sinnvolle entschluß. noch keine re-
volution hat diese wähl getroffen, denn
sic verlangt, daß alle frauen frei sind...
solange wir einander nicht finden, sind
wir allein." (adrienne rieh)
"es existiert heute eine Vielzahl von mög-
lichkcilcn, diese gesellschaft zu verän-
dern. cs wäre kriminell und unmensch-
lich. sic nicht aus/unutzen. alles, was
möglich ist. um dieses System zu verän-
dern. muß getan werden, dies ist. so
glaube ich. der tiefere sinn unseres Ic-
bens.'
(mara cagol 1969. als kämpferin der bri-
gatc rosse von den carabinicri 1975 er-
schossen)
seit april 1902 erklären die raf und teile
der gefangenen, warum der deutsche
Staat nun aus der oben genannten cinord-
nung auszunehmen ist. die raf und teile
der gefangenen arbeiten mit mehreren
argumcntationslinicn. da wird cinnul aus
der gcschichtc der brd erzählt, daß es in
diesem land keine "resistancc" gegen den
faschismus gegeben hat, daß cs vor über
20 jahren so aussah. als könnte die brd in
einen "neuen faschismus" abkipper. daß
es damals also gerechtfertigt war. das hi-
storisch versäumte nachzuholen und resi-
stunce zu machen, für heute sei dieses
konzept allerdings überholt, weil de brd
sich als gefestigte dcmokratic erwiesen
habe, (nachzulescn z.b. im spicgel-inter-
view der celler gefangenen imjum 1992)
sie denunzieren erstens ihre eigene ge-
schichtc. da sie nicht als bürgerlich-anti-
faschistische resistancebewegung. son-
dern als kommunistische stadtgucrilla
angetreten sind, zweitens arbeiten sie all-
gemein darauf hin. die erfahrung des be-
waffneten kampfcs als Strategie aktuell
und historisch zu liquidieren.
die brd ist nichts anderes ab die bruch-
lose restrukturicning und re.irganisation
der eieichen herrschafts- und ausbeu-
tungsinteressen, die einige jihrc vorher
ihre gewinne mittels faschismus, Völker-
mord und krieg sicherten, unter der
schwarz-rot-goldenen fahne der demo-
kratic benutzten und benutzen gerade die
herrschenden die drohung vom
"wicdcrhcfcinbrcchcii des faschismus“
als katastrophenszenario zur Icgitimation
der von oben bewachten rote und Ord-
nung des bürgerlich-kapitalistischen Pa-
triarchats. millionen gürtcl sollen enger
geschnallt werden, damit das deutsche
kapital und sein Staat mit dein so heraus-
gepreßten gcld das aggressive vorantrei-
ben seiner imperialistischen großmacht-
plane finanzieren kann (Stichwort: annek-
tion der ddr. Zugriff auf die markte in
Osteuropa, südost-asien usw., eg und
großrau mformierung. bundeswehr im
■fllcdcnsclusatz'. Schließung der grenzen
gegen flüchtlinge usw. usf.). am sich ge-
gen verschärfende gegensätze im innem
abzusichem. werden alte und neue fa-
schisten real und medienwirksam aufge-
baut und benutzt als Icgitimation. um das
hollwerk des deutschen Staates funktion-
stüchtig aiszubaucn. in diesem soge-
nannten "klima der angst" rufen plötzlich
nicht nur 'bundesdeutsche normalbürgc-
rinnen und normalbürgcr" nach einer
weise lenkenden Ordnungskraft, da
"akzeptieren" auch viele linke "das klei-
nere über.
frauen sind aul'grond ihrer Sozialisation
auf frieden und harmonie eingeschworen,
wir beobachten, daß auch viele linke
frauen immer mehr vor der kenfrontation
mit den Verhältnissen zurückweichen,
protestieren, wachen, sich zurtckzichcn.
feministinren wissen, daß die herr-
schende realität immer beängstigender
wird, aber sie wissen auch, daß sich duk-
ken nicht vor schlagen schützt, daß die
herrschenden die Unsicherheiten benut-
zen wollen, um die einen gefügig zu ma-
chen und zu integrieren und die anderen
zu isolieren und anzugreifen,
frauen haben ein großes selbstschutzin-
tcrcssc. sowohl diesen kern faschistischer
ideologie und gewaltausübung zu be-
kämpfen, als auch deren Verkörperung in
form konkreter faschistcn/münncr.
der deutsche Staat benutzt die faschistcn
und die angst der mcnschcn vor faschisti-
scher gewait, um seine macht zu festigen,
und wer. wie die celler gefangenen, in
dieser zeit fcststcllt. daß die brd sich ge-
gen einen "neuen faschismus" als bürger-
liche demokratie behauptet hat, dic/dcr
handelt mit bewußter absicht. macht Pro-
paganda für das System und gibt dem
Staat dcckung gegen links,
die raf betont außerdem, daß wir in einer
zeit leben, in der die gewait so weit bis in
jede zwischenmenschliche beziehung
vorgednmgen sei. daß «Jas mittel der gc-
walt damit stumpf und entwertet und so-
mit aufzugeben sei - und alle müßten nun
"ganz neu überlegen",
dem feminismus ist ein gewisses be-
wußUein über das ausnuß der strukturel-
len und individuellen gewait während der
letzten zwei- bis viertausend jalire von
männern gegenüber frauen vor allein in
"zwischenmenschlichen beziehungen" zu
verdanken, wer so argumentiert, ent-
waffnet den aufstand \on unten: direkt
und geschichtlich, psychologisch, emo-
tional, politisch.
der feminismus beinhaltet allerdings kei-
neswegs kommunistische konzepte wie
z.b. das avantgarde-kenzept einer be-
waffneten stadtgucrilla!
-gewait" ist ein begriff, der in den letzten
monaen verstärkt in der sogenannten öf-
fentlichen diskussion auftaucht, dahinter
stellt ein bewußtes unü • wie es scheint -
leider auch erfolgreiches system:
"gewait" wird durch die dauernde beru-
fung zur schlänge, vor der die kaninchen
erstarren, jede gesellschaftliche ausein-
andersetzung soll so auf die sogenannte
"demokratisch-rechtssiaailiche“ ebene fi-
xiert werden.
die öffentliche gewaltdebatte ist insofern
ein strategischer countcrzug des Staates,
denn - solange eine fixierung gelingt - ist
dies die festschreibung der herrschenden
gcwaltverhältnisse. es ist notwendig, öf-
fentlich zu unterscheiden zwischen fa-
schistischer gewait, gcwaltmonopol des
Staates und rebellion von unten; es ist
notwendig, Position zu beziehen,
wenn die raf ihre aufforderung zum ge-
walt verzieht gefühlsbetont zu untermau-
ern versucht mit dem jammer: "wir haben
immer nur auf den feind gestarrt, uns nie
um uns gekümmert", dain ist das nicht
nur unpolitisch und entpolitisierend,
sondern sexistisch und rassistisch, aus-
druckdcr Privilegien weißer männer (und
sich daran orientierender weißer frauen).
ein privatisierendes päuschen, wie die raf
es vorschlägt, heißt mehr vergewaltigte
frauen. mehr sexuell ausgcbcutete mäd-
chen. mehr diskriminierung und entwür-
digung, mehr ökonomische ausbeutung
für jede einzelne und für unser ge-
schieht als sozial unterdrückte klassc,
heißt das fortbcstchcn, die fcstigung der
hcrrschaft.
"ich bin nicht frei, solange noch eine ein-
zige frau unfrei ist auch wenn sie ganz
andere fesseln trügt als ich. ich bin nicht
frei, solange noch ein einziger farbiger
mcnsch in ketten liegt, und solange seid
auch ihr nicht frei." (audre lorde)
in einer gesellschaft. in der weltweit
trauen und mädchen aufgrund patriarcha-
ler machtordnung unterdrückt werden,
vergewaltigt werden, ihre gcfühle. ihre
81
kreativität. ihre körper. ihre phamasie. ih-
re lusi. ihre arbeitskraft. ihre intclligcnz.
ihr wissen ausgcbcutet werden, in der
Trauen eine unterstellte, eine kolonisierte
soziale klasse sind, haben Trauen indivi-
duell und kollektiv die bercchtigung. mit
jedem mittel gegen das System ihrer Un-
terdrückung und gegen jeden einzelnen
Unterdrücker vorzugehen! die würde der
Tiuucii zu wahren. ist giund genug, sich
zu wehren. Teminismus ist nicht nur
Selbstverteidigung mit dem rücken zur
wand und dem grauen im herzen. Temi-
nismus ist nicht allein der gesellschaftli-
che rückzug in fraucngemcinschaftcn.
das empören gegen Ungerechtigkeit, die
wut im bauch, die thcoric von Unter-
drückung und Veränderung. Teminismus
ist mehr als die reaktion auT politische
umstände oder materielle bedingungen.
Teminismus ist das bewußtsein, nicht nur
von Ursachen der Unterdrückung, sondern
auch von bedingungen, notwcndigkcitcn.
mögliehkcitcn der Veränderung, dieses
bewußtsein ist nicht abstrakt, sondern ist
die benennung von verantwortlichen, täg-
lich, nächtlich, privat und öfTentlich. hier
und international!
hamburg, den 20. Tebruar 1993
Die RAF - eine nachho-
lende Resistance?
Die BRD - eine gefestigte
Demokratie?
Auszüge aus dem KONKRRT-Inter-
view der Celler GeTangenen (6/1992)
und dem <7dr(mo(/-Beltnig von Lutz
TauTer
In der in dieser Broschüre abgedmekten
“Feministischen Kritik" an der neuen
RAF Politik heißt cs: "da wird einmal aus
der geschichte der brd erzählt, daß es in
diesem land keine ’rdsistance' gegen den
Taschismus gegeben hat. daß es vor Uber
20 jahren so aussah, als könnte die brd in
einen ‘neuen Taschismus' abkippen. daß
es damals also gerechtfertigt war. das hi-
storisch versäumte nachzuholen und r£si-
siancc zu machen, für licutc sei dieses
konzept allerdings überholt, weil die brd
sich als gefestigte demokratie erwiesen
habe, (nachzulesen z.b. im spicgel-intcr-
view der celler gefangenen im jun
1992). sie denunzieren erstens ihre eige
ne geschichte. da sie nicht als bürgerlich
antifaschistische i&istancebewegung
sondern als kommunistische stadtguerill
angetreten sind, zweitens arbeiten sic all
gemein darauf hin. die erfahrung des be-
waffneten kampfcs als Strategie aktuell
und historisch zu liquidieren.“ Die Ver-
fasserinnen sind dafür verschiedentlich
der Lüge geziehen worden. Zwar gibt es
kein “spicgcl-interview der celler gefan-
genen im juni 1992“. Inhaltlich wollen
wir es aber unseren Leserinnen überlas-
sen, selbst zu entscheiden, ob sie die
These der Verfasserinnen der feministi-
schen Kritik für eine Lüge, oder für die
polemisch Herausarbeitung einer Ten-
denz. die sich auch in der Argumentation
der Celler Gefangenen findet, halten.
J. Aus dem KONKRET-Inlcrvicw
“Täufer: [...J
Unsere Einschätzung damals war. daß
sich der Imperialismus 'in der strategi-
schen Defensive' befindet. Es waren
weltweit und zeitgleich Kräfte gegen das
US-dominiertc imperialistische Weltsy-
stem heraufgewachsen, und vor dem
Hintergrund von Auschwitz und Viet-
nam war cs politisch und moralisch
denkbar, auch mit dem Versuch des be-
waffneten Kampfs m den Zentren des
Imperialismus, diesem Aufstand mit al-
len Kräften beizutreten. Die schillernde
Haltung, die Politik, Wirtschaft, Ju-
stiz, Militär zur faschistischen Ver-
gangenheit. und die eindeutige Position,
die sie für den Genozid in Vietnam ein-
nahmen. ließ darüber hinaus die Frage
offen, ob der Faschismus in Deutsch-
land wieder hervorkriechen könnte.
Der bewaffnete Kampf in der Bundes-
republik war gewissermaßen auch der
Versuch einer nachholenden Resi-
stance.
l-l
Die kommende Ära wird die Ära der
sozialen Bewegungen sein, der ökono-
mischen und sozialen Erfindungen.
Vorausgesetzt, es gelingt, den dazu nöti-
gen Raum aufzumachen und konkreter
Utopie endlich mal einen diesseitigen
Sinn zu gehen. Denn die Alternative wä-
re eine sich ausbreitende diffuse Gewalt
und Destruktivität von jenen und gegen
jene, die um ihr Überleben kämpfen. Und
was dann eine RAF zur Gcwaltfragc sa-
gen würde, wäre dieser Eskalation ge-
genüber völlig gleichgültig.
Von dieser veränderten Weltlage
spricht die Erklärung der RAF. Es ist
keine Kapitulation, es ist die konsequente
Neuorientierung auf eine Situation, zu
der die bewaffnete Aktion quer steht.
Gremliza: (...)
Dell wo: (...)
Heute fehlt etwas anderes. Das ist heute
nicht durch die Staatsmacht begrenzt.
Es fehlt der neue soziale Gedanke, so et-
was wie ein neuer historischer Sinn für
die Gesellschaft. Ich weiß, daß es etwas
mit der Eigengeltung von Mensch und
Natur zu tun hat. die wir uns zurücker-
obern müssen. Aber unsere erste Schran-
ke ist heute die Entfremdung in der Ge-
sellschaft.
1-1
Gremliza: (...)
Täufer: (...)
Gremliza: (...)
Täufer: Was die Liebe zum Vaterland
angeht, die von vielen entdeckt wird -
das hat u.a. seinen Ursprung auch darin,
daß der Geist der grundsätzlichen Oppo-
sition gegen den Kapitalismus von 68
über die Legende von der endgültigen
Demokratie liquidiert wurde, die 68 be-
wirkt haben soll. Ich denke, daß die Dis-
kussion, die die RAF jetzt angestoßen
hat. auch die Chance bietet, die letzten
25 Jahre noch einmal neu zu bewerten."
(aus: KONKRET 6/1992, 10 - 19 (II.
12] - Hervorh. d. Hg.).
2. Auszug aus dem Odranoel-Beitrag
von Lutz Täufer
"Eine soziale, eine Sozialrevolutionäre
Bewegung war ‘68‘ r.ur in ersten naiven,
und deshalb um so kreativeren Ansätzen.
In ihrem Wesen war sic Abwehrschlacht
gegen tatsächliche oder vermeintliche
Faschisierung im politisch-staatlichen
Bereich und insofern Wiederholung oder
Verlängerung der antifaschistischen Poli-
tik der Weimarer Arbeiterparteien. Was
wirklichkeitsfern an dieser Bewegung
82
war, war vor allem Spiegel einer patho-
logischen politischen Kultur, in der frü-
here Nazis durchaus etwas zu sagen hat-
ten. der ersten Naclikricgagcncrutic« aber
eins über die Schnauze gezogen wurde,
sobald sie den Mund aufmachte. Die
freudlosen Gcsichtszügc der Negation
sind der Linken - von Ausnahmen abge-
sehen - bis zum heutigen Tage geblieben:
die Abwehrschlacht gegen Staa;. Fa-
schismus. Imperialismus. Nicht zuletzt
in meinem eigenen politischen Milieu.
Die Analysen sind Legionen, in denen
die Herrschenden und ihre Absichten
entlarvt, eigene Vorstellungen aber nur
sehr zurückhalicnd mitgcteilt werden.
Wer zehn, zwanzig Jahre lang in diese
trostlose Sackgasse gestarrt hat. dabei im
aggressiver werdenden Imperialismus
den Beweis entdeckt hat, daß wir alles
richtig gemacht haben, wird so leicht den
Mut nicht finden, einen freien und unab-
hängigen Blick zu riskieren. Der erste
Schock ist mit Sicherheit groß. Jene, die
diese schlechte Unendlichkeit des Negie-
rens noch am ehesten loslasscn könnten,
gehen in die Illegalität. Damit sind wir
sie dann aber auch los. Von dort teilen
sie uns mit, wis dieser oder jerer an
Schweinereien gemacht hat. Als ob diese
Einzelheiten irgendeinen Gebrauchswert
würde ich nicht als Emanzipationsschritt
bezeichnen. Angesichts der globalen
Verhältnisse schon gar nicht.
Die cmanzipalivc, sozial-crfindcrischc
Tendenz. Hat sie auch Überraschendes.
Tiefgängiges hervorgebracht, ist sie doch
meist seltsam zwiespältig und unterer-
nährt geblieben.
Schließlich, was heute gern als gelun-
gene Demokratisierung gesehen wird.
Wäre der Faschismus jene rein
staaLsterroristischc Veranstaltung ge-
wesen, als die wir ihn damals empfun-
den hatten, könnte man das so sagen.
Er war es aber nicht, die
'Demokratisierung' war wohl eher eine
Modernisierung des zweigleisigen Sy-
stems der Macht."
(aus: Lutz Täufer, Gedanken gegen die
Mauern, in: Pizza [Hg.J, Odranoel. Die
Linke — zwischen den Wehen. Verlag
Libertäre Assoziation: Hamburg 1992. 59
- 121 [67 f, 69. 76 f.] - Hervorh. d. Hg.).
Das "System", der "politisch-staatliche
Bereich", hat sich modernisiert - die
Voraussetzungen des bewaffneten Kamp-
fes sind entfallen, "veränderte Weltlage"
halt?!
hätten! 80% aller Jugendlichen fühlen
sich von den Politikern betrogen und be-
logen. "Das legale Land ist nicht das
wirkliche Land.” Von außerparlamen-
tarischen Möglichkeiten in dieser Brei-
te hätten wir vor 25 Jahr nie zu träu-
men gewagt. Wir überlassen es mal wie-
der den Rechten [...].
Einer der Hauptgründe für das Zusam-
mengehen von CDU und SPD war die
heftig umstrittene Verabschiedung der
Notstandsgesetze. Ein Gesetzespaket al-
so, das die Grundlagen für den inneren
Ausnahmezustand regelte. Mehr als al-
les andere sab das nach totalitärer
Entwicklung aus. Kem dieses Pakets
war der Einsatz der Bundeswehr, der
Armee also, zu polizeilichen Zwecken
der Aufstandsbekümpfung. Die Aus-
schaltung des Parlaments war vorgese-
hen. Und das alles schließlich mit legalen
Mitteln. War nicht auch Hitler auf ver-
fassungsmäßigem Weg an die Macht ge-
kommen?! Subjektiv eingezwängt in eine
historische Situation, in der die Vergan-
genheit noch nicht zu Ende war und be-
reits als Zukunft wieder zu drohen
schien, trugen die Notstandsgesetze er-
heblich dazu bei. das alte Trauma wieder
zu wecken.
[-].
Drei Stränge hat 68 entwickelt: den in-
ternationalistischen, der mit dem Viet-
namkrieg steht und fällt. Die spätere De-
nunziation des Internationalismus, die
Kündigung der internationalen Solidarität
Antwort auf den Text
"feministische Perlen vor
antii... E..." (interim 229 )*
Wir wollen zu Eurem Referat Stellung
beziehen.
"Wir* sind deutsche Lesben aus dem
linksradikalcn Fraucn/Lcsbcnspcktrum.
Euer Referat hat in uns widersprüchliche
Überiegungen/üelühle ausgelöst. Gut
fanden wir, daß Feministinncn zu der
jüngsten Entwicklung der RAF Stellung
beziehen, und daß Ihr deutlich macht,
warum eben dies für Feministinncn not-
wendig ist. Ebenso wichtig ist cs. daß Ihr
"Feminismus” auf die ursprüngliche Be-
deutung "Befreiung von sämtlichen Hcrr-
schafisvcrhältnisscn" zurückführt.
Wichtig ist auch, daß Ihr deutlich macht,
daß die RAF Gefahr läuft, reformistische
Politik als “das Neue” zu verkaufen. Wir
teilen diese Befürchtung. Allerdings rich-
tet sich unsere Kritik an die Verknüpfung
der "politischen Ncubcstimmung“ mit der
"Gefangenenfrage", wie wir am Schluß
erläutern werden. Viele Punkte, die Ihr
ansprecht, sehen wir arch als Gefahr.
Wir kritisieren jedoch. daß Ihr mit Unter-
stellungen. Pauschalisierungen und aus
dem Zusammenhang gerissenen Zitaten
arbeitet, die haarsträubend sind. Wir hof-
fen, daß am Ende unseres Textes nicht
der Eindruck entsteht, wir seien unkriti-
sch gegenüber den jüngsten Aussagen
der RAF. NUN DENN:
Aus den Erklärungen der RAF vom April
und August 92 wird erstmal nur deutlich,
daß sic von sich aus die Eskalation zu-
rücknehmen. Was das heißt, sagen sie
konkret: "Wir werden Angriffe auf füh-
rende Repräsentanten aus Wirtschaft und
Staat für den jetzt notwendigen Prozeß
einstellcn.” (An alle, die auf der suche
nach Wegen sind. 10.4.92).
Die RAF hatte bestimmte Konzepte und
sehr genaue Vorstellungen, auf welchem
Wege das System hier gekippt werden
kann. Dieser Kampf ist eindeutig an
Grenzen gestoßen. Diese Erfahrung, wie
auch die veränderte internationale Situa-
tion. einschließlich der Entstehung
"Großdeutschlands'', werfen viele Fragen
auf.
Daß die RAF entscheidet, Ihre bisherige
Form des bewaffneten Kampfes cinzu-
stcllcn, halten wir für legitim. Die Frage
an Euch: Haltet Ihr es für politisch sinn-
voll. als pol. Strategie weiterhin ab und
an einen Repräsentanten dieses patriar-
chal-imperialistischen Systems auszu-
knipsen?
Ihr macht aus der Entscheidung der RAF.
diese Strategie nicht weiter/uführen, eine
Absage der RAF an Gewalt generell. So
sollen die Cellcr Gefangenen in einem
Spiegel-Interview (Juni 92) gesagt haben,
die BRD habe sich als gefestigte Demo-
kratie erwiesen (Deswegen sei Resi-
stance nicht mehr nötig). Dieses Inter-
view haben wir nicht gefunden.
Weiterhin unterstellt Ihr, die RAF
schlage ein privatisierendes Pünschen
vor, und nennt das "rassistisch und sexi-
stisch - (S. 9. in dieser Broschüre S. 80,
Anm. d. Hg.). Was ist daran sexistisch
und rassistisch, wenn eine Guerilla ihre
eigene Art zu kämpfen hinterfragt?
Wie Ihr am Anfang Eures Textes gut her-
ausgearbeitet habt, hat die RAF ihre Ak-
tionen ausschließlich gegen die Herr :
sehenden bzw. ihre Einrichtungen gerich-
tet. Darin hatten allerdings der Kampf
von Frauen gegen Männer, wie auch der
Kampf von Schwanken gegen Weiße und
viele andere Kämpfe keinen Platz. Sie
sind zum Teil nicht einmal als notwendig
erachtet worden.
Wir glauben, daß Ihr Eure Behauptung,
die RAF wolle generell auf Gewalt ver-
zichten. aus den» NDR-Intcrview vom
16.5.92 mit Irmgard Müller, Gabriele
Rollnik, Hanna Krabbe & Christine Kuby
nehmt:
"Aber was sich z.B. auch verändert hat,
ist (....) aber auch die Funktion von Ge-
walt. Hier in der Gesellschaft, was wir
jetzt sehen, ist fine unheimliche Brutali-
sierung (...) wie gesellschaftliche Kon-
flikte ausgetragen werden. Daß also die
Menschen die Gewalt, die auf sic cin-
wirkt (...) gegeneinander wenden. (...).
Die Gewalt, die in den sechziger und
siebziger Jahren was besonderes war und
die auch die Funktion hatte - von unserer
Seite - gesellschaftliche Widersprüche
aufzubrechen, sichtbar zu machen (...)
heute sehen wir auch an anderen militan-
ten Aktionen, daß sich daran (an der Ge-
walt, Anm. von uns) nichts mehr entwik-
kclt." (Hanna Krabbe).
Von dieser Aussage her, habt Ihr mit Eu-
rer Kritik allerdings recht. Nur: diesen
Aufruf zum Gewaltverzicht, wenn es
denn einer ist. finden wir nicht in den
RAF-Erklärungen. Es ist einfach verwir-
rend und führt ausschließlich zu Mißver-
ständnissen. wenn Ihr nicht eindeutig an-
gebt. auf welche Texte Ihr Euch bezieht
und welche Texte speziell Ihr kritisiert.
Zurück zum "privatisierenden Pauschen".
Ihr schreibt: "Ein privatisierendes Päu-
schen. wie die RAF es vorschlägt, heißt
mehr vergewaltigte Frauen, mehr sexuell
ausgebeutete Mädchen usw." (S. 9, in
dieser Broschüre S. 80, Anm. d. Hg.).
Wir sagen: Die Fortführung des Kampfes
der RAF hätte keine einzige Vergewalti-
gung verhindert, da antipatriarchaler
Kampf nie in (deren, Einf. d. Hg.) Theo-
rie und Praxis verankert war.
(Zugegeben, das ist polemisch. Wir wis-
sen. daß Ihr das auch so seht.).
Ihr hättet nur dann recht, wenn die RAF
alle hier lebenden Frauen. Männer. Jun-
gen, Mädchen aufgefordert hüte, in Zu-
kunft gewaltlos für Veränderungen /.u
kämpfen.
Ein weiterer wichtiger Kritikpunkt ist ein
undifferenziertes "Frauenals-Opfer"-
Bild. Es hat uns gefallen, daß Ihr
"Feminismus” wieder mit revolutionären
Inhalten füllt, und daß Ihr deutlich
macht, daß gerade rev. Feministinnen oft
weitergehende Analysen haben als ge-
mischt-geschlechtliche Zusammenhänge.
Auch ist uns bewußt, daß Ihr das Referat
vor gemischt-gcschlcchtlichcm Publikum
gehalten habt, und vielleicht auch des-
halb möglich« widerspruchslos argu-
mentieren wolltet. Trotzdem sind manche
Äußerungen einfach übel bzw. von rei-
nem Wunschdenken gespeist:
"Die feministische Bewegung wird an
dem Ziel der Befreiung aller pol. Gefan-
genen festhaltcn.” (S. 3. in dieser Bro-
schüre S. 77. Anm. d. Hg ).
Schön und gut. und cs solle auch so sein.
Aber gerede Feministinnen haben sich
bis heute herzlich wenig an den Frcilas-
sungs- und ZL-Kampagnen beteiligt (als
Feministirncn).
"Für Frausn herrscht täglich Krieg, der
nur mit einem GeEcnkricg zu überleben
ist." (S. 6. in dieser Broschüre S. 79.
Anm. d. Hg.).
Stimmt ja eigentlich, aber für das blanke
Überleben gibt es insbesondere für weiße
Frauen 1000 Möglichkeiten, die sie flei-
ßig nutzen: Anpassung an heterosexuelle
Zwänge, 'der Charme der Weiblichkeit",
rassistisch-faschistisches Treten nach un-
ten uvm.
"Frauen luben ein großes Selbstschutz! n-
tcresse. sowohl diesen Kern faschisti-
scher Ideologie (...) zu bekämpfen, als
auch deren Verkörperung in Form kon-
kreter Faschisten/Männer - (S 8. in dieser
Broschüre S. 80, Anm. d. Hg ).
HÄTTEN SIE ES DOCH NUR! Auch
diese These sehen wir durch keine Reali-
tät bewiesen. Denn dieses Selbstschut-
zintcrcssc fällt nicht vom Himmel, son-
dern muß sich erkämpft werden. Grade in
jüngster Zeit ist cs doch auffällig, wie
viele deutsche Frauen sich für ihre mick-
rigen Privilegien (die meistens oft eher
idelle Werte sind) entscheiden, statt die
Verhältnisse zu bekämpfen.
Deswegen finden wir Eure Einteilung
"Männer - Täter - Subjekte - Frauen -
Opfer - Objekte - fatal.
Zur Gefangenenfrage
In der BRD gibt es seit 22 Jahren Kämp-
fe der rev. Gefangenen.
In den Mobilisierungen ging cs immer
darum. Forderungen gegen den Staat
durchzusetzen. Und natürlich wurde auch
verhandelt.
Ihr schreibt: "Die RAF erklärt den Staat
/.um Verhandlungspartner und erkennt
das Gewaltmonopol des Staates an." S. 3.
in dieser Broschüre S. 77. Anm. d. Hg.
Na und? War das 1977 anders? Der Staat
ist ja nun einmal existent, und von sei-
nem Gewaltmonopol aus/.ugehen, heißt
ja noch lange nicht, ihn zu akzeptieren.
Weiter schreibt Ihr: “In einer Situation
der Schwäche der Linken - wie z.B.
heute - führt der Weg raus nur über die
Aufgabe der pol. Identität." (S. 3. in die-
ser Broschüre S. 77. Anm. d. Hg.).
Wir denken, daß jede Vcrbcssctung für
die Gefangenen nur erkämpft werden
kann Das ist für uns auch die interessan-
te Frage: Wie stellen wir uns denn vor,
ein Kräfteverhältnis aut'zubaucn. das die
Freiheit der Gefangenen erkämpft? Eure
Aussage finden wir fatalistisch, weil
darin wir und die Gefangenen zum Ob-
jekt gemacht werden. Günter Sonnenberg
wurde entlassen, weil es • seit Jahren
Kämpfe für seine Freilassung gab und
nicht, weil er seine Identität aufgegeben
hätte.
Wir finden es richtig, die Gefangenen-
frage von der Entscheidung der RAF zu
trennen, bzw. halten wir die Verbindung
"Rücknahme der Eskalation"; Auseinan-
dersetzung um die Freiheit für falsch!
Weil sie den Gcisclstatus der Gefangenen
fortsetzt, ihre Freilassung mit der Frage
des bewaffneten Kampfes verknüpft.
(Was in der Erklärung vom April darin
gipfelte, mit seiner Wiederaufnahme zu
drohen, falls der Staat die Gefangenen
nicht rausläßt.).
Wir glauben, daß eben diese Verknüp-
fung die Fragen und Widersprüche zur
Entscheidung der RAF genährt haben.
Zumindest ging es uns so. Auf der einen
Seite sehen auch wir die Notwendigkeit
einer Zäsur, wünschen wir uns eine Dis-
kussion über Ncubcstimmung revolutio-
närer Politik. Grade auch, weil wir als
Feministinnen Strategie und Analyse der
RAF kritisieren, könnte das Angebot zur
Diskussion ja auch eine Möglichkeit
sein, unsere Vorstellungen. Fragen und
Ziele zu formulieren. Eine Debatte einzu-
fortbrn. Wie seht Ihr das?
So. wie die Erklärungen aber geschrieben
waren, wurden auch wir den Verdacht
nicht los, daß sic sich mehr an den Staat,
als in die rev. Linke richten. Aber, wir
wissen cs nicht. Stellt sich heraus, daß
der Vorschlag zur Diskussion nur vorge-
schoben ist. stimmen wir dem Begriff
"konterrevolutionär" zu.
Aber so eindeutig finden wir das noch
nicht!
84
...jetzt hat uns Wcitcrstadl samt Erklä-
rung ‘cingcholf. wir lassen den Text
trotzdem so stehen, weil es uns nicht um
^ tV die zeitung für die freiheit
V ’ der politischen gefangenen
ein fertiges Produkt, sondern um Ausein-
andersetzung geht.
Liebe Grlißc!
1 & information über 129a - verfahren
Q und andere politische prozesse
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■
BijJier vorgesehene Themen
Beyond Blade Runner
Gespräch mit Mike Davis »her Gewalt. Sicherheit. Urbanität
Vcm Punk zum Harcore und zurück
Autoritäre Demokratie, neofaschistisch-parlamentarisches Regime?
Fortsetzung der Debatte
Feministische Intellektuelle
Zwischen Kult und Kritik
Algerien
Politischer Islam und das Eule des alten Regimes
Kill the darling
... Ein Abgesang auf den politischen Dokumentarfilm
Die Klassentheorie des Oparaismo
als Orientierung für autonome Politik?
Europa vorn
Internierung und Vertreibung
Strukturelle Gewalt gegen Behinderte
Nation of Islam
Ein US-amcnkanisches Metiienercignis
Antisemitismus
-Einfühlung« als Methode linker Geschichtsschreibung?
Zwei rosa Pünktchen. Biste Positiv?
Slam Poetrv von Paul S. Beatty
White Sou!: Country-Music, Roots-Rock-Revival
Negative Mißverständnisse in der europäischen Rezeption
Edition ID-Archiv. Budr.ersand
KnobelsdorffstraÜc 8
14059 Berlin
Hett > der Baue erscheint Anlang September
V. Der gesellschaftliche Antagonismus zwischen Männern
und Frauen II: Zur kommunistischen Debatte über das
Patriarchat
"Wir lassen uns in Schcindcballcn über Mockcrvcrhallcn in der S/.cnc nicht mehr verwickeln,
Kommunistische Brigaden, Beitrag zur Debatte...
"Frauen, die das Machtverhältnis zwischen Frauen und Männern bekämpfen. Frauen, die der pairiarchalcn Norm
(...) den Krieg erklären, Frauen, die die herrschenden Verhältnisse, die Herrschaft im wahren Sinne des Wortes
radikal aufheben wollen, bedürfen nicht so sehr der männlichen Genossen, die sich Tür ihre Freunde halten, als
der männlichen Genossen, die bereit sind, zum Feind des Mannes zu werden."
Ingrid Strobl, in: Metropolen(gedanken) & Revolution , 13- 25 (25)
"(...)der Kampf gegen das Patriarchat (muß) immer in der Orientierung als Kampf gegen den Kapitalismus bestimmt
werden."
Kommunistische Brigaden, Beitrag zu Debatte...
“Die Art und Weise, in der Kapital, Patriarchat und 'Rasse' die Ausbeutung und Unterdrückung (...) strukturieren,
läßt es unmöglich und auch nicht wünschenswert erscheinen, einen vornehmlichen Grund von Unterdrückung
auszusondern: (...).”
Pratibha Parmar zit n. Klaus Viehmann u.a-, Drei zu eins
1 . Stellungnahme der Kommunistischen Brigaden
2. Stellungnahme der belgischen CCC-Gcfangcnen
3. Kritik von Pro Kommunismus an diesen beiden Texten
86
Kommunistische Brigaden
Patriarchatsdiskussion
Prinzipiell muß gesehen werden, daß
die Installierung patriarchaler Gesell-
schaftsstrukluren ebensowenig wie jeg-
liche anderen Instrumentarien des kapi-
mÜNtischcn Systems einen Selbstzweck
darstellt. Das Patriarchal als soziale
Struktur unterschciJct sich vom Zeit-
punkt der Einführung der kapitalisti-
schen Produktionsweise an insofern
vom vorherigen gesellschaftlichen Prin-
zip. da cs mit klarer Bestimmung zu ei-
nem funktionellen Integral im Produkti-
ons-Reproduktionszyklus geworden ist.
Es ist für eine revolutionäre Theorie, die
Massenperspektive haben muß. von
elementarer Bedeutung, bei der Behand-
lung dieser Thematik eine grundsätzli-
che Differenzierung vorzunchmen. da
sich das Patriarchal als Integral der be-
stehenden Hcrrschaftsstrukiurcn auf
verschiedenen Ebenen auch unter-
schiedlich darstellt:
- Im ökonomischen Bezug besteht der
funktionelle Wert des Patriarchats im
Kapitalismus in der ökonomischen
Zwängen unterworfenen Installierung
der Frau als Reproduktionsstätte des
Arbeiters mit dem sozialen Auftrag,
seine Verwertbarkeit als Menschenma-
terial für die Produktion von Mehrwert
aufrecht zu erhalten und zu reproduzie-
ren. Sie dient als unbezahlte Reproduk-
tionsarbeitcrin und darüber hinaus als
Gebärmaschine.
Im politischen Bezug ist die Funktion,
neben der Schaffung eines Kanals zur
Umsetzung der sozialen Deklassierung
des Arbeiters, vor allem darin zu sehen,
durch die Schaffung unterschiedlicher
Ränge" in der beherrschten Klasse eine
Spaltung und Umoricnlicrung auf die
Existenz dieser "Range" innerhalb des
revolutionären Subjekts, und somit eine
Schwächung des Kkissenkampfes zu er-
zielen - also der Einheit in der Orientie-
ning präventiv durch künstlich geschaf-
fene Strukturen, die diese Umorientic-
rung erzwingen, entgegenzuwirken.
- Eine andere Ebene bildet das histo-
risch-strukturell verankerte und beding-
te sexistische Gcwaltverhältnis zwi-
schen den Geschlechtern, das einen ei-
genständigen gesellschaftlichen Wider-
spruch darstcllt. Dieser ist nicht kapita-
lismusspezifisch, laßt sich im Kapita-
lismus aber auch nicht auflöscn. da cs
keinen gesellschaftlichen Ansatz gibt,
um einen Kampf gegen diesen Wider-
spruch zu bestimmen. (Wir negieren na-
türlich nicht die Notwendigkeit, diese
Frage im persönlichen Alltag aufzugrei-
fen. darauf gehen wir am Endes des
Kapitels noch ein. Hier aber geht cs uns
um den gesamtgesellschaftlichen Zu-
sammenhang, in dem ein entsprechen-
der Appell prnxisfem und illusionistisch
ist und keine gesellschaftliche Perspek-
tive hat.).
Für die Zusammenftlhrung des antipa-
triarchalen und des antikapitalistischen
Kampfes ist primär der politisch-öko-
nomische Bezug von Bedeutung, um
die Gesamtheit dci Bedingungen des
Klassenkampfes richtig umzusetzen und
die Positionen dann zu lokalisieren.
Leider läßt sich eine Diskussion am
Aspekt des funktionellen Wertes patri-
archaler Gesellschaftsstrukturcn mit
dem Ziel, klare Kriterien zur Integration
des antipatriarchalen Kampfes in den
antikapitalistischen Kampf seit dem
Kursieren der "Patriarchatsdiskussion"
in Szenestrukturen nur sehr begrenzt
feststellen. Auch hier dominiert der
Mißstand, daß über den Tellerrand der
Szene In der Regel nicht hinausgeblickt
wird, daß nicht die soziale Realität im
Kapitalismus bzw. der Klassenkampf
als Bezugspunkt und Ausgangspunkt
dient, sondern lediglich die eigene Sze-
neidentität. Der antipatriarchale Kampf
wird zum Kampf gegen das Instrumen-
tarium verfälscht, das der Installierung
patriarchaler Gesellschaftsstrukturen
und der Konditionierung, dem Schaffen
einer Basis für unreflektierte Akzeptanz
des Patriarchats beim Arbeiter dient; der
Kampf wird kanalisiert in Scheinkämp-
fe reformistischer Art gegen Pornogra-
phie etc. Wenn es richtig ist zu sagen,
daß das Patriarchat im Kapitalismus
primär als Funktion zu sehen ist,
kann es aber keinen wirklich antipa-
triarchalcn Kampf per se, geschweige
denn gegen das dem Patriarchat als
Basis dienende Instrumentarium ge-
ben, sondern muß der Kampf gegen
das Patriarchat immer in der Orien-
tierung als Kampf gegen den Kapita-
lismus bestimmt werden. Zu diesem
Zwecke ist nur die Orientierung am
politisch-ökonomischen Bezug sinn-
voll. Interessant erscheint in diesem Zu-
sammenhang das scheinbar über Knast-
korrespondenz zustandegekommene
Papier "Drei zu Eins - Klasscnwider-
spruch, Rassismus und Sexismus" (vgl.
Interim Nr. 120 vom 25.12.90, S. IS
23). in dem versucht wird, die Existenz
einer "triplc Oprcssion“ analytisch zu
belegen. Jedoch schweigen sich die
Verfasserinnen über den elementaren
Aspekt aus. nämlich welche Basis die-
ses scheinanalytische Gebilde als
Grundlage für die Orientierung und die
Bestimmung eines revolutionären
Kampfes bietet. Die konsequente Wei-
terführung gemäß dieser Analyse würde
bedeuten, im Kampf gegen die gegen-
wärtigen Herrschafts- und Ausbeu-
tungsstrukturen drei Feinde zu entlar-
ven:
- den Kapitalismus/Imperialismus
- den Mann im Kapitalismus
- den Rassisten im Kapitalismus.
Die letzten beiden Kämpfe werden (von
der offensichtlichen Absurdität abgese-
hen. wie am Anfang erläutert) aber eben
nur in der Differenzierung nach ihrem
funktionellen, installierten Charakter
und ihrer historischen Komponente, und
nur durch die alleinige Orientierung am
funktionellen Charakter bestimmbar.
Rassismus ist eben nicht in erster Linie
ein historisches oder genetisches Pro-
blem. sondern eine notwendige Institu-
tion im sozialen und ökonomischen Ge-
fligc des kapitalistischen Systems, und
die Denunziation des Mannes als sexi-
stischen Unterdrücker leitet für sich die
Notwendigkeit eines revolutionären, an-
tikapitalistischen Umstur7.es nicht ab.
Eine anderweitige Bestimmung des
Kampfes gegen Rassismus und Patriar-
chat als orientiert am funktionellen
Charakter ist nicht möglich und öffnet
höchstenfalls eine reformistische Per-
spektive. Der Mann hat zwar historisch
eine eigenständige Rolle als Unterdrük-
ker inne, ein "Kampf' gegen den Mann
im Kapitalismus ist aber substanzlos
und nicht bestimmbar, und wird der
spalterischen Zielsetzung der Installie-
rung patriarchaler Gcscllschaftsstiuktu-
ren gerecht. Es erfordert also nicht, wie
eine Schlußfolgerung der Verfasserin-
nen lautet, eine starke eigenständige an-
tipatriarchale und antirassistischc Orien-
tierung (Organisierung), um die Situa-
tion, die aus der sozialen Deklassienmg
der Arbeiter entsteht (Tritt nach unten),
anzugreifen und zu kanalisieren, da
diese Kämpfe für sich wie gesagt nicht
revolutionär bestimmbar sind, keine
Ansätze zur Entwicklung einer eigen-
ständigen Massenbewegung bieten.
Wenn diese Kämpfe nicht eingebunden
in einer antikapitalistischen Orientie-
rung stattlmdcn, so haben sic als eigen-
ständige Projekte nur den Charakter iso-
lierter Teilbereichskimpfe, die wie an-
dernorts benannt, nicht die Möglichkeit
zum Erreichen einer Massenperspektive
eröffnen und nur reformistisch wirken
können. Es erfordert eine einheitliche
antikapitalistische Orientierung, in die
antipatriarchale und antirassistischc Po-
litik integriert sind.
Gemessen am politisch-ökonomischen
Bezug stellt das Patriarchat im Kapi-
talismus einen Ncbenwidcrpruch dar,
da das Patriarchal wie benannt mit-
nichten Selbstzweck ist, sondern in
seiner Funktion vor allem eine Vor-
aussetzung zur Gewährleistung der
Akkumulation von Mehrwert ist
87
Im übrigen zeichnet sich in diesem
Punkt eine scheinbare Reformierbarkeit
des Kapitalismus ab. - das soll heißen,
daß sich der Kapitalismus in den Me-
tropolen gegenwärtig so gestalten ließe,
daß das Patriarchat als gesellschaftli-
cher Widerspruch nicht mehr als syste-
mimmanent in Erscheinung treten
würde. Das heißt natürlich nicht, daß
das historische Gewaltverhültnis zwi-
schen den Geschlechtern verschwindet,
sondern heißt: die Mechanismen und
Widersprüche, die das Patriarchat mit
sich bringt, treten nicht mehr als Inte-
gral des kapitalistischen Systems auf,,
die offenkundige Existenz und Auswir-
kung des Patriarchats im politisch-öko-
nomischen Bezug werden durch Refor-
men auf sozialer, ökonomischer, juristi-
scher etc. Ebene verdeckt. Dies resul-
tiert vorrangig aus dem ominösen sozi-
aldemokratisch-behafteten Begriff der
Gleichberechtigung der Frau und den
damit verbundenen Inhalten heraus, der
jede antikapitalistischc Tendenz effektiv
ausklammcrt, und sich gegenwärtig als
gesellschaftlich realisierbar darstellt.
Durch die damit verbundene Kampa-
gne gegen Erscheinungsformen und
Instrumentarien des Patriarchats, al-
so die Umorientierung und Kanalisie-
rung eines antikapitalistischen
Kampfes gegen das Patriarchat, ist
dem Staat als Instrumentarium des
Kapitalismus das Rüstzeug gegeben,
diesen reformistischen Forderungen
nachzukommen, und den Kapitalis-
mus damit in diesem Punkt scheinbar
zu reformieren, was zweckmäßig er-
scheint, da diese Kosmetik als Effekt
die Isolierung und Schwächung eines
radikalen antikapitalbtischcn Kamp-
fes gegen das Patriarchat zur Folge
hat
Um dies noch einmal deutlich zu sagen,
die Nichteinbezietng des Hauptaspek-
tes der funktionellen Bedeutung des Pa-
triarchats als analytische Basis und Ori-
entienmgspunkt für die Bestimmung
des Kampfes gegen das Patriarchat
nährt die spalterische Zielsetzung der
Installierung patriarchaler Gcscll-
schaftsstrukturen; die Übernahme re-
formistischer Scheinprogramme (Kampf
gegen Instrumentarien wie Pornogra-
phie, Kampf für soziale Gleichberechti-
gung) in die eigenen Inhalte ermöglicht
die Schwächung des antikapitalistischcn
Kampfes und stärkt die Konterrevoluti-
on! Der Kampf gegen das Patriarchat
muß international und klassenbezo-
gen bestimmt und als Kampf gegen
Kapitalismus/Imperialismus gerührt
werden. Im antiimperialistischen Kon-
text muß gesehen werden, daß die Dik-
tion patriarchale Gesellschaftsstrukturen
als Expoitgut cer imperialistischen
Staaten in die Länder des Trikonts unter
ökonomischen Aspekten an Bedeutung
verloren hat. Erhallen bleibt die politi-
sche Komponente der präventiven Kon-
terrevolution via Bevölkeomgspolitik
nach dem Motto, 'es ist billiger, den
Gucrillcro im Uterus zu töten, als ihn in
den Bergen zu erschießen."
Wir lassen uns in Scheindebatten über
Mackerverhalten In der Szene mein
mehr verwickeln, «eil das nicht die Pa-
triarchatsdiskussion, ja nicht einmal Be-
standteil davon ist. Es ist klar, daß Wi-
dersprüche zwischen Frauen und Män-
nern angegangen werden müssen. In-
ncrstmkturelle Restaurationsarbeiten
belangen uns nicht länger! Uns geht es
um die Diskussion Uber die genannte
politische Dimension, um die Schaffung
revolutionärer inhaltlicher Substanz und
die Bestimmung einer revolutionären
Theorie auf der Basis der gcsamthcitli-
chen Analyse der Bedingungen. Lauft
es anders herum, so verkommt diese
Diskussion um inrerstrukturclle Ange-
legenheiten, ohne daß die Existenz der
Strukturen eine inhaltliche Bestimmung
hat. zu reinem Selbstzweck und macht
so oft deutlich. daG es auch nur um die
Szene an sich geht, also um einen
selbstgefälligen Club, und nicht um ei-
ne revolutionäre Bewegung!
Bertrand Sassoye / Pierre Carelle /
Pascale Vandegeerde / Didier Chevo-
lei
AN DIE MILITANTEN
DER
'INTERNATIONALEN
INFOLÄDEN"
(Antwort auf den offenen Brief vom
Sommer 1990)
AN ALLE GENOSSINNEN UND
GENOSSEN
Oktober 1991
EINLEITUNG
A. Zur Erinnerung: der Ursprung der
Debatte
Im Oktober 1988 ist eine kleine Bro-
schüre mit dem Titel "Frontline Info /
Neues von Frontline", (*) verteilt wor-
den, in der verschiedene Dokumente
und Kommuniques (in französischer
Übersetzung oder in englischer Ver-
sion) zusammengestellt waren. Sie
stammte von der Buchhandlung
'Slagerzicht". vom "Internationalen In-
formationszentrum Frontline’, von der
"Stedelijk Overleg Amsterdam" und
von der "Revolutionär Initicf Amster-
dam’. Auf diese Weise beabsichtigten
die Autorinnen, die Elemente der In-
formation und Analyse bezüglich der
damaligen schweren Krise zwischen
den militanten Kräften der Niederlande
auf die internationale Ebene zu bringen.
Sie haben damit versucht, eine Verurtei-
lung der ihnen entgegengesetzten Ten-
denz zu veranlassen, hauptsächlich ge-
gen "Politieke Vleugel van de Kraak-
beweging” und gegenüber der Zeitung
"Knipselkrant” - zu deren Boykott sie
übrigens aufriefen.
Durch diese Veröffentlichung und die
darin genannten Zusammenhänge und
Schlußfolgerungen entschieden wir uns,
an der Debatte teilzunehmen, und dies
umso gewissenhafter, da uns außerdem
die Militanten von "Knipselkrant" und
vom "Politieke Vleugel van de Kraak-
beweging" direkt dazu aufgefordert ha-
ben. Im Juli 1989 haben wir mit ande-
ren Genossinnen ein Dokument mit
dem Titel "Betreffend die aktuelle Krise
zwischen den revolutionären kämpferi-
schen Kräften in den Niederlanden'^")
veröffentlicht. Wir denken, daß die
Kenntnis der Broschüre "Frontline Info"
vom Oktober/November 1988 und un-
seres eigenen Beitrags vom Juli 1989
für ein gutes Verständnis der Debatte,
wie sie sich zu Beginn darstclltc. nütz-
lich ist.
88
B. Die Entwicklung der Debatte
Unser Dokument vom Juli 1989 hat
verschiedene Reaktionen hervorgerufen.
Im September des gleichen Jahres hat
der “Politieke Vleugel van de Kraakbe-
weging” einen offenen Brief mit dem
Titel 'De krisis binnen de links raifikale
buitenparlementaire beweging in Neder-
land’(*) an uns gerichtet. Der "P.V.K"
stellte darin seine Analyse der Krise, ih-
res Ursprungs, ihrer Entwicklungen und
Perspektiven, dci sich gcgcnübcrstc-
henden Parteien etc. dar. Er präsentierte
auch die Geschichte und die Rolle der
Hausbesetzerbewegung in den Nieder-
landen. Wir finden hier die Gelegenheit,
den Genossinnen des “Politieke Vleugel
van de Kraakbcweging" für ihr Mitwir-
ken zu danken.
Im Juli 1990 erhielten wir eine impo-
sante Broschüre in deutscher Sprache
mit dem Titel "Dokumentation der Dis-
kussion um den Boykott der Knipsel-
krant”. herausgegeben von den
"Internationalen Infolädcn"(*). Unter
den Dokumenten dieser Publikation war
im Namen eines "Teils der internationa-
len Struktur der Infoshops 1 ' ein offener
Brief an uns gerichtet.
Ein Aspekt dieses Briefes ist der Mühe
wert, hervorgehoten zu werden, denn
wir finden hier die Gelegenheit, an ei-
nen wichtigen Punkt unserer eigenen
Position in der anfänglichen Debatte zu
erinnern. In bezug auf die Krise zwi-
schen den militanten Kräften in den
Niederlanden haben wir von Anfang an
die Grenzen und das Wesen unserer In-
tervention festgelegt. Unser konkretes
Außenvorbleiben vor der niederländi-
schen Bühne (und dazu die Inhaftierung
einiger von uns) löste unsere Autorität
in nichts auf und räumte uns nur eine
politische Verantwortung ein. Übrigens
hat sich in diesem Zusammenhang un-
ser Beitrag vom Juli 1989 streng auf
theoretischem Terrain gehalten und ne-
ben der Fragestellung nur auf den poli-
tischen Ratschlag oder die politische
Kritik gestützt, in deren Abschluß wir
den Boykott von ’Knipsclkrant" verur-
teilen.
Die Genossinnen der "Infoläden - schei-
nen, zumindest in dem an uns gerichte-
ten Brief, die gleiche Zurückhaltung an
den Tag zu legen. Dieser Text erwähnt
nur kurz die Ereignisse in Amsterdam
und bestätigt, daß cs vor allem den di-
rekt betroffenen Parteien zukommt,
Stellung zu beziehen. Das Wesentliche
dieses offenen Briefes besteht also aus
einer Reihe von Reflexionen, Fragestel-
lungen, Aufforderungen, auf die wir
antworten möchten, aber auch aus Be-
hauptungen, die wir gänzlich ablchncn.
Einerseits ist dies die Eröffnung einer
Debatte, von der wir uns wünschen, daß
sie sich auf politischem Gebiet entwik-
kclt und qualifiziert, andererseits aber
eine Art Streit, den wir unbegründet
finden. Wir hoffen, daß sich die Debatte
in Zukunft streng auf die Fragen des
theoretisch-politischen Interesses für
den Fortschritt der revolutionären Be-
wegung beschränkt. In dieser Bezie-
hung behalten wir volles Vertrauen und
danken an dieser Stelle den Genossin-
nen der "Infolädcn" für ihren Brief.
Nachdem die Beiträge, die bis heute im
Verlauf der Debatte erstellt wurden, an-
geführt worden sind, drängt es sich auf,
die Abwesenden zu einer Stellung-
nahme aufzufordem... mit Ernsthaftig-
keit. aber genauso mit Vorsicht. Wir
können nicht akzeptieren, daß zwei zen-
trale Teilnehmer der Anfangsdebatte,
nämlich die "Revolutionär Initiaticf
Amsterdam" und "Knipselkrant", cs bis
zum heutigen Tage nicht für nötig ge-
halten haben, sich zu äußern. Wir sind
der Ansicht, daß ein solcher Rücktritt,
wenn er sich bestätigt und als unge-
rechtfertigt erweist, die Betroffenen
sehr stark in Mißkredit bringt. Aber wir
haben gesagt, daß wir vorsichtig sein
möchten. Zu der Zeit, als wir dieses
Dokument fertigstellten, entdeckten wir
zum Beispiel eine Broschüre in deut-
scher Sprache mit dem Titel "Beitrag
für die Debatte... Mai '91". unterschrie-
ben mit "Kommunistische Brigadcn"(*),
die besonders die Begriffe der Diskus-
sion, die uns beschiftigt, zu berücksich-
tigen scheint und sich ihren politischen
Thesen zuwendet. In der Erwartung,
mehr darüber zu erfahren und unter an-
derem diesen neuen Beitrag cinordncn
zu können, begnügen wir uns damit, je-
den an seine politische Verantwortung
zu erinnern, in der Hoffnung, daß dies
von allen geachtet wird.
C. Die Fortsetzung der Debatte
Mit unserer Intervention vom Juli 1989
waren drei Kollektive aus unserem
Land, "Gasse contre classc", die Zeit-
schrift "Correspondances Rcvolution-
naires" und die vier militanten Gefan-
genen der Kämpfenden Kommunisti-
schen Zellen (CCC). beschäftigt. Sie
brachte folglich die jedem Kollektiv ei-
gene militante Vorgehensweise zum
Ausdruck. Der hier vorliegende Text
unterscheidet sich von den vorherge-
henden insofern, als er ausschließlich
von den Gefangenen verfaßt wurde.
Warum? Was "Classc contre classe" be-
trifft. so hat sich diese Struktur Ende
1989 selbst aufgelöst. Was die Zeit-
schrift "Correspondances Revolution-
naires" betrifft, so macht sie eine Peri-
ode der internen Reflexion bzw. Neude-
finition durch, deren Ergebnis Vorrang
vor allen kollektiven öffentlichen Stel-
lungnahmen hat.
Die vorliegende Antwort auf den offe-
nen Brief der Miliiantcn der "Infolädcn"
stammt ausschließlich von den Gefan-
genen; sie drängt noch mehr darauf, die
Debatte streng auf den theoretisch-poli-
tischen Bereich zu beschränken. Wir
streiten nicht ab. daß dies eine genau
vorgegebene Grenze ist, was manche
unter Umständen beklagen werden. Un-
sererseits aber glauben wir. daß man
auch sagen kann: die Debatte auf die
theoretisch-politische Ebene erheben.
Uns scheint, daß be: einer Erklärung der
zahlreichen aktuellen Sackgassen sub-
jektive Orientierungen und Verhaltens-
weisen vorherrschen über die wissen-
schaftliche Analyse und die revolutio-
näre Moral. Wir hoffen, daß der vor ei-
niger Zeit begonnene Austausch sich
auf internationaler Ebene vergrößern
und verbessern wird. In dem Willen, ein
ganz klein wenig diesem Fortschritt zu
dienen, präsentieren wir diese Arbeit.
Für die Verspätung entschuldigen wir
uns.
D. Vorstellung
Unsere Antwort besteht aus zwei Tei-
len. Der erste, unserer Meinung nach
der wesentliche Teil, behandelt politi-
sche Probleme von Bedeutung. Wie wir
glauben, sind diese für die militante
Bewegung in Deutschland oder in den
Niederlanden besonders bedeutungs-
voll. Dieser erste Teil besteht aus zwei
Texten:
- EIN BISSCHEN ÜBER POLITIK
- ANTWORT AUF ZWEI PRÄZISE
FRAGEN.
Wie stellt ihr euch den Kampf gegen
das Patriarchat vor? Welche Bedeutung
hat dieser Kampf für euch?
Der zweite Teil, der zwar nebensäch-
lich, unserer Meinung nach aber not-
wendig ist, liefert einige zusätzliche
Präzisierungen zu unserem Dokument
vom Juli 1989, ebenso wie er mit den
Behauptungen der Militanten der
"Infoläden'' aufräumt. Die Texte des
zweiten Teils tragen die Titel:
-"Falsche Zitate"?!
- Verrat, Konfrontation und Gewalt
- Die "Ätzerinnen" (sic)
- Das Dokument der "Revolutionär In-
itiatief Amsterdam”
Die Dokumente, auf die in den Texten
des zweiten Teils Bezug genommen
wird, werden im Nachtrag in Form von
Photokopien präsentiert.
Muß darauf hingewiesen werden, daß
wir Reaktionen nur auf die beiden Texte
des ersten Teils erwarten? Was uns be-
trifft, so betrachten wir den zweiten Teil
als endgültig abgeschlossen.
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Alle Dokumente mit Sternchen können
bestellt werden bei:
“CORRF.SPONDANCES RFVOLU-
TIONN AIRES”
BP 1310, 1000 BRUXELLES 1. BEL-
GIQUE
ERSTER TEIL
EIN BISSCHEN ÜBER POLITIK
"Wie soll man die Wahrheil über
den Faschismus sagen, als des -
sen Gegner man sich bezeichnet,
wenn man nichts über den Kapi-
talismus sagen will, der ihn er-,
zeugt?
Wie könnte eine solche Wahrheit
ein praktisches Vermögen ha-
ben?"
BERTOLT BRECHT
In unserem Dokument vom Juli 1989
bestand das Wesentliche der Kritik am
Aufnjf zum Boykott von
“ Knipselkrant " in zwei Punkten. Er-
stens: Wir wiesen darauf hin. wie sehr
Sich die Anklageschrift als von Arglist
aufgeblasen herausstellte. Zweitens:
Wir beklagten die systematisch unpoliti-
sche Haltung der Äußerungen, die die
Denunziation von "KK" unterstützten,
und dies um so mehr, als der Grund und
der Einsatz der offenen Krise in aller
Offensichtlichkeit höchstgradig poli-
tisch waren.
Folglich bedauern wir. feststcllcn zu
müssen, daß sich auch der offene Brief
der Genossinnen der ” Infoläden " durch
eine Tendenz zur Festsetzung sehr rela-
tiver Intcrcsscnpunktc charakterisiert,
bei Vernachlässigung - bewußt oder
nicht - der politischen Substanz und der
politischen Möglichkeiten.
Wir hofften, Gesprächspartner auf ei-
nem vornehmlich politischen Terrain zu
treffen, aber es wäre unbegründet, für
unsere Enttäuschung ausschließlich die
Militanten der “Infoläden" verantwort-
lich zu machen. Wir sagten bereits, daß
die "Debatte" in ihrem Ursprung unge-
sunde Merkmale barg. Und in unserem
Beitrag vom Juli 1989 waren wir ge-
zwungen, Punkte zu untersuchen, die
quasi gänzlich ohne reelles Interesse
waren (um so mehr in der Form, wie die
"R.I.A." diese ausgewertet hat). Aber
wir versuchten gleichzeitig, diesen
Stand der Dinge zu verändern, um dem
Meinungsaustausch eine neue gesunde
und konstruktive Orientierung zu ge-
ben: eine politische, im wahren Sinne
des Wortes. Die Militanten der
"Infoläden" scheinen die Dringlichkeit
unserer Sorge nicht zu teilen: ihr offener
Brief kümmert sich nicht mehr um Fra-
gen. die für die europäische revolutio-
näre Bewegung und ihre Zukunft le-
benswichtig sind, er erörtert allzu oft
nur die Randpunkte ihrer entscheiden-
den Interessen.
Doch wir wollen unsere Kritik dort, wo
sic persönlich wird, noch einmal relati-
vieren. Denn es scheint uns. daß die
Haltung und die Vorstellungen, von de-
nen der erhaltene Brief zeugt, in einer
großen Fraktion der revolutionären Be-
wegung in Deutschland oder in den
Niederlanden sehr weit verbreitet sind.
In dieser Hinsicht hat uns die Erfahrung
immer wieder gezeigt, daß die Neigung
besteht, den Hauptfragen, die von der
historischen Theorie abhängen, sorgfäl-
tig ausziiweichen; Fragen, deren korrek-
te Resolution (d.h.: Lösung. Anm. d.
Hg.) den gesetzmäßigen Weg der sozia-
listischen Revolution beschreibt.
Das sehr häufige Fehlen von Reflexio-
nen, bezüglich der Perspektiven der re-
volutionären Aktivität - selbst im Her-
zen der Bewegung, die diese tür sich
beansprucht - kann uns ärgern, über-
rascht uns jedoch nicht.
Damit sich solche Reflexionen in zen-
traler und unmittelbarer Art und Weise
durchsetzen, muß öer objektive Nutzen
des revolutionären Prozesses als grund-
legend angesehen werden. Ein solch
vorrangiges Interesse mag einem revo-
lutionären Militanten nur natürlich er-
scheinen; in Wirklichkeit ist dieser Zu-
sammenhang jedoch viel seltener, als
man glauben könnte. Dieser
beträchtliche Mangel stammt vom äu-
ßerst schädlichen Einfluß des Subjekti-
vismus.
Eine wichtige Demonstration von Sub-
jektivismus besteht - genau gesagt -
darin, die politischen, ideologischen,
strategischen und taktischen Entschei-
dungen von der revolutionären Sache
abhängig zu machen: nicht von der wis-
senschaftlichen Analyse der Realität,
sondern von der Geistesverfassung der
Militanten. Das heißt diese Entschei-
dungen nicht von einer globalen Refle-
xion abhängig zu machen, sondern von
dem, was eine besondere Situation oder
Erfahrung zu sein scheint.
Thesen wie "Selbstbestimmung der
Kampfpole". Optionen wie
"antiimperialistische Front" sind nichts
anderes als die Übertragung spezifi-
scher Eigenschaften des Subjektivis-
mus. die eng verbunden sind mit dem
kleinbürgerlichen Individualismus, auf
eine - formell und in Anspruch genom-
mene - grüppchenbafte Stufe. Von dem
Moment an. wo sich jeder gemäß seinen
eigenen Beziehungen, ausgehend von
seinen eigenen Erfahrungen, bestimmt,
wo jeder nur mit dem Teil der Erfah-
rung anderer übcrcinstimmt, der wie-
derum auf die eigene Erfahrung paßt,
erweist sich eine authentische Maß-
nahme der Synthese - also der Vereini-
gung und der Organisation - als unmög-
lich.
Auf diese Weise kann die revolutionäre
Bewegung die nebulöse Form eines
vielseitigen Bindemittels von stark un-
terschiedlichen "Polen" annehmen, die
aus einer großen Mannigfaltigkeit so-
zialer Kategorien stammen, ihre jeweili-
gen Wege verfolgen (welche bei Gele-
genheit durchaus Ubereinstimmen kön-
nen). stark mit ihren spezifischen Pro-
blemen beschäftigt sind und so eine
Unzahl von Prioritäten etablieren. Eini-
ge werden sich aul das Problem des
Sexismus polarisieren, andere auf die
Solidarität mit irgendeinem Volk im
Kampf, andere auf den Antirassismus,
andere auf den Antimilitarismus, andere
auf die Wohnungsfrage, die Hausbeset-
zer. andere auf den antifaschistischen
Kampf, wieder andere auf die Unter-
stützung politischer Gerangener, und
die Liste ist endlos, innerhalb eines sol-
chen Mosaiks können Brücken geschla-
gen werden, Verbindungen und Koope-
rationen sich etablieren, jedoch wird
dies niemals verhindern, daß Heteroge-
nität und Zersplitterung strukturell vor-
handen sind. Die Unfähigkeit, sich ein-
zubringen, sich in ein globales, syntheti-
sches und zusammenhängendes Projekt
zu integrieren und sich in einer zentra-
len. vereinigten Kraft zu organisieren,
verurteilt folglich die revolutionäre mi-
litante
Bewegung dazu, in revolutionärer Hin-
sicht nichts zu haben, als den Traum,
den Anspruch oder, schlimmer, den sich
widerrechtlich angeeigneten Titel.
DER SUBJEKTIVISMUS SPIELT EI-
NE ROLLE IM VORDERGRUND
DER ENTARTUNG VON KRÄFTEN.
DIE POTENTIELL REVOLUTIONÄR
ODER SOGAR REVOLUTIONÄR AN
ALTERNATIVEN KRÄFTEN SIND, da-
zu verurteilt, ewig am Rande des System
zu vegetieren, das zu bekämpfen sie
vorgeben (vorgaben).
Daß die Frage des Sexismus die Genos-
sinnen. die direkt mit ihm konfrontiert
sind, sehr stark beschäftigt, ist normal,
genauso wie ein immigrierter Genosse
in der Frage des Rassismus besonders
wachsam sei» wird. Oder mehr nucli,
daß die einer dramatischen ökonomi-
schen Unsicherheit unterworfenen Ge-
nossinnen persönlich gegen die Un-
gleichheiten. die Verschwendung und
die Spekulation revoltieren werden.
Und wir könnten noch hundert ebenso
unleugbare Fälle aufzählen. Denn wir
beabsichtigen bestimmt nicht, bis zu
welchem Grad auch immer, die Legiti-
mität des Kampfes gegen den Sexismus,
den Rassismus, die Degradierung der
Lebensbedingungen etc. in Abrede zu
stellen: so wie es auch nicht darum
geht, eine Hierarchie von mehr oder we-
niger widerwärtigen Phänomenen zu er-
stellen und diese stufenweise anzugrci-
fen.
Wovon zumindest von einem revolutio-
nären Standpunkt aus die Rede ist, ist,
alle unsere Kräfte zusammenzunehmen,
um eine starke Kriegsmaschine gegen
das kapitalistische System (und all seine
sozialen Äußerungen, wie Rassismus,
Sexismus etc.) aufzubaucn, die homo-
gen und zusammenhängend ist; eine
Kriegsmaschine, die ihre Anstrengun-
gen auf Punkte konzentriert, an denen
das System verwundbar ist, an denen
der revolutionäre Hebel es am sicher-
sten und schnellsten ins Wanken brin-
gen kann (und nicht dort, wo dieses Sy-
stem für diesen oder jenen Genossen
am widerlichsten ist).
Wir lesen in dem offenen Brief der Ge-
nossinnen der " Infoläden", daß als
Antwort auf eine angeblich vom
" P.V.K ." gemachte Äußerung - "Erst die
Revolution, dann die Frauen “ - der
Aufruf zum Doykott der
"Knipselkrant", ausgehend von
Deutschland, folgenden Abschnitt ent-
hielt: “Ein revolutionärer Kampf kann
nur antiimperialistisch und antipatriar-
chal sein. Es gilt im Kampf um Selbst-
bestimmung und Kollektivität gegen
Unterdrückung und Ausbeutung in allen
Punkten zu kumpfen und sich selbst
darin zu verändern, sich selbst ah Sub-
jekt. Nicht einen Bereich auf später
oder irgendwann zu verschieben Ent-
weder wir packen es an und kämpfen
gegen Unterdrückung und Ausbeutung,
oder wir bleiben Unterdrücker, Ausbeu-
ter. Schwein. Um die HERRschaft des
Menschen über den Menschen zu been-
den. ist es notwendig, den antipatriar-
chalen Kampf zu führen. Ein Kampf,
der nicht antipatriarchal ist. ist KEIN
revolutionärer Kampf. " Ja, ein Kampf,
der nicht antipatriarchalisch ist, ist kein
revolutionärer Kampf. Und ein Kampf,
der nicht antirassistisch ist. ist kein re-
volutionärer Kampf. Und ein Kampf,
der nicht antifaschistisch ist, ist kein re-
volutionärer Kampf. Und ein Kampf,
der nicht das Ökosystem verteidigt, ist
kein revolutionärer Kampf. Und ein
Kampf, der nicht solidarisch mit ande-
ren Völkern im Kampf ist, ist kein revo-
lutionärer Kampf. Etc. etc. etc.
Die Formulierung, mit der der oben zi-
tierte Abschnitt schließt, ist schön und
legitim, aber sie birgt nicht das gering-
ste praktische Element einer Antwort
auf die Frage nach dem revolutionären
Kampf heute in Europa. Was tun? Dort
liegt die wahre Frage. Die subjcktivisti-
sche Konzeption der Welt ist absolut
unfähig, dieser Frage auch nur einen
Deut an Lösung zu geben: bestenfalls
erzeugt sie nur eine illusorische und ste-
reotype Einstimmigkeit (wir sind alle
gegen Sexismus, Rassismus, Militaris-
mus etc.), in keinem Fall aber erlaubt
sic der revolutionären Aktivität, sich in
rationeller Art und Weise zu orientie-
ren. Die Marxisten-Leninisten ihrerseits
sind der Ansicht, daß das Problem auf
zwei Ebenen untersucht werden muß.
Da ist einerseits das interne Problem in-
nerhalb der revolutionären Bewegung
und andererseits das Problem der Ver-
hältnisse zwischen revolutionärer Be-
wegung und dem Rest der Gesellschaft.
Es scheint uns richtig und notwendig,
daß innerhalb der revolutionären Bewe-
gung größte ideologische Strenge
herrscht, und daß man dort keine sexi-
stische, rassistische, individualistische
ctc. Äußerung toleriert. Hier müssen die
Militanten auf genaueste Art und Weise
den sozialen Verhältnissen der Gesell-
schaft, die sie zu konstruieren beabsich-
tigen, vorgreifen. Aber man darf dabei
nicht aus den Augen verlieren, daß es
Aufgabe der revolutionären Bewegung
ist, die Revolution zu machen, daß die
Revolution die gesamte proletarische
Klasse betrifft und daß in der Bezie-
hung zwischen revolutionärer Bewe-
gung und Proletariat es der Erfolg der
Revolution ist. der alle Kräfte und
Aufmerksamkeiten mobilisieren muß.
Es besteht durchaus eine Reihenfolge
zwischen den beiden Ebenen, die gleic-
hzeitig deren stärkste und ungeteilte
Einheit begründet. Der Sinn der revolu-
tionären Aktivität, also der Bewegung,
die Anspruch auf die Verantwortung
dieser Aktivität erhebt, ist die revolu-
tionäre Umwandlung der Gesellschaft
und nicht die Eroberung einer Enklave
neuer Verhältnisse innerhalb der alten
Gesellschaft. Die Verdrängung eines
sozialen Systems durch ein anderes ist
ein historisch-objektives Phänomen, das
besonders strengen Gesetzen gehorcht,
die durch die historisch-materialistische
Analyse, relativ zur Entwicklung der
Produktivkräfte und zu den Rollen der
sozialen Klassen ctc. aufgedeckt wer-
den. In dieser Hinsicht hat die revolu-
tionäre Bewegung in erster Linie die
Aufgabe, diese Gesetze zu kennen, sie
zu verstehen und sie in all ihren Orien-
tierungen und Taten zu berücksichtigen;
bei der Strafe, auf ewig zum Scheitern
verurteilt zu sein oder in der Jauche der
Alternative (sei sie auch bewaffnet) zu
degenerieren.
Man muß sich von der bcichränktcn,
egozentrischen und typisch subjektivi-
stischcn Sichtweise befreien, die der re-
volutionären Bewegung vor allem die
Verantwortung zuschreibt, einen für die
persönliche und kollektive Entfaltung
der Militanten günstigen Bereich abzu-
stecken. Die Revolutionäre verwirkli-
chen sich, indem sic zur Umwandlung
der Gesellschaft beitragen (also direkt
und indirekt zur eigenen Umwandlung)
und nicht, indem sie auf einer selbstbe-
obachtenden und narzißtischen Suche
vom Weg abkommen. was um so un-
fruchtbarer und suspekter ist. als cs uto-
pisch - falsch - ist, eine reale Befreiung
von bürgerlich-ideologischen Katego-
rien ins Auge zu fassen, außerhalb des
objektiven Rahmens der sozialistischen
Revolution und ihrer Kulturrevolutio-
nen. Der revolutionäre Kampf ist zwar
ein Befreiungsfaktor ftr diejenigen, die
sich ihm verschreiben, aber er ist es nur
soweit, als man sein Ziel nicht aus den
Augen verliert: die Revolution, die Dik-
tatur des Proletariats und den sozialisti-
schen Aufbau in Richtung des Kommu-
nismus.
Abgesehen davon, daß es eine abscheu-
liche Ungeschicklichkeit ist, "Erst die
Revolution, dann die Frauen" zu ver-
künden, ist es eine Dummheit. Eine
Dummheit, dcmi die Revolution Iml nur
einen Sinn als Befreiung der Frauen, der
Männer, der unterdrückten Völker und
schließlich der gesamten Menschheit.
Eine Dummheit, weil die Formulierung
glauben macht, daß ein mechanisches
Verhältnis dort besteht, wo ein dialekti-
sches ist. Das revolutionäre Vorhaben
kann nur ein globales Vorhaben sein,
das die Gesamtheit aller Bestrebungen
des ganzen Volkes in seiner Verschie-
denheit vereinigt und in der Praxis den
Weg für die Verwirklichung dieser Be-
strebungen öffnet (so auch die Bestre-
bungen nach Gleichheit zwischen den
Geschlechtern, zwischen den Rassen
etc.).
Aber “ Erst die Revolution" zu prokla-
mieren. ist das Grundlegende, weil es
für die revolutionäre Bewegung nicht
darum geht, eine Unmenge einzelner In-
teressen voranzubringen (seien sie auch
legitim und lebenswichiig), sondern den
Gang ihrer Globalität, einer Globalität
derjenigen Klasse, die allein es erlauben
wird, daß sich diese Interessen durch
den Sturz des Kapitalismus endlich rea-
lisieren und harmonisch miteinander
übereinstimmen. (Könnte man nicht üb-
rigem denken, daß dies die Genossin-
nen vom "P.V.K." wirklich auszudrük-
ken versuchten?)
Das Prinzip "Erst die Revolution “ ist
wesentlich; es muß gut verstanden und
dann verarbeitet werden. Wir als Marxi-
sten- Leninisten beabsichtigen eine per-
manente Wachsamkeit in bezug auf un-
ser Verhalten und unsere Beziehungen;
wir achten darauf, daß sowohl persön-
lich als auch kollektiv kein Keim sexi-
stischer, rassistischer, individualisti-
91
scher etc. Fäulnis auftauchi. Aber wir
nehmen diese Verhaltensweise als Re-
volutionäre an. ausgehend von einer ob-
jektiven Position der Revolutionäre und
mit revolutionärer Zielsetzung. Wir
glauben, daß Wachsamkeit und kollek-
tive Kontrolle, revolutionäre Disziplin.
Respekt der kommunistischen Moral
nur im Rahmen eines globalen, zentrali-
stischen Vorgehens möglich ist, das
sich für eine einheitliche Linie, in einer
organisatorisch-einheitlichen Kraft für
das einzige Ziel, den Sturz der Bour-
geoisie und ihres Staates und für den
Aulbau des Sozialismus, einsetzt. Wir
glauben, nur auf diese Art und Weise
einen Anspruch auf den Einfluß der Ge-
sellschaft und ihrer Entwicklung erhe-
ben zu können.
Daraus geht herver. daß wir das Recht
auf Selbstbestimmung eines antipatriar-
chalischen Kampfpols ablehnen, wie
wir dieses Recht für alle Kampfpole ab-
lehnen, (daß diese unvermeidlich als
spontaner Ausdruck der Gegensätze
existieren, ist eine andere Sache). Wir
bemühen uns immer um die theoreti-
sche, politische und organisatorische
Einheit der revolutionären Bewegung,
mittels der widerspruchsvollen Debatte,
in der sich die richtigen Gedanken ge-
genüber den falschen durchsetzen, und
durch die Konstruktion der Partei.
Das Besondere muß ins Allgemeine
übergehen! Die Erfahrung eines jeden
sollte in der kollektiven Erfahrung auf-
gehen, damit sich die kollektive Linie in
jeder einzelnen Kampffront ausdrückt
(und diese in der Reihenfolge der Prio-
ritäten und der Unterordnung, die die
wissenschaftliche Analyse hervorheben
wird, organisiert) und damit sie unauf-
hörlich stärker wird durch den Reich-
tum aller Erfahrungen und die Überprü-
fung der Analyse. Außerhalb dieser
Maßnahme schreitet nichts fort, ist
nichts erreichbar.
Auch wenn wir in dem offenen Brief
Abschnitte lesen wie: "Wir wollen, daß
eine Organisierung unseres Kampfes
gegen das patriarchal-kapitalistische
System in den wesentlichen Momenten
des sozialen Zusammenlebens, wie wir
es uns für die zu erkämpfende Gesell-
schaft vorstellen, schon enthalten ist",
denken wir. es mit einer (im nicht-mate-
rialistischen Sinne) völlig idealistischen
Konzeption zu tun zu haben; mit einer
subjcktivistischcn Abweichung, die den
Anspruch erhebt auf radikal neue so-
ziale Verhältnisse "in den wesentlichen
Momenten des sozialen Zusammenle-
bens", vor und/oder unabhängig von
einer revolutionären Umwandlung der
Gesellschaft.
Dies ist die Art von Überlegung, die im
besonderen Sinn zur Aufgabe einer
"revolutionären" Position zugunsten ei-
ner alternativen Position führt, Denn
schließlich, wenn es wirklich möglich
Ist. "in den wesentlichen Momenten des
sozialen Zusammenlebens" soziale Ver-
hältnisse zu schaffen, die vollständig
zum Ressort der "zu erkämpfenden Ge-
sellschaft" gehören, warum muß be-
sagte Gesellschaft dann noch erkämpft
werden? Man sicht hier, wieviel Keime
de* Linksradikalismus mit seinen un-
vernünftigen Forderungen der Subjekti-
vismus auf einmal in sich trägt; dazu
noch Keime des Reformismus (wenn
auch radikal oder bewaffnet) mit seinem
Wunsch, das System zu verbessern und
sogar eine Nische in seinen Innerem
auszuhöhlen. Es ist unbestreitbar, daß
der revolutionäre Kampf für diejenigen,
die ihn führen, befreiend ist. aber er ist
es nur insofern, als er wirklich revolu-
tionär ist, das heißt, in der objektiven
Funktion der übergeordneten Inter-
essen der sozialistischen Revolution;
und in den Rahmen dieser Funktion
müssen sich die internen ideologischen
Kämpfe der revolutionären Bewegung
einfügen. wenn man nicht in den alter-
nativen Typus der alternativen Gesellig-
keit oder den Sektentypus verfallen will.
Lenin bestand auf der Tatsache, daß der
Klassenkampf, im genauen Sinn, nicht
begänne, ehe sich die Proletarier Ziele
gesetzt hätten (seien sie auch nur öko-
nomischer Art), die ihre Klasse in der
Gesamtheit betreffen (sich also der
Klasse der Kapitalisten in ihrer Ge-
samtheit widerset/.ten). Die Einzel-
kämpfe (so auch der eine oder andere
Streik in dem einen oder anderen Un-
ternehmen), die unvermeidlich auftau-
chen. bevor diese globalisierende Maß-
nahme erscheint, stellen, um Lenins
Ausdruck wieder aufzugreifen, nur eine
" schwache Keimzelle" des Klassen-
kampfes dar. Nun. wir wollen auf der
Tatsache bestehen, daß man ebenso
nicht von revolutionären Kampf spre-
chen kann, bevor man es mit einem
globalen, zentralisierenden Kampf für
die Zerstörung des Kapitalismus und für
den Aulbau des sozialistischen Systems
zu tun hat. Die partiellen und verstreu-
ten Kämpfe, die existieren, bevor dieses
globale Projekt erscheint, können in der
Tat (d.h. wenn sie Forderungen authen-
tisch-proletarischer Natur ausdrücken)
nur als "schwache Keimzellen" des re-
volutionären Kampfes bezeichnet wer-
den.
Ein globales revolutionäres Projekt im-
pliziert eine theoretische Vereinigung
(weil die Maßnahme der Synthese eine
der gesamten revolutionären Bewegung
gemeinsame Vision der Welt erfordert,
eine Vision der Welt, die unserer Mei-
nung nach der Marxismus-Leninismus
sein muß); dies impliziert eine politi-
sche, strategische und programmati-
sche Vereinigung (damit die Kräfte den
objektiven Bedürfnissen entsprechend
sinnvoll konzentriert und verteilt wer-
den und der Zusammenhalt und die Ge-
wicht ihrer Demonstrationen das Ver-
trauen der Massen gewinnen); dies im-
pliziert schließlich eine organisatori-
sche Vereinigung (die den anderen An-
sprüchen au Einheit die Krone aufset/t
und aus der das Konzept der Partei
seine historische Legitimität schöpft).
Wir sind nicht naiv: Wir wissen, daß
aus den Reihen derer, die sich als "die
revolutionäre europäische Bewegung"
bezeichnen, viele einem historischen
revolutionären Schritt - der Klasse -
fembleiben werden. Viele werden die
“Selbstbestimmung der Kampfpo\e~ ver-
teidigen und den Schritt der theoreti-
schen, politischen, strategischen, pro-
grammatischen und organisatorischen
Vereinigung ablchnen; den Schritt der
Unterordnung des Teils unter das Gan-
ze. des Zweitrangigen unter das Vorran-
gige, der einzelnen (oder fraktionellen)
Interessen unter das kollektive (oder
parteiliche) Interesse.
Wir wissen, daß das subjcktivistischc,
kleinbürgerliche Gift derartig in der eu-
ropäischen militanten Bewegung ver-
breitet ist. daß viele Genossinnen noch
lange darin verharren werden, sich vor-
rangig in ihren eigenen Intcrcsscnpolcn
und nicht gemäß der übergeordneten In-
teressen des revolutionären Kampfes zu
positionieren und zu engagieren, wie sie
der historische und dialektische Mate-
rialismus und die Erfahrung der interna-
tionalen kommunistischen Bewegung
offenbaren. So werden auch die Genos-
sinnen zahlreich sein, die gegenüber der
historisch-zentralen Rolle des Klassen-
kampfes blind bleiben (Klassen, die -
erinnern wir daran - sich objektiv aus
der politischen Ökonomie heraus defi-
nieren und auf keine andere Weise),
dem Widerspruch zwischen Proletariat -
und besonders der Arbeiterklasse - ei-
nerseits und der Bourgeoisie anderer-
seits. genauso, wie sic blind bleiben ge-
genüber dem wissenschaftlichen Weit
der marxistisch-leninistischen Lehren.
Unsere Pflicht als Kommunisten ist cs.
diese Genossinnen inständig zu bitten,
sich von dem schädlichen Einfluß des
Subjektivismus zu befreien, der sie
verwirrt. Auch, wenn wir nicht ignorie-
ren. daß eine große Zahl dies nicht kann
oder nicht will, solange es stimmt, daß
die soziale und kulturelle Herkunft vie-
ler revolutionärer Militanter ein großes
Hindernis darstellt, die Abweichungen
zu überwinden, die genauso kleinbür-
gerlich sind wie der Subjektivismus
(und seine frontistische Folge), und Ei*
92
nigkcit unter einer authentisch-proleta-
rischen Position herzustcllcn.
Diese Befreiung kann einen noch härte-
ren und dauerhafteren Kampt erfordern,
als die Kämpfe, die nötig sind, um sexi-
stische. rassistische, chauvinistische etc.
Verhaltensweisen in den Reihen der re-
volutionären Bewegung auszurotten.
Denn es verhält sich so. daß Antisexis-
mus. Antirassismus etc. als solche, au-
ßerhalb eines vorrangigen Klasscnzu-
sammenhangs gänzlich mit einer
(klein)-bürgerlichen Position überein-
stimmen können; es reicht, an die hu-
manistischen Grundlagen der Sozialde-
mokratie zu denken, in denen sich das
europäische. intellektuelle und
"progressislischc“ Kleinbürgertum un-
verfälscht wiedererkennt... und auf die
es auch seinen fanatischen Antikommu-
nismus stützt. Die Wahl von wirklich
proletarischen Positionen und Schritten
hingegen erfordert - mit allem, was dies
in Begriffen von Engagement. Moral,
Disziplin, Parteigeist, Unterwerfung des
Teils unter das Ganze, des Opfers an
das übergeordnete Klassenintercssc etc.
bedeutet - einen fundamentalen und be-
ständigen, definitiven Bruch mit den In-
teressen und dem individualistischen
Gepäck des Kleinbürgertums. Es ist we-
sentlich. den Individualismus und den
Subjektivismus zu verwerfen; es ist ein
harter Kampf, den wir in unseren Rei-
hen, unseren Köpfen, unseren Entschei-
dungen, überall urd für alle, ununter-
brochen und ohne Zögern führen müs-
sen. Die Kapazität der europäischen re-
volutionären Bewegung hat einen davon
abhängigen, reellen revolutionären
Kampf entwickelt.
ANTWORT AUF ZWEI PRÄZISE
FRAGEN
Wie stellt ihr euch den Kampf gegen
das Patriarchat vor? Welche Bedeutung
hat dieser Kampf für euch?
"Die Bourgeoisie, wo sie zur
Herrschaft gekommen, hat alle
feudalen, patriarchalen (...)
Verhältnisse zerstört. "
KARL MARX & FRIEDRICH
ENGELS
Manifest der Kommunistischen
Partei
Zuallererst, bevor wir zu unserer eigent-
lichen Position kommen, erscheint cs
uns sinnvoll, über den Gebrauch des
Begriffes Patriarchat nachzudenken, um
das Wesen der Ungleichheit zwischen
den Geschlechtern, das dem sozialen
Gebilde unserer heutigen Länder eigen
ist, darzustellen. Wir denken, daß, wenn
es auch noch erlaubt ist, in bezug auf
bestimmte Länder auf dem Weg der
Entwicklung oder periphere Länder (auf
verschiedenen Stufen) von Patriarchat
zu sprechen, es in bezug auf die cnlwik-
kelten Länder der imperialistischen
Zentren unzweckmäßig ist; ganz ein-
fach, weil, ungeachtet der Beständigkeit
von besonderen Fermen ökonomischer
Ausbeutung, sozialer, ideologischer und
kultureller Unterdrückung, die Gleich-
heit der Rechte zwischen Männern und
Frauen erworben ist.
Das Patriarchat beruht auf der Familie,
deren Vermögensbesitzer der Mann ist
und in der die Übertragung des Vermö-
gens der Abstammung in väterlicher Li-
nie folgt. Allen anderen Aspekten des
Patriarchats und insbesondere seinen
ideologischen Folgen ist cs daran gclc
gen, die Unterdrückung der Frau auf die
eine oder andere Art zu rechtfertigen,
was von der Frage des Besitzes des Fa-
milienvermögens. seiner Ausdehnung
und seiner Übertragung herrührt. Des-
halb erlaubt unserer Meinung nach die
Gleichheit der Reihte zwischen den
Geschlechtern in der zeitgenössischen
Familie und insbesondere die rechtliche
Gleichheit auf dem Gebiet des Besitzes
und des Erhes nicht, die moderne kapi-
talistische Gesellschaft als patriarcha-
lisch zu bezeichnen; und dies, wir wie-
derholen es ausdrücklich, trotz der un-
leugbaren Beständigkeit von spezifi-
schen Äußerungen ökonomischer Aus-
beutung, sozialer, ideologischer, kultu-
reller etc. Unterdrückung der Frauen.
Wir denken, daß es korrekter ist, unsere
aktuellen Gesellschaften als fortge-
schrittenen Kapitalismus und die bür-
gerliche Demokratie als sexistisch zu
beschreiben.
Es scheint uns noch wichtiger, den Be-
griff Patriarchat in seinen exakten histo-
rischen Zusammenhang zu stellen.
Denn es ist gänzlich absurd und falsch,
zu behaupten, daß das Patriarchat die
Gebärmutter des Kapitalismus sei oder,
wie es die Genossinnen der " Infolüden "
schreiben, "eine den Kapitalismus - mit
bedingende Herrschafts- und Unter-
drückungsform ".
In einer allgemeinen Form beruht eine
solche Konzeption auf dem philosophi-
schen Idealismus: sic behauptet, daß der
Überbau die Struktur kreiert; sic versi-
chert in der Finalität, daß der Mensch
die Gesellschaft und die Geschichte
kreiert, statt ein historisches und sozia-
les Produkt zu sein. Eine solche Kon-
zeption verwirft in absoluter Art und
Weise den gesamten historischen und
dialektischen Materialismus. Sie ist
falsch.
Noch genauer, das Patriarchat ist das
Ergebnis der Entwicklung der Produk-
tivkräfte. die, indem sie das niedere Sta-
dium der Barbarei überholten, mit dem
primitiven (stämmischen, klanhaften)
Kommunismus brachen, in dem die Ab-
stammung nach Mutterrccht herrschte.
Es ist das Wachstum der Produktivität
der Arbeit, das (dank der Züchtung, der
Agrarkultur, der Herstellung von Werk-
zeugen) die neuen Reichtümer ins Le-
ben rief und die Akkumulation erlaubte.
Es maß dem Privateigentum eine neue
Dimension bei und wurde dadurch zum
Schlüssel für die Vernichtung der tradi-
tionellen Verhältnisse, die von der
Hauswirtschaft des primitiven Kommu-
nismus abstammten.
Engels: "In dem Verhältnis also, wie die
Reichtümer sich mehrten, gaben sie ei-
nerseits dem Mann c ine wichtigere Stel-
lung in der Familie als der Frau und
erzeugten andererseits den Antrieb,
diese verstärkte Stellung zu benutzen,
um hergebrachte Erfolge zugunsten der
Kinder umzustoßen. Dies ging aber
nicht, solange die Abstammung nach
Mutterrecht galt. Diese mußte also um-
gestoßen werden urd sie wurde umge-
stoßen. (...) Damit war die Abstam-
mungsrechnung in weiblicher Linie und
das mütterliche Erbrecht umgestoßen,
männliche Erblinie und väterliches
Erbrecht eingesetzt. (...) Die erste Wir-
kung der nun begründeten Alleinherr-
schaft der Männer zeigt sich in der nun
auftauchenden Zwischenform der patri-
archalischen Familie.'' (aus: “Der Ur-
sprung der Familie, des Privateigentums
und des Staates”)
Auch der Kapitalismus entsteht aus der
Entwicklung der Produktivkräfte, aber
einige Jahrtausende später. Das ist der
ökonomische Rahmen in (und aus) dem
der Kapitalismus zum Vorschein
kommt, bzw. die feudalistische Produk-
tionsweise, die unbestreitbar patriar-
chalisch ist. Daraus kann man dennoch
nicht den logischen Schluß ziehen, daß
das Patriarchat der Ursprung des Kapi-
talismus wäre. Das Wichtigste ist der
Privatbesitz an Produktionsmitteln, und
es ist belanglos - zumindest aus (dem,
Einf. d. Hg.] historischen Gesichtspunkt
des Auftauchens des Kapitalismus - ob
er innerhalb der Familie von dem einen
oder anderen Geschlecht monopolisiert
ist oder sich durch die eine oder andere
Abstammung überträgt. Dies wird be-
stätigt durch die einfache Tatsache, daß
heute die kapitalistischen Produktions-
verhältnisse fortbestehen. wo doch die
Gleichheit der Rechte zwischen den
Geschlechtern festsieht, was den Besitz,
seine Wertsteigerung und seine Über-
tragung betrifft.
Überdies wäre es sinnvoll zu unterstrei-
chen. daß es die kapitalistische Ent-
wicklung selbst ist (und besonders die
industrielle Revolution, die die Frau aus
dem Kreislauf des Haushalts hcrausholt
93
und sic in die lohnproduktion stürzt),
der man die soziale Basis schuldet, die
der Bewegung der Frauenbefreiung er-
laubt hat. zu entstehen und zu Ergebnis-
sen zu kommen.
Das Patriarchat hinter sich gelassen
zu haben, ist einer der historischen
revolutionären Verdienste des Kapi-
talismus.
Dies alles um zu erklären, daß wir in
keiner Weise die spezifische Unter-
drückung der Frau in der imperialisti-
schen Gesellschaft abstreiten (wie auch
ihre Ausbeutung in der ehelichen Fami-
lie als ökonomische Einheit, ihre größte
faktische Unsicherheit, ihre Versachli-
chung etc.) und noch weniger die bru-
talste Unterdrückung, die sic in zahlrei-
chen peripheren Drittweltländem erdul-
det. Wir beabsichtigen weder, dieses
Problem zu bagatellisieren, noch ihm
einen Platz in der historischen Evolu-
tion der Menschheit einzuräumen, den
cs nicht hat. Der Kampf für die Gleich-
heit der Geschlechter schließt sich dem
Kampf für die Befreiung aller Unter-
drückten und Ausgebeuteten dieser
Welt an, aber er ist nicht der wesentli-
che Hebel. Dieser wesentliche Hebel,
wir brachten es kurz in unserem Text
"Ein bißchen über Politik" zur Sprache,
ist der universelle und antagonistische
Widerspruch zwischen internationalem
Proletariat und imperialistischer Bour-
geoisie. Allein die revolutionäre Lösung
wird diesem Widerspruch einen wirkli-
chen sozialen, ökonomischen, politi-
schen und ideologischen Fortschritt der
Menschheit ermöglichen: Der Marsch
zu der kommunistischen Gesellschaft.
Wir möchten nun über einen fundamen-
talen Umerscliied /.wischen de« Ansicht
sprechen, die einerseits bei einer großen
Mehrheit der füt die Befreiung der Frau
kämpfenden Bewegungen besteh; und
andererseits der Ansicht, die von den
revolutionären Kommunisten vertreten
wird, zu denen wir gehören. Dieser Un-
terschied besteht in der Position und be-
ruht auf der Klasscnanalysc. Unserer
Ansicht nach können in einer Gesell-
schaft, die in sozial-antagonisiische
Klassen geteilt ist, keine Rechte oder
Freiheiten existieren, die dem Klassen-
kampf übergeordnet sind.
Es ist vollkommen richtig, daß in der
Vergangenheit Bourgeoisie und Proleta-
riat manchmal ihre Kräfte vereinigt ha-
ben (in widersprechender Form insofern
beide selbst Produkte der herrschenden
Produktionsweise sind), um den Feuda-
lismus endgültig zu liquidieren.
In diesem sehr allgemeinen Rahmen hat
der Kampf gegen das Patriarchat und
für die rechtliche Gleichheit der Ge-
schlechter die Bewegungen der bürger-
lichen, kleinbürgerlichen und proletari-
schen Frauen vereinigen können (bis
vor nicht allzu langer Zeit, das ist
wahr). Aber heute ist cs unbedingt nötig
zu verstehen, daß diese Zeiten durch die
bürgerlichen Demokratien der imperia-
listischen Zentren ein Ende gefunden
haben. Es gibt gegenwärtig überaus
mehr gegensätzliche als gemeinsame In-
teressen einer Bürgerlichen und einer
Pruletaricnn; die Intensität der ersten
löscht die zweiten völlig aus.
Tatsächlich hängt alles von den realen
Zielen ab. die man zu erreichen sucht.
Entweder eine radikale und komplette
Veränderung der sozialen Verhältnisse,
hin zu der Gesellschaft der Gleichheit;
die Abschaffung der Ausbeutung und
der Untercrtlckung des Menschen durch
den Menschen, die Beseitigung des
Sexismus, der Phallokratie etc. ; oder
antisexistische, antiphallokratische Re-
formen, die aber im Rahmen der global
unveränderten sozialen Verhältnisse, in
der die Teilung in Klassen und die Un-
terdrückung des Menschen durch den
Menschen fortbcstchcn, zwangsläufig
unbefriedigend sind. Das erste Ziel ist
das der revolutionären Kommunistin-
nen. das zweite dos der reformistischen,
bürgerlichen und kleinbürgerlichen Fe-
ministlnnen.
Welche Haltung muß die kommunisti-
sche Avantgarde gegenüber den
Kampfbewegungen proletarischer Frau-
en (gegen Überausbeutung. Sexismus
etc.) einnehmen? Natürlich eine unge-
brochene Unterstützung, die aber in ei-
ne politische Arbeit integriert sein muß.
welche darauf abzielt, diesen Bewegun-
gen ihren natürlichen Rahmen - den
Klassenkampf - bewußt zu machen und
somit in Richtung des revolutionären
Kampfes zu qualifizieren. Und welche
Haltung muß die kommunistische
Avantgarde gegenüber dem bürgerli-
chen und kleinbürgerlichen Feminismus
einnehmen? Eine Kritik ohne Zuge-
ständnisse an seinen reformistischen
und antiproletarischen Charakter.
Abschließend denken wir. wenn cs rich-
tig ist, den Sexismus und die Phallokra-
tic. dort, wo und in der Form wie sic
sich zeigen, zu bekämpfen (auch im
Proletariat und ganz besonders unter
den Kommunisten, die beispiclhatt sein
müssen, wo sie doch bloß die schwieri-
gen Entwürfe der neuen Menschheit
und ihrer sozialen Harmonie sind); dann
wird nur die Revolution ermöglichen,
alle sozialen, ökonomischen und politi-
schen und auch die ideologischen, eng
mit dem Kapitalismus verbundenen,
Probleme zu lösen und mit der Ausbeu-
tung des Menschen durch den Men-
schen, der Unterdrückung des Men-
schen durch den Menschen völlig
Schluß zu machen. Für die Prolctaric-
rlnnen der ganzen Welt ist dieser Ein-
satz die doppelte Mühe wert.
(Wir lassen an dieser Stelle die Ab-
schnitte A. "Falsche Zitate"?.' und ß.
Verrat. Konfrontation und Gewalt des
zweiten Teils des Textes der CCC- Ge-
fangenen aus. Denn diese beschäftigen
sich kaum auf theoretisch-grundsätzli-
cher Art und Weise mit der Frage des
Patriarchats, sondern mit Einzclfragcn
des eingangs angesprochenen Konflikts
in der Amsterdamer Szene und der dar-
aus entstandenen Debatte. Anm. d. Hg.]
C. Die "Ätzerinnen" (sic)
In der von den "Internationalen Info-
Läden" herausgegebenen Broschüre
findet man natürlich unser Dokument
vom Juli 1989. Was wir weniger natür-
lich linden ist, daß bei der Gelegenheit
dieser Publikation sich unser Text ge-
spickt mit achtzehn in Klammern ge-
setzten Kommentaren wiederfindet, be-
ansprucht von anonymen "Ätzerinnen".
Wir wollen diesbezüglich reagieren, erst
auf den Hauptinhalt der Kommentare
und dann auf das Verfahren als solches.
Die Mehrzahl der Kommentare betrifft
die Abwesenheit von toxikologisch, or-
thographisch oder grammatikalisch fe-
mininen Formen in bestimmten Passa-
gen unserer Abfassung. Eine unabhän-
gige Notiz am Ende unseres Dokuments
scheint den allgemeinen Sinn dieser
Kommentare zu rekapitulieren: "Zur
femininen Form, die so oft in diesem
Text nicht vorhanden ist: es ist uns
nicht klar, ob das ein Problem der
Übersetzungen ist und zu Anfang haben
wir noch versucht das im ganzen Text
zu verändern, zum Ende hin haben wir
es aufgegeben, das es einfach zu viel
war'.
Tatsächlich ist der Ursprung der
Schwierigkeiten linguistisch und be-
steht in der Tatsache, daß die gesamte
Sprache nach der dominanten Ideologie
gesittet ist Nehmen wir folgendes Bei-
spiel: vier Interventionen der
"Ätzerinnen" bestehen in dem Zusatz
von " und frau “ hinter "man". Nun exi-
stiert das Problem "man/Mann" im
Französischen nicht. "Man" heißt "on”
(unbestimmtes Fürwort), ohne daß da
die geringste Erinnerung an seinen la-
teinischen Ursprung "rtomo" wäre. Da-
her kommt cs. daß im Französischen
niemand je die Idee hätte, "et ellefs ) "
oder "et la/les femmefs)" nach dem Ge-
brauch von "on" hinzuzufügen. dessen
Geschlecht gänzlich als unbestimmt
etabliert und anerkannt ist. Was konnte
der Übersetzer tun, konfrontiert mit all
den "on" in unserer Abhandlung, als sie
mittels ihres deutschen Ersatzes zu
übersetzen? Wir können doch trotz al-
lem nicht von unserem Übersetzer ver-
94
langen, dar» er des Sexismus der deut-
schen Sprache schuldig sei!
Wir sind Übrigens umso weniger ge-
neigt. die Ubersetzungsarbeit zu kriti-
sieren. als sie von einem vernünftigen
antisexistischen Bemühen zeugt. Zum
Beispiel beschreibt im Französischen
das Wort "camcrade"
(Gcnossc/Gcnojsin. d.Ü.) beide Ge-
schlechter. sowohl im Singular als auch
im Plural, wahrend im Deutschen vier
unterschiedliche Formen existieren.
Nun. die Überreizung löst dieses Pro-
blem mit dem Begriff "Genoss/innen",
um “des camarades (des deux sexes)“
(Genossen |beider Geschlechter). d.Ü.)
zu ersetzen.
Ist cs nun möglich, systematisch alle
lexikologischen. orthographischen oder
grammatikalischen Fälle zu beheben,
die auf einem Vorrang des männlichen
Genus beruhen, in einer durch eine ural-
te patriarchalische, sexistische Kultur
gestalteten Spruche? Im Französischen
ist dies unmöglich, zumindest wenn
inan die Sprache als Kommunikations-
mittcl betrachtet. Die Präzision der Be-
griffe. die Übereinstimmung der Adjek-
tive. der Partizipien der Vergangenheit,
die Wahl der Fürwörter etc. sind zu
vielfältig und komplex, um die verall-
gemeinerte Verweigerung der Vorherr-
schaft des männlichen Genus oder sei-
nes Vorranges in Fällen der Mischung
zu erlauben.
Wir müssen uns mit der historischen
Realität der Kommunikation abfinden,
immer darauf achtend, soweit wie mög-
lich - d.h. ohne die Kommunikation
selbst zu gefähnien - sexistische Äuße-
rungen einer sexistischen Kultur za ver-
werfen. Zum Beispiel opfern wir einen
Teil unserer Lesbarkeit, indem wir "les
militant(e)s “ (die Militanten, d.Ü.)
schreiben oder wir verdoppeln die
Übereinstimmung des Prädikatsnomens
hinter "camarades". wir verwenden die
Wiederholung 'les travailleurs et les
iravaileuses " (die Arbeiter und die Ar-
beiterinnen, d. Ü.), wir präzisieren "les
proletaires, hommes et femmes" (die
Proletarier, Männer und Frauen, d.Ü.)
etc. Aber wir vermeiden auch den Ge-
brauch von erfundenen Worten, deren
antisexistische Orthodoxie ihresglei-
chen nur in der Seltenheit der Einge-
weihten findet; so verbinden wir
" fraternel" und “fraterniie" (bürgerlich
und Brüderlichkeit. d.Ü.) nicht mit
"sororal" oder " sorurite " (schwesterlich
und Schwesteriichkeit). was heutzutage
ebenso rar m «Ln Wörterbüchern, wie
der sozialen und politischen Kultur un-
bekannt ist.
Also? Also nichts. Genauso wie wir
nicht beabsichtigen, den I ’bcrsct/cr un-
seres Dokuments vom Juli 1989 für den
Sexismus der deutschen Sprache ver-
antwortlich zu machen, erklären wir uns
nicht des Sexismus der französischen
Sprache für schuldig. Diese isi unum-
gänglich das einzige, uns zur Verfügung
stehende Instrument, um uns verständ-
lich zu machen, trotz all seiner Fehler
verwenden wir cs zu diesem Zweck -
der uns sehr teuer ist. Wir übernehmen
ohne eine Spur von Zögern die Tatsa-
che, dies zu respektieren unJ auch hier
die Regeln der Orthographie, der Gram-
matik etc., wenn die Klarheit unseres
Ausdrucks davon abhängt. Und die Kri-
tiken. die man uns eventuell zu diesem
Thema senden könnte, nehmen wir mit
einem Schulterzucken entgegen.
Zumal cs irotzdom die Mühe wert wäre,
sich über die reale Wirkung lexikologi-
scher Formen und grammatikalischer
Regeln auf den Klassenkampf Gedan-
ken zu machen, oder sei es auch nur in
der Beziehung zwischen Männern und
Frauen innerhalb der revolutionären
Bewegung... Ehrlich gesagt bezweifeln
wir stark, daß dies irgendeine Wirkung
haben könnte und es scheint uns, als
wenn die deutschen Genossinnen der
Sache eine übertriebene Wichtigkeit
beimessen. Daß man seinen Ausdruck
von Wörtern, Begriffen. Konstruktionen
etc., die eine aktive Verwirrung mit
Merkmalen der dominanten bürgerli-
chen Ideologie etablieren würden, aus-
merzt, ja natürlich, aber daä man sich
nicht vorstellt, aus einer glcichmachcri-
schen, grammatikalischen Richtigstel-
lung ein dynamisches Element des
Kampfes jegen die bürgerliche Organi-
sation der Gesellschaft zu machen. Wir
werden die Gesellschaft nicht verän-
dern, indem wir die Sprache verändern,
aber wir werden (besonders) die Spra-
che ändern, wenn wir die Gesellschaft
verändern.
Vergessen wir auch nicht, daß die Spra-
che aus dem Überbau stammt und daß
ihre Wechselwirkungen mit der Basis
nicht den Vorrang der Basis vor dem
Überbau verdecken dürfen.
Aber die Kommentare, die unser Do-
kument spicken, sind nicht alles ideolo-
gisch-linguistische Vorwürfe. Es sind
dort andere, die sich auf eine Diskus-
sion mit einer “ Gruppe Molotow“ (die
wir nicht kennen» beziehen. Scherze
sein wollen, uns beschimpfen und in la-
pidarer Art und Weise eine Uneinigkeit
in Erinnerung nifcn, die wir im offenen
Brief entwickelt wiederfinden etc. Also,
letztlich wollen wir öffentlich die Frage
der Zweckmäßigkeit der Einfügung die-
ser achtzehn in Klammern gesetzten
Kommentare stellen.
Uns erscheint schon die Vorgelienswei-
sc an sich kritisierbar: sie begibt sich
unaufhörlich und eigenmächtig daran.
einem Genossen während seiner Dar-
stellung das Wort abzuschneiden. Soet-
was schickt sich nicht. In einer Debatte
wartet man ab. bis man mit dem Reden
an der Reihe ist. und man respektiert die
Rechtschaffenheit der Beiträge, die die
anderen Beteiligten zuversichtlich bei-
bringen.
Wenn die "Ät/.erinnen" an der Diskus-
sion teilzunehmen wünschen oder an
einer anderen mit der "Gruppe Molo-
tow’, so werden wir die Beiträge, die
sie bringen aufmerksam lesen,... aber
außerhalb unserer eigenen Abfassun-
gen. Worauf ihr Ausdruck, wie auch der
unsrige unbestreitbar an Klarheit ge-
winnen würde. Weil jenseits von ele-
mentarem Respekt unter Genossinnen
sich die Frage vom Nutzen des Austau-
sches stellt.
Unsererseits schreiben wir in erster Li-
nie. um verstanden zu werden. Wir ver-
binde also mit der Zugänglichkeit und
der Lesbarkeit unserer Dokumente eine
umso größere Bedeutung, als daß wir
die ersten sind, die wir unsere Grenzen
auf diesem Gebiet kennen: wir wissen
unseren Schreibstil schleppend, bedürf-
tig, widerlich, manchmal hochnäsig und
innrer zum Kotzen. Und wir wissen
auch, daß die Übersetzungen die unan-
genehme Gepflogenheit haben, diese
Mängel zu vergrößern, wenn sie nicht
eine große Zahl von Sinnwidrigkeiten
mit sich bringen, was schlimmer ist. So
viele Schwierigkeiten, die verursachen,
daß wir sehr ungern, was immer es auch
sei - und besonders Unnötiges - sehen,
was den Zugang und das Verständnis
unserer Abhandlungen noch schwieri-
ger macht. Deshalb bitten wir ausdrück-
lich dämm, unsere Texte zukünftig
nicht mehr einer solchen Behandlung zu
unterziehen.
D. Das Dokument der "Revolutionär
initiatief Amsterdam"
fDicscr Abschnitt beschäftigt sich ein-
mal mehr mit einem Aspekt des Streits
in Amsterdam. Wir dokumentieren ihn
deshalb hier genauso wenig wie die
dem Text der CCC-Gefangcncn beige-
fügten Reproduktionen verschiedener
älterer Stellungnahmen zu dieser De-
batte, die für die gegenseitigen Vorwür-
fe des Falschziticrens relevant sind.)
Sauers. p>ac<i do Urin
n* « s 2 . 4*<o lann
P tu* Chm«, piaon öo Mau
fco e<&-3 Wnsiai CHucd 24. ?£00 Mau
Pasta* vaxWw» Won « Nam*
potc Ht» JoscpH AnOit 7. SCCQ Nara
DOvi Ohm*« Vav \ « Hu,
iü» O» Paüa ö* (UM* 4. 4K» Hu,
95
Pro Kommunismus
Zur Kritik der Texte der
Kommunistischen Briga-
den und der CCC-Gefan-
genen
Vorbemerkung: Dieser Text bezieht
sich auf die beiden vorsiehend abge-
drackten Texte: das Kapitel zur Patriar-
chatsdiskussion aus der (im Literatur-
verzeichnis genannten) Broschüre der
Kommunistischen Brigaden vom Mai
1 99 1 sowie auf Ausführungen der CC-
C-Gefangcncn zu diesem Thema in ih-
rer Antwort auf einen Offenen Brief der
internationalen Info-Läden. Dieser Text
ist so aufgebaut, daß im ersten Teil ge-
meinsame Positionen, der CCC-Gefan-
genen und der Kommunistischen Briga-
den (KomBri) kritisiert werden. In den
beiden folgenden Abschnitten wird ge-
sondert auf beide Gruppen eingegan-
gen, während im letzten einige Not-
wendigkeiten materialistischer Patriar-
chatskritik skizziert werden.
"Die Umstände befinden
sich in einer ununterbroche-
nen Wandlung; wenn wir
unser Denken den neuen
Umständen anpassen wollen,
dann müssen wir studieren.
Auch diejenigen, die den
Marxismus bereits verhält-
nismäßig gut verstehen, die
bereits in ihrer proletari-
schen Haltung relativ gefe-
stigt sind, müssen immer
wieder studieren; sic müssen
sich mit Neuheiten vertraut
machen, sic müssen die
neuen Probleme untersu-
chen." 1 *
I. Zur Kritik der gemeinsamen Grund-
Positionen von Kommunistischen Bri-
gaden und CCC-Gefangenen
1. Die Methode der Nicht-Argumen-
tation: Aufspaltung des Patriarchats-
Begriffs
Sowohl die KomBri als auch die CCC-
Gefangcncn teilen den Gesamtkomplex
von Frauenunterdrückung in zwei
Hauptbereichc auf:
++ zum einen handele cs sich um ein
vorkapitalistisches Relikt. Die KomBri
nennen dies "historisches Gewaltver-
hältnis zwischen Geschlechtern". Die
CCC-Gefangenen wollen für diesen Be-
1 Um Tss-Ijij an 120)57 0# Kzrttr«iz Ce* MiCMJe
Fr«i>JViSDit>M Gu KPQt
reich den Begriff "Patriarchat" reser-
viert wissen.
++ zum anderen handele cs sich um ei-
nen Ausdruck des Kapitalismus.
Der erste Bereich (und insoweit auch
der Kampf gegen Frauenunterdrückung)
sei in einer kapitalistischen Gesellschaft
nicht mehr gesellschaftlich-politisch re-
levant, sondern ein Privat problem. Der
Kampf gegen den zweiten Bereich von
Frauenunterdrückung sei ein bloßer Un-
terfall des Klassenkampfes. Das “Recht
(sic!, Anm. d. Verf.) auf Selbstbestim-
mung eines antipatriarchalcn Kampf-
pols” (CCC. 91) bzw. eine "starke ei-
genständige antipatriarchalc und anti-
rassistische Orientierung
(Organisierung)" (KomBri, 86) wird
abgelehnt.
Diese Auffassung wird in beiden Tex-
ten nicht begründet, sondern - durch die
oben zitierte Aufspaltung - definitorisch
gesetzt. ** Dies können sich die KomBri
und die CCC-Gefangenen nur
(scheinbar!) erlauben, weil sie den Ge-
genstand ihrer Kritik, den heutigen Fe-
minismus, nicht kennen bzw. so tun. al-
so ob sie ihn nicht kennen. Dies ermög-
licht ihnen, die traditionelle marxisti-
sche Position einfach nur zu wiederho-
len, ohne auch nur den Versuch einer
argumentativen Widerlegung der femi-
nistischen Marxismus-Kritik zu unter-
nehmen.
Im Einzelnen zeigt sich das an folgen-
den Punkten:
2. Ignoranz gegenüber dem feministi-
schen Patriarchatsbegriff
Im Gegensatz zu den beiden Texten will
der Feminismus die n/c/ir-kapitalfunk-
tinnale(n Teile von) Frauenunter-
drückung nicht als bloße Relikte aus
früherer Zeit betrachten. Deshalb ver-
wendet der Feminismus den Begriff
"Patriarchat" nicht (nur) für "the feudal
rule of the father as head of the house-
hold over 'his' woman. children, labou-
rcr and servants“. Vielmehr ist die
"general assumption behind the discus-
sion of present-day patriarchy (...) that
even if women have been oppressed
throughout history, patriarchay today is
not simple a historical left-over. The
? öojlfcfi »nl data IMOdM an '«« Mi Ko-ßn Dw
zmtt San Nu Kapfeb nie im* Ob
P trtnra ab voia» SWAiu irbrsche.« at> m ZUpxki Ott
ErtCftnng Oet »apWedschoi PMKoä-om * nxrtm v*n
»or«ojcn gcMbcnanicMn Prtizo. mm trt t) a-w btxmrij zu
Wajal In PicdtJami RiwoajUüntzitXrt
gnctOtn 0‘ D*n Thwa M3 -gan» « d*n Tab bagnMaL
dm mß w «rj cmti •>»>!( zuifckgagrMcn. mm Ui oaun 4 ««.
InWflB ccftBch. ScMjOtotjanzigen aBaoUzan fzu
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Para-^dl rn Kapüttmn plrj, te firKoi zu iMoi «. • |».
mm «*iMiä)a<4tfn»ga).36 NM gwa*-. •** aoJaunob
tmtm'. Vit WravT. 87: •uneinoäi «nroi M.llch zu lagen*.
An ei fetan Skalen wtO Sn RiJöyal d» AusgingctMM eif>:h
m> «ca-igwcia; am a 1 Ajvprqamu n*w zu. b-efn an ai
Msan 8tt*o «a AigmMUl» zmmwn'
subjcction of women ist not just the last
kind of inequality to bc removed. as
John Stuart Mill thought. but an integra-
ted part of the stmcturc of prcscnt-day
Society ."- 1
Auch Juliet Mitchell schreibt, daß der
Begriff Patriarchat verwandt wird,
"nicht um die Herrschaft des Vaters zu
bezeichnen, sondern die Herrschatt der
Männer überhaupt. (...), so daß wir sa-
gen können. Feminismus ist die Über-
zeugung. daß die Unterdrückung der
Frau zuallererst dagewesen ist und los-
gelöst werden kann von jedem spezifi-
schen historischen Kontext." 4 *
Dies ist - in der hier zitierten Form! -
auch nicht mehr als eine Begriffsdefini-
tion und eine Behauptung ohne Begrün-
dung. Aber die CCC-Gefangenen und
die KomBri sind dafür zu kritisieren,
daß sie es sowohl unterlassen haben
++ die Nützlichkeit eines solchen wei-
ten Patriarchats-Begriffs für die von den
CCC-Gefangenen zu Recht cingcfor-
derte "historisch-materialistische Ana-
lyse" (90) der Gesellschaft zu prüfen,
als auch
++ die - an anderer Stelle vorgebrach-
ten - Argumente für die feministische
These (daß Frauenunterdrückung nicht
[nur] "simple a historical left-over (...),
but an integrated pan of the structure of
prcscnt-day society" sei) zu erörtern.
3. Ignoranz gegenüber der Kritik an
einer kapitalfunktionalen Patriar-
chatserklärung
F.benfalls wurden in der feministischen
Debatte längst Argumente gegen eine
kapilalfunktionalc Erklärung des Patri-
archats vorgebracht.
a) Wem nutzt die Frauenlohndiskrimi-
nierung?
So läßt sich bspw. Fraucnlohndiskrimi-
nierung nicht (nur) mit seiner
(vermeintlichen) Funktionalität 5 für das
Kapital erklären, sondern realisiert ein
klassenübergreilendes Interesse aller
Männerß Eine gleichmäßige Verteilung
einer gegebenen Lohnsummc auf Frau-
en und Männer ließe die Profitrate des
Kapitals unberührt.
"Wenn auch zwischen den Klassen
höchst unterschiedliche Vorstellungen
über die Lohnhöhe bestehen, so existiert
doch in einem Punkt ein Konsens zwi-
3 19S7. 93. * AJrOrg» gö w aucti wage FtmnstNm
<*g denn wtnuc&r, PaüiirMlt-ea-jrff ab zu j^lzo#
aW*v.tn. D«i tiMan- «®i ab *• Kcmön in) 0« CCC-
üatanganen • noa oazv. Zu MM MM. MC ><»M-ixUit*-;c*u>g
aixfi <xxn «re Cto-raao Mi hangen ganiiOWikhoi Sm»M
et.
4iamiis66-ini.60.82
s s. Bf gnnOitizUtim PnOrviM t/Moi iWoMei Eit»-
rj>3«ns¥zt Bzrw 1M0. 29. vtf. ?t t ; OraQltntr 1983. '.6
6 S zun taiimlMiyiZan»« Cttratiei von Frajen.»i!in»ic»irg
auMAMwiWoliMS.a«
96
sehen männlichen Arbeitern und Kapi-
talisten. Die Löhne der Männer müssen
bei vergleichbarer Arbeit höher sein als
die der Frauen." 2 Es ist also nicht das
Kapital, das die Lohnarbeitcrinnen
'doppelt unterdrückt'. 8
Dies gestehen unfreiwillig auch die
CCC-Gefangenen zu. wenn sie auf S.
93 von einer "Üftemusbcutung”
IHervorh. d. Verf.J der Frauen sprechen.
Eine solche "Merausbcutung" läßt sich
im Rahmen de: Kapitallogik nämlich
nicht erklären. 9 “(...) es ist mir nicht
klar, warum cs im Interesse des Kapi-
tals sein sollte, Frauen Löhne zu zahlen,
die für Männer einen höheren Lohn not-
wendig machen, damit diese ihre Frauen
unterhalten können. (...) Die Funktion-
sweise der Ausbeulung verstehen heißt
noch nicht, daß geklärt ist. warum (...)
ganz bestimmte Gruppen auf diese
(ganz besondere, stärkere. Erg. d. Verf.)
Weise ausgebeutet werden."*® -
Also: Wieso zahlt das Kapital gerade
schwarzen Frauen und nicht weißen
Männern die niedrigsten Löhne? Und
v.a.: Wieso zahlt das Kapital den sog.
Familienlohn auch an unverheiratete
Männer? 1 1 Nicht aufgrund seines Inter-
esses als Kapital, sondern weil es neben
der Herrschaft des Kapitals auch noch
eine HERRschaft der Männer und der
Weißen gibt. Die richtige Sichtweise
lautet also: Nicht Kapitel unterdrückt
die Frauen 'doppelt', sondern die Män-
ner unterdrücken die Frauen; und als
Lohnarbeiterinnen werden Frauen zu-
sätzlich vom Kapital ausgebeutet.
b) Wem nutzt die geschlechtshierarchi-
sche Arbeitsteilung?
Die gleiche k lassen Ubergreifende Män-
nereinigkeit besteht hinsichtlich der
(Nicht)-Eignung von Frauen für die Er-
werbsarbeit und - wenn sich Frauen-
Erwerbstätigkeit nicht verhindern läßt -
in der Beantwortung der Frage, welche
Branchen dafür in Frage kommen: näm-
lich die hausarbeitsnahen. 12
Die meisten Männer sind zwar als An-
gehörige der Arbeiterlnnenklassc eben-
? RMkNV 198$. a.
8 Midi trafccrel ffttftttfetfcif AJIöjidq mtrötn Ff&tn
Kapol ausgobtUMt ■ iimti ab AngaMnga dai ProWUuK i*>3
Ou MM MM Ms 8. 4M» *• Kt*
RfdatÄmMUtJw 1968.8.
9 Vf# Ban« 1S6D. X> •& « ntfn «Au. -»im ra»«n dm
tpirforai Forman dar Miraraiiduft ir ö fepikwta» Coi
Hmbmp (Mt Kap4ali <(*«>» na dtnfuy OaSfte* 10*1.
mrdasant tuchen et n ln* dar uoMicnkn iraTöscftan
Atuf/sen Mbn>Bioai)kri '
lOBn« 19M.31 f.-HwKrtd V«d.
11 U*WMI 1963. 127. IN 95 D* rr*Hce*lt F rrtarftg «<
AftaJE'B>*«ajjr«j nach dan Famirntefn xfAoft • nirMta m
R«n«i doi Wo-gatm« • »na GbtfCarahkro wo Fiwn unj
Wnntm tut (Mbtot/HvtgWSevki) 1989. iS iriir Hiwao U
J. tefyrati. Wart ird Prw dar Frajo-oitK* ft CM MM Zal
Wrtld«fOG8. 4/194$. 1048)
13Po-U<Mei 1S88. 3).
falls ausgcbcutct und unterdrückt, "aber
sic stehen auf einer anderen Stufe als
Frauen. Sic sind mit der Reproduktion
in Form von Hausarbeit in der Regel
nicht belastet, sie haben die besseren
Arbeitsplätze und die höheren Löhne,
sie haben Sitz und Stimme in Betriebs-,
Aufsicht- Stadträten usw." 13 Das Ka-
pital hat insofern nur den Vorteil, seine
Interessen gegen eine sexistisch (und
rassistisch sowie auf andere Weise) ge-
spaltene Belegschaft leichter durchset-
zen zu können. Diese bloße Erleichte-
rung kann aber kaum als Hauptaspekt
des Patriarchats betrachtet werden.
c) Schlägt das Kapital die Frauen?
Ebenfalls nicht mit der Funktionalität
für das Kapital zu erklären ist die mas-
senhafte inner- und außerfamiliarc di-
rekte körperliche Gewalt von Männern
gegen Fracen. 14
d) Das Patriarchat ist älter als Klas-
senherrschaft
Zwar ist dis Patriarchat in der Tat keine
Naturgegebenheit (da haben sogar aus-
nahmsweise die CCC-Gefangenen et-
was mitbekommen (s. 92J). Nichts de-
sto weniger ist es nicht nur lange vor
dem Kapitalismus 1 ^, sondern sogar vor
jeder Klasscnspaltung entstanden. Die
Existenz des Patriarchats kann also auch
deshalb nicht mit seiner
(vermeintlichen) Funktionalität für
Klassenherrschaft, insbesondere den
Kapitalismus, erklärt werden:
Bereits in den Jäger- und Sammlerin-
nengesellschaften (Altsteinzeit), die
noch kein Eigentum kannten, gab es ei-
ne geschlechtliche Arbeitsteilung und
ein gesellschaftliches Einfluß-Überge-
wicht der Männer - von Frauenunter-
drückung soll allerdings noch nicht ge-
sprochen werden können. 17 In den
meisten (ebenfalls noch klassenlosen)
segmentären Gesellschaften
(Jungsteinzeit) entwickelte sich diese
Tendenz in den patrilincarcn (= männli-
che Vcrwandtschaftslinicn) Gesell-
schaften im Zusammenhang mit der
13U*ar 1»7. 51.
14 S <BTJ du lut 'ha ■ran Und ara tUdsUUrln' Co
UM**-* « al UM. 3» UßtouJi ifa U*r*i
irü Vetpftrttogr*. cö*n m) rtü rniel» U4jra> enj Frauen
Mlrrtov urOor. Ufcrai GcraSo do UlVurrtu^ n Oe Kr«tc(
in • Ma Hfl aMffcn alUKtra • tft ktUMrcMnemin ir*J mw
nh« IT3 M tfmon datfiat) Oivon sp-erfoi <HB Mi«
Ftuxmen da gaiabcftalNcfti Hol* <n S duu ft
lenjm am Oer irimj'iömi UorMur top«: «Innrere üff.*
FtMr«ara0i Ws). Zun Itm frum Wdai an) gigan Uln
rag*««, o 0. (Wn®ar*i| ©J. (un iMABSi
1SV# BmtM 1S61 18
18 BsrH 19W.3D
17 U-* WwM. GnndrCga Oer RatfegatcfttMa (Vortaw-*;).
Wrietsontiny 1*197. 1. Streun oO. (Wattarft). oJ. (1966).
lOtivtf 151
Entslchung des Brautpreises zum Patri-
archat. 1 8 Zusammenfassend:
"Die ökonomischen 19 Gefahren konn-
ten von den egalitären segmentären Ge-
sellschaften noch weitgehend gemeistert
werden. (...). Die sexistischen Gefahren
haben sie nicht gemeistert. So entstand
Macht in der überlegenen Stellung des
Mannes gegenüber der deklassierten
Frau oder gegenüber einer erst recht de-
klassierten Vielzahl von Frauen und in
der sozialen Kontrolle der Alten über
diese Zirkulation der Reproduzentin-
nen." 2 ®
Erst später bildete sich mit der Sklaverei
die erste Klassengesellschaft heraus.
Davon gingen auch Marx und Engels
ursprünglich in der "Deutschen Ideolo-
gie” aus: Die Familie sei die erste Form
der Arbeitsteilung und des Eigentums
gewesen; 21 erst danach seien Klassen
(Bürger und Sklaven) entstanden 22 .
Diese Erkenntnis ging aber in der späte-
ren - und für die orthodox-marxistische
Fassung der sog. "Frauenfrage" maß-
geblichen - Schrift von Engels "Der Ur-
sprung der Familie, des Privateigentums
und des Staates" (MEW 21, 25 ff.) wie-
der verloren.
e) Das Patriarchat ist längerwährend
als Klassenherrschaft
Schließlich hat die Erfahrung des "real
existierenden Sozialismus" praktisch
gezeigt, daß die Aufhebung des Privat-
eigentums an den Produktionsmitteln
nicht automatisch die Aufhebung von
MännerHERRschaft über Frauen bedeu-
tet. 23
4. Ignoranz gegenüber den sozialisti-
schen Feministinnen
Schließlich denunzieren beide Texte
(der der CCC-Gcfangcncn explizite [s.
Fehler! Textmarke nicht definiert,
93] und der der KomBri etwas versteck-
ter (86; 86)) den Feminismus als
(klein)bürgerlich bzw. antiproletarisch
und reformistisch.
18 Wm. a*0.. 25 8. 3* ZaHcft pnM anMefcaltan lieft ft
anderen GaeaflicfeAan (all Autraftne) llatrflftaarUl «m
MÄlobli* («• FanWlIa örttand* Wohnort dar Fre«. Nicft
ml Ata GaMfcthtftn aiw rkH von Frai*nhMnehÄ
icndMn afcrtab vw lattt« OomW« da Fraoio. ft *«*TV
<t-n tia GlUfthaftnMtftMMftlQiro <ta< GMrNKftM t*
kmnianM. (aaO.. 32 I). V# Ojoj mm Suk< 1981. 13: *So
«a*g * CCei «i Uatiiacftd «a atuwn rmiMchiJa
Gral Wal oi Mraan. alt gaaftad« Tefcntcft« Wonn. » ara
kjrrai tu anaftnao. Oi8 Mt Om PfMarcftai Mt HarTKtMfl nur
ft Imprtirigan ord bliAgan Kin^Mn durthsatan könne*.'
(Manoft d. V*ri|
19 Wn»r-oH B upgac fia G*W<an. dam nOa nur Kttoarftan-
a uft OaaaMKfttartlCiUlMftaA ur«J "iimtu 40s-
k« «ft ft öioxmetra Ut#a«ftftMU>3laiftrae(N>7rg me
Amd.Vad.
fDWat4.aaO.35
21 Un’iiqstt 1845. 22. 29. 32.
22 Mtftlroeh 1845. 23.
23 Baad 1 »0.18
97
Daran ist zunächst richtig, daß der Fe-
minismus notwendiger und daher auch
begrflßenswcrter(!)weise insoweit inter-
klassistisch ist, als sich der Kampf des
Feminismus gegen eine interklassisti-
sehe Erscheinung , nämlich gegen das
Patriarchat, richtet. Fraucnunter-
drilckung existiert in allen Klassen!
Im übrigen beweist dieser Vorwurf aber
nur aufs Neue, daß beide Texte nicht
auf dem Stand der Debatte argumentie-
ren. Denn in den letzten 20 - 25 Jahren
hat sich eine Strömung sozialistischer
Feministinnen herausgebildet, die
4 + sowohl jenseits der traditionellen
bürgerlichen Frauenbewegung steht
44 als auch mit der traditionell-marxi-
stischen Nebenwiderspmch-Thcoric ge-
brochen hat. Deren Kampf richtet sich
zu Recht gegen patriarchale Verhältnis-
se in allen Klassen und gegen die kapi-
talistische Klassenherrschaft. 24
Darüber hinaus gibt cs eine Strömung
von sog. radikal-feministischen Frauen,
die sich zwar nicht auf den Lohnarbeit-
Kapital-Widcrspruch beziehen, die sich
aber nichts desto weniger in einem un-
versöhnlichen (revolutionären) Wider-
spruch zum als patriarchal analysierten
System sehen. Das Problematische an
dieser Strömung ist, daß deren Argu-
mentationsmustcr - im Gegensatz zu
denen der erstgenannten Strömung -
in der Tat vor der Gefahr stehen, in ei-
nen (umgekehrten) Biologismus abzu-
rulschcn 2 - und deshalb für Konzepte
der Neuen Mütterlichkeit vereinnahm-
barsind 26 .
24 V» Uftfsl • 1971. 61 1; T4en« M«rur>j luton Mitt IH»
rödi 6a F**u»«ft «1 0* Bäoo 1*0. <ä 3 gtu*
***** GtMTOwKMquij h »non Oar&matm
«Mn uro Cf« *n« <wmg*MCi an; an
rtUWi FarcaiSrrai 0*o*n. daß 6»l nljoO-o kWI *»<0*n
Iäyi. cf« <Mß *r« IbtWWk« B*«*te*i an atao-io 9»»
Otfil. ItaiM LOj rxtbik) ForwiiSnw 0« 04 »te'dnyl »n<J
Oirtttr. daß 6a UfMnrtOirg Oo (au iraWngg re» anSaco
IWod-jteng «öTrt »Man » tru. »avr<l S* mmotaOnn
f o«n n d*f (auoOf-^rq. &atw. daß <W Kanpt gtg*n
da UrttWCdarg du (rau *n rsruam. gMttndg a&o
**nrekta( Toi «not afftccm nrreWötAm Karpt** Ist (_) Oi*
FsnftoW«' HoMrin »Ul Ouu. W Zu)o Oo Fir-OU>)
fm T«c« <4e«i tMwiäMfcng m« *ftfU>*Wft«n. (_).'
25 Vjj. bst*. Ban« 19)0. JO t BacUUOnOoktl« 1168. 12. Drta
&f*öl frxoiSOI, h: tfmtt Beo (Hg.). Kto» G.*cn* 3 f
BeVaU. 1(63*. 132(137); !inö 1991. 14.21 1
26 Mara M« -Maio. <U gor nön oOoci Wnrnn). ml/*
&fohr*} erd 0*n Srtai Ja» laMm tm Kxt» (a>
• .« madili int 6a !&.< nr (*ndn h: Bl.
215.198«. S. 11 a ft ScfteOi 1167. 871) OwJ« von VWrtxit 'An
doi Krdon »am ch dah« «ah*n. »o «4 («1 n^6. u*3 d*fl M m*M
Voart-on j>g 10. «Wt fu «oi d« Kh«r Coucften ad »«
Otts and*»» a Ms OM. «as aucti Oi unj afe acxJw tm>4*n •
(WV »oOori das l«Mn inocai Knd*» ncW dem Fon schm «4im.
tv Ga-Oaro« » 0 .. T »oroty Mi leben ioJkMU.
R»rt<* 1*6. 24 a r. S4M4 1987. 89). Zur Kft» l aieft EVra
Schoch. Münk« WonmOia'. ■ Watte« Ornuäit' inj IM
l*u. SüMOafittnxMJtn MMecr* i«0 Fa«*. B 0« G-inoi
(Hg). INxra-oM* Kt Fa» 2. Grs* BjxW4aj»<cWKO?
23 • 29.11.1987 (RMMUft 9*8» Erg*rt M «.). &m. 1S7. 87 B
ird 71 l; Guchn HrtgH ForirBloc« Kr*» in öo UrfK «ft
Woirac« • er«*- BaoxOacar BanteticKvJ>g Oea ioB-»o-
ncniofian Mali« ven V B*m«« T»OT»*n irO C. v WuM.
Haiaibc« «n FactiMc*fi G»Mlte«»U»M*n«fxOHn irO Ptite-
so ct<* dte PMpvUrfocOUl Uaftwg 136587. MaWig. oJ. (1568);
SteB Engm. U* Fauan WO Hasfrau«n - dxB »as ötetei?.
Darüber hinaus gibt cs selbstverständ-
lich (weiterhin) sozialdemokratische
und offen bürgerliche Feministinnen.
Aber generalisierend kann gesagt wer-
den,
44 daß sich in den letzten Jahren der
Begriff Feminismus zur Bezeichnung
der revolutionären Strömung in der
Frauenbewegung durchgesetzt hat
und
44 daß es den Gefangenen der CCC
und den Kommunistischen Brigaden gut
zu Gesichte stände, wenn sie sich nicht
an den argumentativ schwächsten Geg-
nerinnen. den bürgerlichen Feministin-
nen. sondern den entwickelten femini-
stischen Konzepten abarbeiten würden.
"Ich beharre fest darauf, daß
jemand, der kein« Untersu-
chung angestellt hat. auch
kein Mitspracherecht hat."
Mao Tse Tung 27
II. Zur Kritik die Position der Kom-
munistischen Brigaden
1. Das historisch-strukturell veran-
kerte und bedingte sexistische Ge-
waltverhältnis zwischen den Ge-
schlechtern
Die Argumentation der KomBri ist eine
Mischung aus zutreffenden und fal-
schen Behauptungen mit dem Ziel ei-
nen eigenständigen anti patriarchalen
Kampf als nebensächlich darzustcllen,
da dieser den Kapitalismus nicht tongic
re. Dadurch müssen sie allerdings indi-
rekt die relative Unabhängigkeit von
Patriarchat und Kapitalismus anerken-
nen, also 7.ugeben, daß das Patriarchat
kein aus kapitalistischen Produktions-
verhältnissen direkt ableitbares Phäno-
men ist. Es gibt also ein 'historisch-
strukturell verankerte(s) und bedingte(s)
scxistische(s) Gewaltverhäitnis zwi-
schen den Geschlechtern, das einen ei-
genständigen gesellschaftlichen Wider-
spruch darstellt. Dieser ist nicht kapita-
lismusspczifisch, (...).” (86) Diese zu-
treffende Charakterisierung des Patriar-
chats als "eigenständigen gesellschaftli-
chen Widerspruch” ist der im gleichen
Absatz aufgcstclltcn Behauptung, daß
"es keine gesellschaftlichen Ansätze
gibt, um einen Kampf gegen diesen Wi-
n n<ata<. W. 1(0. *(rt 198«. 21 8; 6m. tjriy>-)r«™>eti*M
P<5iTo)*r* Wr *7 m CMrc*. ft bw / X*urv
«. Brite* t ffa» 0» Wtf WO). GriM* & AUm»*« J*M>u4
1988. G-jT* P*npteJrtn w*v 1988. 233 fl. [Ifnfcft slti Ot*
Ü)*neftrti •Giöm Sraugo miß iKnroittft un". «v Oe Gri«n
D<r«»^Knjfti*8o (Hg), ven da ViTal Oft («oen ird Mi luO
OKHOftm-7. eon. 19M. 24 « wo Ulte Ote xeooun ~Mrm*n
vtn •otonvn (*r*te«n 9« f**j. mktiu vor d«an
%ra *r Coiu) Moiir«)‘. n O« Gswn... »aO.
1167. 73 *J An. FtmnsüK« OoMtftKfng*. It KcfwH
f*. 6. SomTw 1988. 13 fl.
27 a ft BO* A.TOM Fokteft. Ow yjnn* $aa</»ta. tr
Rteatten (Hg ). BcndesspAB OoteOimd (KID) • B o* X-«
FiaUOn (HAf). K»B » »84.5 - 13 (5).
dcrspruch zu führen", allerdings diame-
tral entgegengesetzt.
”(...) die Denunziation des Mannes als
sexistischer Unterdrücker leitet für sich
die Notwendigkeit eines revolutionären,
antikapitalistischen Umsturzes nicht
ab." (86).
"Der Mann hat (...) historisch eine ei-
genständige Rolle als Unterdrücker inne
(...).” (). Diese These ist richtig. Aber
gerade die Erkenntnis der relativen Ei-
genständigkeit des Patriarchats macht
die relative Eigenständigkeit eines anti-
patriarchalen Kampfes zwingend not-
wendig. Daß die "Denunziation des
Mannes als sexistischer Unterdrücker“
nicht notwendig antikapitalistischcn
Charakter haben muß, ist so richtig wie
unwichtig. Denn wenn es zutrifft, daß
mit der "Installierung (?! Anm. d. Vcrf.)
patriarchaler Gcsellschaftsstrukturen"
eine 'spaltcrischc Zielsetzung“ (87) ver-
bunden war. ist cs umso dringender den
eigenständigen Kampf gegen diese spal-
tenden Strukturen zu führen. Die angeb-
liche "spaltcrischc Zielsetzung" wird
nämlich genau dann realisiert, wenn
Feministinnen (und die sie unterstüt-
zenden Männer) erleben, daß für Kom-
munistinnen dieser Kampf eine Neben-
sache ist !
"Im übrigen zeichnet sich in diesem
Punkt (das Patriarchat als
"Voraussetzung zur Gewährleistung
von Mehrwert", d. Vcrf.) eine schein-
bare-^ Rcformicrbarkcit des Kapitalis-
mus ab. - das soll heißen, daß sich der
Kapitalismus in den Metropolen ge-
genwärtig so gestalten ließe, daß das
Patriarchat als gesellschaftlicher Wider-
spruch nicht mehr als systemimmanent
in Erscheinung treten würde.” (87).
Hierzu muß angemerkt werden, daß auf
der theoretisch-analytischen Ebene ein
nicht-patriarchaler Kapitalismus durch-
aus denkbar 29 ist (eine andere Frage
ist. cb diese Vorstellung - aufgrund der
real-historischen Verflechtung beider
Hcrrichaftsvcrhältnissc - auch auf der
politisch-praktischen Ebene realistisch
ist (S. dazu unten). Wenn aber ein
nicht-patriarchaler Kapitalismus denk-
bar ist, dann läßt sich gerade nicht die
These aufstellen, das Patriarchat sei das
"funktionelle Integral im Produktions-
Reproduktionszyklus" (86) des Kapita-
lismus etc. geworden. Wenn cs richtig
ist. daß sich der Kapitalismus so gestal-
ten ließe, "daß das Patriarchat als ge-
28 Du Won ‘sMrtkii' Khcrt nOI <U n*No»jcnl bteiwOU
mgum. BW" w «a wnom n ziw
ttfmvüttn S. duu IcV^nö* Pasajj r «i gtthui Spilo du
'•>101 0* Koren ’(_) Ui 0*ra SUM Mi lnmm*rtirt)m 0**
Kapuamu* «M R»iO*ug j*gte*a ökttn ntonrMic/an
ForOtrtngm nK/miktmta. und dm KipUUunui Oanl to d»
Mm PinU KfeVttar a ntonoMtn UV (IM* «wt. i 0 .
»irswä v«ni
29 Vgl 342ü au4 Ban»* 1 »3. 2?2 urd iWift dB 2oi m (N .
98
scllschaftlicher Widerspruch nicht mehr
in Erscheinung treten würde", dann be-
deutet dies.
++ die Tatsache, daß trotz dieser Mög-
lichkeit zur Zeit patriarchale Strukturen
bestehen,
- entweder für einen Zufall zu halten
(eine Möglichkeit, die mir wenig wahr-
scheinlich erscheint)
oder
- aber anzuerkennen, daß das Patriar-
chat eine eigene vom Kapitalismus un-
abhängig 'Ursache’ hat.
2. Der "sozialdemokratisch behaf-
tete" Begriff von Gleichberechtigung
der Kommunistinnen
Die These der KomBri. daß der
"sozialdemokratisch behaftete Begriff
der Gleichberechtigung der Frau (...) je-
de antikapitalistischc Tendenz effektiv"
ausklammcrt, übersieht, daß sozialde-
mokratische Politik generell "jede anti-
kapitalistischc Tendenz effektiv" aus-
klammert. Denr sie ist objektiv unge-
eignet. kapitalistische Produktionsver-
hältnisse zu beseitigen. 3 ** Zum anderen
ändert die Tatsache, daß Sozialdemo-
kratinnen und Kommunistinnen unter-
schiedlich geeignete Mittel zur Realisie-
rung des Ziels einer klassenlosen Ge-
sellschaft anwenden nichts an der Tat-
sache, daß sowohl Sozialdemokratinnen
als auch Kommunistinnen traditionell
auf die sogenannte Frauenfrage die
gleiche, verfehlte Antwort gebend*
Soweit eine spezifische Unterdrückung
der Fraucn/Arbcitcrinnen zugegeben
wird (meist als vorkapitalistisches Re-
likt betrachtet, so auch bei den KomBri
87: "historisches Gewaltverhältnis zwi-
schen den Geschlechtern"]), fordern So-
zialdemokratinnen und Kommunistin-
nen traditionellerweise die juristische
Gleichstellung (Gleichberec/ifigung)
von Frauen und die Einbeziehung der
Frauen in die Erweibsarbeit und ähnli-
ches. 32 (Und war in der Arbeiterbewe-
gung noch eine avantgardistische Positi-
30 Zui W'-'C S««. P»**<wrd Ott SP3 (Hj).
Gnx>»aw«O0’*rr«" (Mi Soidtta'-Mitfiartu« P.',» DuffMi
(IMS), Bmh. oi. 2i ntanrötag 0* KbiMftjBMfccMrt-). 72
(\cn KOittraMrktn GtMixfiafl't
31 VJ Oarj an Btaml d* HM.ng vm SfO ird CKP zu F*r*o
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lPvn~ucir>5ö* SP01H;|. aaO. IS) • 1» « ro<Ji ■mal zu
Mahnen: fch aryanerKoa Wer auf Om Eber« Mi
CropanmiftscnenZMs. Art dWwr E&eoa «Men Mio IWw PoU.
nicha IMW &t SPD aut progrtpa U lKhtr D-oe jur
EmMumg OImn ZU Int Äug* laK: urä am Roctt clefl ad
dütar Ebene keine RcUe. sie die fr «Wache Pom Mt SPO
aaulaMI
on. 33 S. dazu weiter unten die Passage
zur "proletarischen Frauenbewegung".)
Soweit es um die ‘Unterdrückung der
Frau als Verkäuferin ihrer Arbeitskraft'
geht, wird eine (wie unterschiedlich im
Einzelnen und im Grundsätzlichen auch
immer vorgestellte) Überwindung des
Kapitalismus anvisiert.
Diese Auffassung steht im Kontext von
Engels' - :n seinem “Der Ursprung der
Familie....* entwickelten - Auffassung,
daß die Frauenunterdrückung mit dem
Privateigentum entstanden sei. 34 Die
logische (nicht nur DKP-
)Schlußfolgerung daraus ist daß “die
Frauenfragc selbst mit der Vergesell-
schaftung der Produktionsmittel ver-
schwinde". 35 Dies war auch die Auf-
fassung des Sozialdemokraten August
Bebel: "Von unserem Standpunkt fällt
diese Frage zusammen mit der Frage,
welche Gestalt und Organisation die
menschliche Gesellschaft sich geben
muß. damit an Stelle von Unterdrük-
kung, Ausbeutung. Not und Elend die
physische und soziale Gesundheit der
Individuen und der Gesellschaft tritt.
Die Frauenfrage ist also für uns nur eine
Seite der allgemeinen sozialen Frage,
(,..)." 36 Soweit der Stand bis Jahrhun-
dertwende. -
Bei der Kommunistin Clara Zetkin
kommt dann noch die Abgrenzung von
der sog. bürgerlichen Frauenbewegung
hinzu. 3 * Dabei ist die These von der
Existenz einer proletarischen Frauenbe-
wegung weitgehend ein Mythos. Denje-
nigen proletarischen Politiker und Poli-
tikerinnen, die sich auf jene bezogen
haben, ging es weder um eine Bewe-
gung noch um eine spezielle Intercs-
senswahmehmung zumindest von
proletarischen Frauen: "Vielen Männern
sind die Zusammenschlüsse, aber auch
die organisierten Treffen von Frauen
suspekt. Ihre Ängste sind konkret und
praktisch. Die tägliche Versorgung steht
auf dem Spiel, Frauen erledigen die
Hausarbeit nicht mehr so gut, nicht
mehr so selbstverständlich und bereit-
willig." 38
Statt um Fraueninteressen ging es jenen
Politikerinnen darum, daß Frauen dafür
gewonnen werden, daß sic die Interes-
sen ihrer proletarischen Ehemänner un-
33 S avu Wr» « «I I m 49 1.
34 FiMxfi Engat. 0*f Urconrg dor fante. dn PmMogarftra
ird dos Saztts. frUnDCfl. 1563 zf n R rt M a wtoWfc 1»8. 7.
35 So o* tet örahr-3 1 * Ha^ i»8. U. Sa ä« in
t* IWWOTMW9. 1066. 6 c~. Oar Confetxa ni 6m VOM
GUBfetfKtftgr« OwFrajnOD rukMiter
» A^iet 8«t*l t>* fr» inj*« Soznlsruß. 1IT9 dnlic»
(Mimn. Sozofanu ah •AkratoOm e Ott Kamen Sa *S«M
f Q S7. Sorte* t« Hartmg 1 978. 1 1.
37 R»ajMtrokdl9iv 19Ö. 8. Heru Herer o . Stthott). n Ottt
(Hj). FiBio-o-a^pcfcm in) Sorööar>.*.T«l«. Fnnttul an Ujrv
1*1.20
3SKtfma( 61 1984 lS5m»H;s« cM.169n*N.
terstützen 39 Deshalb bedeutete die Ge-
genüberstellung einer angeblich bürger-
lichen Frauenbewegung und einer pro-
letarischen angeblichen Frauenbewe-
gung de facto die Unterordnung von
Fraucnintcrcsscn unter die Interessen
der männerdominierten Partei. 4 ** So
rückte bspw. Clara Zetkin zeitweise 4 *
die Forderung nach einem Recht auf
Frauenerwerbstätigkeit in die Nähe von
vermeintlich bürgerlicher
"Frauenrechtlerei" und stellte stattdes-
sen die - sicherlich nicht falsche - For-
derung nach einem Fraucnrccht in den
Vordergrund. 42 Dies bestätigt erneut,
daß Frauen vor allem ah Unterstützerin-
nen, hier als Wählerinnen, der Arbei-
tERcrganisationen. aber nicht als
Kämpferinnen für ihre eigenen Interes-
sen erwünscht waren.
Über Rosa Luxemburg schreibt Ingrid
Strobl schließlich: Luxemburg habe die
radikalen Fcministinncn "Zeit ihres Le-
bens aufs Schlimmste diffamiert" und
sich stattdessen allenfalls auf reformi-
stische Strömungen in der Frauenbewe-
gung bezogen. Rosa Luxemburg selbst
habe dagegen "nicht einmal eine refor-
mistische Haltung in der Frauenfrage
(gehabt), sic hatte keine. Was sie aller-
dings nicht daran hinderte, Antifcmini-
stin zu sein.“ 43
Angesichts der gänzlich unrevolutionä-
ren Haltung der Sozialdemokratie zum
Patriarchat bestand für diese auch im
Zuge der Parteispaltung keine Revisi-
onsbedarf, 44 so daß Ende der 60er /
30 KM« Md. 1064. 106 m.N.
*0 a®. 1t«. 73. Vs* F. Bau» / N Uta 1564. 341: TW
FofOofirj»« Ott MigrtMfl' fwrfcana. Ott ‘SUfaapaai': R*M
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«* füf Uliro. rfccfn iritz&m RocMo.
-uöai nnfcM ■> tkc van Ott nBraOödafi ioxaSSÄfnn
e*a4sxnj zun»Ss>i»eifn. ( .».* toM* »öfn * M. 1964. 174: » 0»
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GttaitcttrurKl in« von «uObi St Stixfirw irtschm
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99
Anfang der 70er Jahre die neue Frauen-
bewegung (in der BRD) sowohl in Op-
position zur Sozialdemokratie als auch
in Opposition zu den dominanten kom-
munistischen Strömungen entstand. 45
Denn eigenständige patriarchale Struk-
turen, d.h. Strukturen,
+ * die sich nicht nur auf den Bereich
des (juristischen) Überbaus beziehen,
++ die vor dem Kapitalismus, ja vor je-
der Klassenherrschaft entstanden sind.
++ die auch im Kapitalismus und im
("real existierenden“) Sozialismus noch
eine aktuelle Bedeutung haben,
und
++ die deshalb nicht mit der vollständi-
gen Durchsetzung des Kapitalismus
(Auflösung feudalistisch-patriarchaler
Reste) bzw. der Durchsetzung des So-
zialismus (Überwindung der
'Unterdrückung der Frau als Verkäufe-
rin ihrer Arbeitskraft' und der kapital-
funktionalen Aspekte von Frauenunter-
drückung) mehr oder minder automa-
tisch verschwinden, sondern vielmehr
relativ eigenständig bekämpft werden
müssen,
gibt cs traditionellerweise weder für So-
zialdemokratinnen noch für Kommuni-
stinnen! Sowohl Kommunistinnen als
auch Sozialdemokratinnen beschränken
sich traditioncllerweise - eben weil es
solche Strukturen für sie nicht gibt! -
auf die Forderung nach Gleichbe/vc/tri-
gung von Mann und Frau. Genau hier
muß die Kritik am "sozialdemokratisch-
behafteten Begriff der Gleichberechti-
gung" (und an der kommunistischen
Antwort auf die sog. 'Frauenfrage’) an-
setzen. Da die KomBri die wesentlichen
Aspekte des "sozialdemokratisch-behaf-
teten Bcgriff(s) der Gleichberechtigung"
teilen, sind sie zu einer solchen Kritik
nicht in der Lage!
3. Noch einmal zur Aufspaltung des
Patriarchats-BegrifTs
Des weiteren behaupten die KomBri,
daß sich das Patriarchat zur Zeit auf
drei unterschiedlichen und vor allem
auch analytisch zu trennenden Ebenen
darstelle:
a) die Ebene der (angeblichen!, d.
Vcrf.J ökonomischen Funktionalität von
Frauenunterdrückung für das Kapital
("unbezahlte Reproduktionsarbeiterin" /
Reproduktion des Arbeiters) (86).
Der Sachverhalt als solcher ist hier von
den KomBri zwar richtig erkannt und
benannt worden, bietet aber keine
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«Slüig 19«. 16 B.; Nggvrom ««O. II.
(ausreichende) Erklärung für die be-
hauptete Kapitalfunktionalität des Patri-
archats:
Zum einen greifen die KomBri hier nur
einen Aspekt des Patriarchats heraus.
Zum anderen ist es bspw. nicht einsich-
tig, wieso cs nicht kapitalismus-imma-
nent möglich sein soll, die Reprodukti-
on der Arbeitskräfte weitgehend zu
kommerzialisieren (und die (restliche)
Reproduktionsarbeit auf Frauen und
Männer gleichmäßig zu \crtcilcn) 46
(Wie wir weiter oben gesehen haben,
gestehen die KomBri diese Möglichkeit
an anderer Stelle durchaus zu.) Dies
würde dem Kapital nicht nur höhere
Kosten (steigender Wert der Ware Ar-
beitskraft aufgrund der Kommerzialisie-
rung deren Reproduktion), sondern
auch neue Mchrwertquellen verschaf-
fen 4 ^ - nämlich durch die Arbeiten, die
dann innerhalb des Lohnarbsitsverhält-
nisses geleistet würden. (Dabei ist zu
berücksichtigen, daß für den Kapitalis-
mus jede Arbeit produktiv (sprich:
mehrwcrlproduzicrend) ist. (unabhängig
davon, ob sic in einem stofflichen Ver-
ständnis produktiv ist; also unabhängig
davon, ob sie neue Gegenstände her-
stellt!), die in das kapitalistische Pro-
duktionsverhältnis einbezogen ist. 48 ).
Solange diese Arbeiten außerhalb des
Lohnarbeitsverhältnisses geleistet wer-
den drücken sie “sich nicht in Geld aus"
und sind 'somit wertlos" 49 (Wert ist
hier keine moralische, sondern eine
ökonomische Kategorie). Sic kommen -
da (tausch)wertlos - nicht dem Kapital,
sondern - als Gebrauchswerte - den
Männern zugute. Damit »st nicht gesagt,
daß die Kommerzialisierung von Haus-
arbeit automatisch das Patriarchat un-
tergräbt, 50 sondern nur, daß dieser Vor-
gang den Kapitalismus nicht stürzen
würde. Vielmehr ist gerade mit einer
Forderung wie der nach Lohn für Haus-
arbeit die Gefahr der Verfestigung ge-
schlechtshierarchischer Arbeitsteilun-
gen verbunden. 5 *
b) politische Funktionalität von Frauen-
unterdrückung für das Kapital ("Kanal
zur Umsetzung der sozialen Deklassie-
rung des Arbeiters", Spaltung der be-
herrschten Klasse, Schwächung des
Klassenkampfes) (86).
«6 Bragtra 19 «. 13 V« KJU 3 196 t. 6 S 01 . 6 Si
*7 Oodab El in t-gatn« • m< «ucH f*M c <M BojninJug • du
Up_*M -V, '»ei. 11 *6 Om
KepU kM*n PI««.* 10 1
« S. Oku JaaM» Böet Ssarwi Tibmw.
FVeAM~eUwMiw Art*T. «r Gavgn u ba I Ginn
Bamoon (Hj). •jtaaat WöflKtw* Om Uranu &rd 6.
(W«HX*1«i. 1967.10« • ItW «Mi. 10*6 »Mn • '0»3 mm).
49 SboM 1991. 151
50 Vgl St» 1991 21.221
51 Kag 19636. Ul lWtfuchenHajjlMl 6K
c) das "historische Gewaltverhältnis
zwischen den Geschlechtern", für des-
sen Bekämpfung es aber "keine gesell-
schaftliche Ansätze“ gebe. Daher sei
diese Problem im "persönlichen All-
tag" aufzugreifen: im gesamtgesell-
schaftlichen Zusammenhang", also für
kommunistische Politik, sei dieses Pro-
blem aber irrelevant. Denn ein
"entsprechender Appell“, den
"persönlichen Alltag" zu ändern, sei -
mangels "gesellschaftlicher Ansätze"
(und so schließt sich die zirkuläre Ar-
gumentation! Anm. d. Verf.) -
"praxisfem und illusionistisch”. (164)
Sagt der Kommunist,
das Problem im
"persönlichen Alltag" auf-
greifen oder nicht,
und bleibt das Patriarchat
wie’s ist.
(Frei nach der Volksmund-
weisheit:
Kräht der Hahn auf dem
Mist,
ändert sich das Wetter oder
es bleibt wie's ist.)
4. Die politische Konsequenz der Ne-
gation der gesellschaftlich-materielle
Basis der triple appression
Die KomBri kritisieren, daß Viehmann
et al (3: 1-Papier) nicht in der Lage
seien, die gesellschaftlich-materielle
Basis für eine triple oppression anzuge-
ben. "Die konsequente Wciterführung
gemäß dieser Analyse würde bedeuten,
im Kampf gegen die gegenwärtigen
Herrschafts- und Ausbeutungsstruktu-
ren drei Feinde zu entlarven:
- den Kapitalismus/Impcrialismus
- den Mann im Kapitalismus
- den Rassismen) im Kapitalismus."
( 86 ).
Demgegenüber müsse "der Kampf ge-
gen das Patriarchat immer in der Orien-
tierung des Kampfes gegen den Kapita-
lismus bestimmt werden" (86).
"Gemessen am politisch-ökonomischen
Bezug stellt das Patriarchat im Kapita-
lismus einen Ncbcnwiderspruch dar
(...)". (86) Entsprechendes gelte auch
für den Rassismus: "Rassismus ist eben
(dieses Wörtchen ist das ganze Argu-
ment: "eben" !, Anm. d. Verf.) nicht in
erster Linie ein historisches oder geneti-
sches Problem, sondern eine notwen-
dige Institution im sozialen und ökon-
omischen Gefüge des kapitalistischen
Systems (...) \ Die Kritik an dieser kapi-
talfunktionalen Erklärung von Patriar-
chat und Rassismus soll hier nicht wie-
derholt werden, da dazu das nötige
schon in Teil I. dieses Textes gesagt
wurde.
Als Konsequenz fordern die KomBri.
nicht nur "Scheinkämpfe reformisti-
scher Art gegen Pornographie etc.' (86).
sondern generell jegliche
"reformistischen Forderungen” zur Mil-
derung von Frauenunterdrückung zu un-
terlassen. Denn "diese Kosmetik’ habe
"als Effekt die Isolierung und Schwä-
chung eines radikalen antikapiialisli-
schen Kampfes gegen das Patriarchat
zur Folge" (87). "(...) ein 'Kampf gegen
den Mann im Kapitalismus ist (...) und
wird (...) der spalterischen Zielsetzung
der Installierung patriarchaler Gesell*
schaftsstrakturen gerecht" (siche auch
dazu die schon oben angeführte Kritik).
Im übrigen muß auch hier auf den
halbwahren Charakter der Behauptun-
gen hingewiesen werden.
So sind Kämpfe wie der Kampf gegen
Pornographie in der Tat refomwrtsch
(nicht notwendigerweise : reformisti-
sch)^ . U nd zwar weil sic nur einzelne
Erscheinungen patriarchaler Herrschaft
und nicht die patriarchale (!) Herr-
schaft als solche beseitigen (wollen).
Daraus ist aber nicht zu schlußfolgern,
daß solche Kampfe zu unterlassen sind.
Vielmehr gilt hier - wie generell
(zumindest für Lcninistlnncn!) -, daß
der Kampf um Re form fordern ng so zu
führen ist. daß er nicht nur eine unmit-
telbare Situationsverbcsscrung, sondern
eine Begünstigung des revolutienären
Prozeß insgesamt bewirkt. D.h. also,
daß der Kampf gegen Pornographie bei-
spielsweise so zu führen ist, daß dieses
Phänomen als systematischer Effekt ei-
nes - von Klassenherrschaft (relativ) ei-
genständigen - strukturellen, patriar-
chalen Herrschaftsverhältnisses ange-
griffen wird.
Die Auffassung der KoinBri bedeutet
demgegenüber allerdings nicht, einen
"radikalen antikapitalistischen", sondern
gar keinen Kampf gegen das Patriarchat
zu führen. Denn:
++ Soweit das Patriarchat angeblich ei-
ne Funktion der Kapitalakkumulation
ist. verbietet sich nach Ansicht der
KoinBri ein Kampf dagegen, weil ein
Erfolg dieses Kampfes den Kapitalis-
mus kosmetisch verschönern würde
(87).
++ Soweit das Patriarchat angeblich ein
bloßes "historisches Gcwaltvcrhöltnis"
ist, verbietet sich nach Ansicht der
KomBri ein Kampf dagegen, weil ei-
nem Kampf gegen ein solches Relikt
die "gesellschaftliche Perspektive' (87)
fehle.
"Durch diesen kleinen 'Kunstgriff wird
die politische Strategie ableitbar: Zwar
existieren patriarchalische Verhältnisse,
von denen Männer profitieren, ein prin-
5i Ah wtotoi nn itw KArö» von RrWfnitnen
in t^grenjl« AM HwIM. •f&mMrtf r*r* di p*ad»
Kaute«. <*• KsscrftaOk* mjl ■>**• bagreum Zeta
taKMnten
zipiellcr Gegensatz zwischen Männern
und Frauen bestehe jedoch nicht, und
daher könne der Kampf um die Gleich-
berechtigung der Frau nur als Bestand-
teil des Klassenkampfes geführt wer-
den." 53
III. Zur Kritik die Position der CCC-
Gefangenen
1. Das Wahre im Falschen
Ebenso wie der Text der Kommunisti-
schen Brigaden, enthält der Text der
CCC-Gcfangenen verschiedene Thesen,
die - zumindest dann, wenn man/frau
sie aus dem Kontext des Versuchs, pa-
triarchale Herrschaft als Nebenwider-
spruch zu interpretieren, herauslöst - zu-
treffend sind:
"Der Sinn der revolutionären Aktivität,
also der Bewegung, die Anspruch auf
die Verantwortung dieser Aktivität er-
hebt. ist die revolutionäre Umwandlung
der Gesellschaft und nicht die Erobe-
rung einer Enklave neuer Verhältnisse
innerhalb der alten Gesellschaft. Die
Verdrängung eines sozialen Systems
durch ein anderes ist ein historisch-ob-
jektives Phänomen, das besonders
strengen Gesetzen gehorcht, die durch
die historischmatcrialistisch; Analyse,
relativ zur Entwicklung der Produktiv-
kräfte und zu den Rollen der sozialen
Klassen, etc. aufgedeckt werden. In die-
ser Hinsicht hat die revolutionäre Bewe-
gung in eister Linie die Aufgabe, diese
Gesetze zu kennen, sie zu verstehen und
sie in all ihren Orientierungen und Ta-
ten zu berücksichtigen; bei der Strafe,
auf ewig zum Scheitern verurteilt zu
sein oder in der Jauche der Alternative
(sei sic auch bewaffnet) zu degenerie-
ren." (90)
Das einzige, was. an dieser, ansonsten
zustimmungswürdigen, Passage klä-
rungsbedürftig ist, ist der Gssetzes-Be-
griff der vier Genossen bzw. die prekäre
Grenze zwischen Materialismus und
Determinismus. Wenn sic von
"besonders strengen Gesetzen" spre-
chen, dann sind in dieser Hinsicht zu-
mindest Bedenken anzumelden. Zur
Vielschichtigkeit des marxistischen Ge-
setzesbegriffs und der Determinismus-
Gefahr s. die Stichworte “Basis" (Band
1) und "Gesetz” (Band 3) im
"Kritischen Wörterbuch des Marxis-
mus".
Ebenso richtig ist natürlich die Aussage,
daß "es utopisch - falsch - (ist), eine
reale Befreiung von bürgerlich-ideolo-
gischen Kategorien ins Auge zu fassen,
außerhalb des objektiven Rahmens der
sozialistischen Revolution und ihrer
Kulturrevolution. Der revolutionäre
5J MMVtfaM» 19«. *. «X tU <*• OKP-Fw**
Kampf ist zwar ein Befreiungsfaktor für
diejenigen, die sich itim verschreiben,
aber er ist es nur soweit, als man sein
Ziel nicht aus den Augen verlieft: die
Revolution, die Diktatur des Proletariats
und den sozialistischen Aufbau in Rich-
tung des Kommunismus." (90)
"Auch wenn wir in ikm offenen Brief
Abschnitte lesen wie: 'Wir wollen das
eine Organisierung unseres Kampfes
gegen das patriarchal-kapitalistische
System, in den wesentlichen Momenten
des sozialen Zusammenlehens, wie wir
es ins für die zu erkämpfende Gesell-
schaft vorstellen, schon enthalten ist',
denken wir, es mit einer (im nicht-mate-
rialistischen Sinne) völlig idealistischen
Konzeption zu tun zu haben; mit einer
subjektivlstischen Abweichung, die den
Anspruch erhebt auf radikal neue so-
ziale Verhältnisse "in den wesentlichen
Momenten des sozialen Zusammenle-
bens \ vor und/oder unabhängig von
einer revolutionären Umwandlung der
Gesellschaft. Dies ist die Art von Über-
legung. die im besonderen Sinn zur
Aufgabe einer 'revolutionären' Position
zugunsten einer alternativen Position
führt. Denn schließlich, wenn cs wirk-
lich möglich ist, 'in den wesentlichen
Momenten des sozialen Zusammenle-
bens soziale Verhältnisse zu schaffen,
die vollständig zum Ressort der 'zu er-
kämpfenden Gesellschaft' gehören,
warum muß besagte Gesellschaft dann
noch erkämpft werden? Man sicht hier,
wieviel Keime des Linksradikalismus
mit seinen unvernünftigen Forderungen
der Subjektivismus auf einmal in sich
trägt; dazu noch Keine des Reformis-
mus (wenn auch radikal oder bewaff-
net) mit seinem Wunsch, das System zu
verbessern und sogar eine Nische in
seinen Innern auszuhöhlen." (91 - Her-
vorh i.O.).
Hier sind nur drei Bemerkungen anzu-
fügen:
a) Dis Patriarchat ist kein Untcrfall der
"bürgerlich-ideologischen Kategorien".
Weder ist cs bloß eine ideologische Er-
scheinung. noch ist es (bloß) eine Funk-
tion der Bourgeoisie. Daher kann das
Zwischcnzicl auf dem Weg zum Kom-
munismus auch nicht nur in einer Dikta-
tur des Proletariats bestehen. Allerdings
scheint mir der Begriff der feministi-
schen und antirassistischen Revolu-
tion 5 ** im Hinblick auf die eventuell
Notwendigkeit/Möglichkeit einer anti-
patriarchalen und anlirassistischen
Übergangsgesellschaft noch nicht aus-
gearbeitet zu sein. Die Theorie von der
sozialistischen Übergangsgesellschaft
(Diktatur des Proletariats) scheint mir
M D* tryll larMB&a BtYoMDn’IrJM b v*. bf<
IK6-H71.6I.
101
dafür allerdings nur äußerst begrenzt
nutzbar zu machen sein.
b) Der Kritik an den autonomen Antizi-
pation-Hoffnungen ist ohne weiteres
zuzustimmen; nur daß damit wohl das
Zicl-Wcg/Miltcl-Problem nicht erschöp-
fend behandelt ist. Denn die Gefahr,
daß Handlung, die eigentlich als Mittel
zum Zweck gedacht sind, sich real ge-
genteilig auswitken (verselbständigen),
also gerade nicht Mittel zum Zweck
sind, war und ist real.
c) Schließlich kann auch der Wunsch,
bereits vor dem Sturz des Systems Ver-
besserung durchzusetzen, nicht generell
verworfen werden. Siche dazu schon
oben Anmerkung zum Kampf gegen
Pornographie.
'Ein globales revolutionäres Projekt
impliziert eine theoretische Vereini-
gung (weil die Maßnahme der Synthese
eine der gesamten revolutionären Bewe-
gung gemeinsame Vision [?!, Anm. d.
Verf.) der Welt erfordert, die unserer
Meinung nach der Marxismus-Leninis-
mus sein muß); dies impliziert eire po-
litische, strategische und programma-
tische Vereinigung (damit die Kräfte
den objektiven Bedürfnissen entspre-
chend sinnvoll konzentriert und verteilt
werden und der Zusammenhalt und die
Gewichtigkeit ihrer Demonstrationen
das Vertrauen der Massen gewinnen);
dies impliziert schließlich eine organi-
satorische Vereinigung (die den ande-
ren Ansprüchen an Einheit die Krone
I?!. Anm. d. Verf.) aufsetzt und aus der
das Konzept der Partei seine historische
Legitimität schöpft).' (91)
Die These ist insofern richtig, als sie die
grundsätzliche Notwendigkeit der Or-
ganisierung. der Vereinigung betont.
Übersehen wird jedoch, daß die theore-
tische Vereinigung nicht auf der Grund-
lage des traditionellen "Marxismus-Len-
inismus" mit seiner Nebenwiderspruch-
stheorie erfolgen kann. Vielmehr ist
diese theoretische Vereinigung nur
möglich als Vereinigung des wissen-
schaftlichen Sozialismus mit dem wis-
senschaftlichen Feminismus und dem
wissenschaftlichen Antirassismus.
Diese vielfach (größernteils?) erst noch
zu erarbeitende, neue revolutionäre
Theorie wird dann sinnvoll auch nicht
mehr Marxismus-Leninismus) heißen
können (s. zu letzterem: Linke Liste TU
1989).
Neben den zitierten und großenteils
richtigen Ausführungen finden sich im
Text der CCC -Gefangenen allerdings
auch Passagen, deren Inhalt als grund-
sätzlich unzutreffend oder nicht nach-
vollziehbar bezeichnet werden müssen:
2. Zum dritten Mal: Die definilori-
sche Abschaffung des kapitalistischen
Patriarchats
"Das Patriarchat beruht auf der Familie,
deren Vermögensbesitzer der Mann ist
und in der die Übertragung des Vermö-
gens der Abstammung in väterlicher Li-
nie folgt." (92). "(...) cs (ist) in bezug
auf die entwickelten Länder der impe-
rialistischen Zentren unzweckmäßig
(von Patriarchat zu sprechen, d. Verf.)
(...); ganz einfach, weil ungeachtet der
Beständigkeit von besonderen Formen
ökonomischer Ausbeutung, sozialer,
ideologischer und kultureller Unter-
drückung. die Gleichheit der Rechte
zwischen Männern und Frauen erwor-
ben ist." (92) "Wir denken, daß cs kor-
rekter ist. unsere aktuellen Gesellschaf-
ten als fortgeschrittenen Kapitalismus
und die bürgerlichen Demokratien als
sexistisch zu beschreiben.” (92).
Die CCC-Gefangenen nehmen hier eine
Definition der bestehenden Metropo-
Icngesellschaftcn vor. Eine Definition ,
also auch die vorliegende, kann aber
weder korrekt noch inkorrekt noch
"korrekter' sein, sondern sie wird ge-
setzt. Die (Un)nützlichkcit einer solchen
Setzung kann sich erst int weiteren
Gang der Untersuchung zeigen. Die
Unnützlichkeit der in der These ange-
führten Definition der CCC-Gefan-
genen zeigt sich daran, daß es nicht
etwa der Feminismus ist. sondern daß
sie es selber sind, die keine Ursa-
che/Basis für die von ihnen zutreffen-
derweise diagnostizierte "Beständigkeit
von spezifischen Äußerungen ökonomi-
scher Ausbeutung, sozialer, ideologi-
scher. kultureller, etc. Unterdrückung
der Frauen" 92 benennen können.
Wieso gibt es eine spezifische Ausbeu-
tung und Unterdrückung der Frauen,
wenn es nicht auch ein spezifisches,
strukturelles Frauen-Untcr-
drückungsverhaltnis (vom Feminis-
mus "Patriarchat" genannt) gibt?
Dem Begriff 'Sexismus' scheint ja. wie
sich aus tfcr grundsätzlich nebenwider-
spruchsthcorctischcn Position der CCC-
Gefangcncn ergibt, eine solche spezi-
fisch (eigenständige) strukturelle Be-
deutung nicht bcigcmcsscn zu werden...
Aus der definitorischcn Setzung der
"aktuellen Gesellschaften als fortge-
schrittenen Kapitalismus und (der) bür-
gerlichen Demokratien als sexistisch"
wird die scheinbare Plausibilität einer
nächsten Ihcsc gewonnen:
"Dieser wesentliche Hebel, wir brachten
es kurz in unserem Text 'Ein bißchen
Politik' zur Sprache, ist der universelle
und antagonistische Widerspruch /wi-
schen internationalem Proletariat und
imperialistischer Bourgeoisie. (...). Un-
serer Ansicht nach können in einer Ge-
sellschaft. die in sozial-antagonistische
Klassen geteilt ist. keine Rechte und
Freiheiten existieren, die dem Klassen-
kampf übcrlicgcn. Es gibt gegen-
wärtig überaus mehr gegensätzliche als
gemeinsame Interessen einer Bürgerli-
chen und einer Proletarierin; (93)
S. a 90 "das kapitalistische System
(und all seine sozialen Äußerungen, wie
Rassismus. Sexismus etc.)“. 90:
"Globalität derjenigen Klasse "
(Hervorh. d. Verf.).
Wie erwähnt, wird an keiner einzigen
Textstelle auch nur der Versuch einer
Begründung dieser Aussage (Primat des
Klas*enkampts) unternommen. Die
oben zitierte Patriarchats/Sexismus-De-
finition kann jedoch eine solche Be-
gründung nicht ersetzen.
Speziell zur Frage des klasscnübcrgrci-
fenden Frauenintcrcsscs sei noch ange-
merkt,
++ daß sowohl bürgerliche als auch
proletarische Frauen von Männergewalt
(u.a. ehelicher und außerehelicher Ver-
gewaltigung). sexistischer Anmache
und Werbung bedroht sind;
++ diß bürgerlichen und proletarischen
Frauen die Verantwortung für Haushalt
und Kinderer/.iehung aufgebürdet ist
(auch wenn bürgerliche Frauen eher die
Möglichkeit haben, einen Teil der Ver-
antwortung gegen Entgelt an andere
Frauen zu delegieren);
++ daß bürgerliche und proletarische
Frauen der sexistischen Arbeitsmarkt-
stmktur (Entlohnung. Aufstiegschancen
etc.) ausgesetzt sind (wobei proletari-
sche Frauen aus Gründen ökonomischer
Notwendigkeit vielleicht eher die Mög-
lichkeit haben, einer Erwerbstätigkeit
nachgehen zu können).
Selbst Lenin stellte zu Recht fest, "die
Hauswirtschaft ist in den meisten Fällen
die unproduktivste, die barbarischste
und schwerste Arbeit, die die Frau ver-
richtet. Es ist eine sich im allerengsten
Rahmen bewegende Arbeit, die nichts
enthält, was die Entwicklung der Frau
irgendwie fordern konnte." Er zog dar-
aus den Schluß, die "Frau in die gesell-
schaftlich produktive Arbeit einzubezie-
hen. sie der 'Haussklavcrci' zu entrei-
ßen. sie von der absiumpfcndcn und er-
niedrigenden Unterordnung unter die
ewige und ausschließlich Umgebung
von Küche und Kinderstube zu befrei-
en."^
Lenin schreibt hier wohlgemerkt "die
Frau*, nicht "die Arbeiterin". Recht hat
SSlW33 36u»JlW».40ian K*tmidal 198« IM
102
er - insoweit. Unrecht hat Lenin inso-
weit, als die Frauen hier nur Zubefrei-
ende, nicht als um ihre eigene Befreiung
Kampfende Vorkommen. Im übrigen
waren/sind Frauen auch in der Erwerbs-
arbeit noch einer sexistischen Arbeits-
teilung unterworfen. Dies war auch in
der Sowjetunion - selbst in der ( relativ
zum Stalinismus) anti-patriarchalen
Phase unmittelbar rach der Oktober-Re-
volution - der Fall.®** Selbst Alexandra
Kollontai betrachtete speziell die haus-
arbeitsnahen Berufe als Sache der Frau-
en. 57
3. Wessen "stereotype
Einstimmigkeit"? / Den Kampf gegen
den Reformismus/Ökonomismus
tatsächlich führen!
Auf der Grundlage der unbegründeten
These, daß der Klassenwiderspruch die
einzige Dominante der gesellschaftli-
chen Struktur in der imperialistischen
Metropole sei, kommt es in dem Text
immer wieder 7.u einer Fbnenver-
wischung: Statt wenigstens einmal den
Versuch einer Begründung dieser These
zu unternehmen, polemisieren die CCC-
Gcfangcncn ständig - und zu Recht -
gegen Trade-unionismus und Teilbe-
reichs-Beliebigkeit. Sie erzeugen da-
durch eine - wie sie selber schreiben -
"stereotype Einstimmigkeit" (90): "Ja,
ein Kampf der nicht antipatriarchalisch
ist, ist kein revolutionärer Kampf. (...).
etc. etc. etc." (90) "wir sind alle gegen
Sexismus, Rassismus, Militarismus"
(Seitenref wir_alle)). Damit wird an den
längst vorgebrachten Argumenten für
die Annahme eines (relativ) eigenstän-
digen Geschlechterwiderspruchs ein-
fach vorbeischwadroniert.
Statt sich mit diesen Argumenten aus-
einanderzusetzen. vermischen 58 die
56 Sroö 1991. 21 . S. ttici da PoMbn «n 1919. 27. t/t
xfafr. nur» Cmttrgro. Sc*Mtt.m>. K
C* < kFmvnW HamwrtKtaß lohn. Ihd dt
S tfaSr*} (I dnv Eivcforget et er* A/t*l dt heue Ofchfcft
von den Foutn rj Woran id '
57 iMtrdri KdooUL Oe Sftaan fl* Freu «l d* peuütfiatfcfwi
(19211. FdrtJat «ro U*\ 1975. 2»
56V0 89 trtjt p&*t0** Pio<Wm «i pol*
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öO-a fnnall nritf aa dan Kj.tf.'.o-Alro etgoMM srd
CCC-Gefangenen ihre - zutreffende! -
Kritik an trade-unionistischen Positio-
nen bzw. der Teilbereichs-Beliebigkeit
mit einer - verfehlten! - Abgrenzung
("Kritik“ zu schreibsn wäre falsch, denn
es werden keinerlei Argumente vorge-
bracht!) von Positionen, die auch den
Geschlcchterwiderspruch und den Ras-
sismus als Dominante der gesellschaft-
lichen Struktur betrachten. Tatsächlich
aber stellt sich dos Trade -unionn-
mus/Rcformismus-Problem in jedem
dieser drei Kämpfe. Es gibt also
(genauso wie es einen reformistischen
Kampf gegen einzelne Erscheinungen
des Kapitalverhältnisscs und einen
(revolutionären?) Kampf gegen das Ka-
pitalvcrhältnis gibt) einen reformisti-
schen Kampf gegen einzelne patriarcha-
le Erscheinungen und einen
(revolutionären?) Kampf für die Über-
windung der patriarchalen Struktur 9 -
und entsprechend hinsichtlich des Ras-
sismus.
F.ine tatsächlich revolutionäre Politik
muß sich (aber) wohl aufgrund der real-
historischen Verflochtenheit dieser
Strukturen 6 ® gegen alle drei Hcrr-
schaftsverhältnissc richten. Nehmen wir
als Beispiel, wo dies - weitgehend un-
bewußt (!) - realisiert wurde, die Okto-
ber-Revolution:
»++ Wenn erstens richtig ist, was Al-
thusser schreibt. - nämlich, daß die Ok-
tober-Revolution nur möglich war auf-
grund der "Anhäufung und Zuspitzung
aller damals in einem einzigen Staat
möglichen historischen Widersprüche"
(Althusser 1962, 59),
++ und wenn zweitens bekannt ist, daß
Frauen in revolutionären Situationen zu
einem relativ höheren Anteil am politi-
schen Prozeß teilnehmen (können) als
in nicht-revolutionären Zeiten (Klenke
1983, 28; Kolkenbrock-Netz 1983, 33,
35).
++ dann stellt sich drittens folgende
Frage (...): (...) Ist nicht ein 'rein’ prole-
tarisches (genauso aber auch: ein ’rein’
feministisches oder antirassistisches)
revolutionäres Bewußtsein per se un-
möglich? Ist revolutionäres Bewußtsein
vielleicht als Produkt der gleichzeitigen
Eskalation von Klassen- ('Brot und
Frieden'), Geschlechter- (quasi Leibei-
genschaft der Frauen im Zarenreich)
und rassistischen Widersprüchen (Frage
des Sezzionsrechts nationaler Minder-
heiten) zu definieren? Und läßt sich
vielleicht weiter sagen, daß der rcvolu-
59 Zu rrrotKoWw ChanOla cos FbtT«s-«b nt Mfctal 1K6-
71. 10.12.611
60 V(f Hin Ol 19». 217: SM UrtwKOj-} <M Frau* M «r <to
fUcroUUn <M> fcjpufet&ftt FVaUnraMBS nttran*)
yrrlv Uro c Mb* *i «gavfcr** MMramUWj*
Sm von OK Meuisuaw «W» w **«•
Sa. Haiti 196). 221.
tionärc Prozeß in der Sowjetunion ge-
nau in dem Moment zum Erlahmen
kam, als diese Überlagerung / dieses
Zusammenwirken von proletarischen
(sozialistischen), feministischen sowie
(in heutiger Terminologie: antirassisti-
schen) Kämpfe nationaler Minderheiten
wegfiel / zum Erliegen gebracht
wurde?« 61
Julict Mitchell schreibt dazu in
“Frauenbewegung - Frauenbefreiung“:
"Trotz Lenins scharfer (Ökonomismus-,
d. Verf.) Kritik sind die Kämpfe der Ar-
beiterklasse in der westlichen Welt zu
stark innerhalb der Grenzen ihrer eige-
nen ökonomischen Ausbeutung geblie-
ben und waren entweder an Gewerk-
schaftspolitik oder an reformistische
kommunistische Parteien gebunden. (...)
Schlamm eines schwarzen Chauvinis-
mus, was das rassische und kulturelle
Gegenstück zum Ökonomismus der Ar-
beiterklasse wäre, wo man nicht weiter
als über seinen eigenen Bauchnabel
hinausschaut: Was für Arbeiter gilt, gilt
auch für Schwarze (und auch - so kön-
nen wir sicherlich im Sinne von
Mitchell ergänzen - für Frauen, d.
Vcrf.J: 'Das Bewußtsein der Arbeiter-
klasse kann kein wahrhaft politisches
sein, wenn die Arbeiter nicht gelernt
haben, auf alle und jegliche Fälle von
Willkür und Unterdrückung, von Ge-
walt und Mißbrauch zu reagieren,
(.■•r 62
4. Frauenunterdrückung ist nicht nur
ein Überbauphänoraen!
Wenn die CCC-Gefangenen schreiben,
"denn es ist gänzlich absurd und falsch
zu behaupten, daß das Patriarchat die
Gebärmutter des Kapitalismus sei oder,
wie es die Genossinnen der 'Infolüden'
schreiben, 'eine den Kapitalismus mit
bedingende Herrsckafts- und Unter-
drückungsform'. In einer allgemeinen
Form beruht eine solche Konzeption auf
dem philosophischen Idealismus: sie
behauptet, daß der Überbau die Struktur
kreiert; sie versichert sich in der Finali-
tät, daß der Mensch die Gesellschaft
und die Geschichte kreiert, stau ein hi-
storisches und soziales Produkt zu sein.
Eine sulche Konzeption verwirft in ab-
soluter Art und Weise den gesamten hi-
storischen und dialektischen Materialis-
mus," so ist ihrer Kritik an der Position
der Infoläden als auch der Kritik an den
menschlichen (humanistischen) All-
machtsphantasicn zuzustimmen. Nicht
zugestimmt werden kann allerdings der
im zweiten Satz implizierten These, daß
61 Scfuto* 1992. 2. FN 15.
62 Ufct«l 1956-7!. 17. 1B. Oil ZU* H 7 IX am Wts an’. Da*
1970. S 106
103
Frauenunterdrückung nur ein Über-
bauphänomen sei. Vielmehr bestimmen
Kapitalismus. Patriarchat und Rassis-
mus gleichermaßen Basis und Überbau
der Gesellschaft (s. dazu die ausführli-
cheren Erläuterungen im ersten Teil
dieses Textes).
5. Kommunistischer Reformismus
Das folgende Zitat dokumentiert unter
anderem ein Mißverständnis der marxi-
stischen Positionen bezüglich Gleich-
heit und Ungleichheit, was zu objektiv
reformistischen Forderungen der CCC-
Gefangenen führt:
‘Tatsächlich hängt alles von den realen
Zielen ab. die mar zu erreichen sucht.
Entweder eine radikale und komplette
Veränderung der sozialen Verhältnisse,
hin zu der Gesellschaft der Gleichheit:
die Abschaffung der Ausbeutung und
Unterdrückung des Menschen durch
den Menschen, die Beseitigung des Se-
xismus. der Phallokratie. etc.; oder anti-
sexistische, antiphallokratischc Refor-
men, die aber im Rahmen der globalen,
unveränderten sozialen Verhältnisse, in
der die Teilung in Klassen und die Un-
terdrückung des Menschen durch den
Menschen fortbestehen, zwangsläufig
unbefriedigend sind. Das erste Ziel ist
das der revolutionären Kommunistin-
nen, das zweite das der reformistischen,
bürgerlichen und kleinbürgerlichen Fe-
ministlnnen."
Zum einen ist hier anzufugen, daß die
Einnahme einer feministischen Position
noch lange nichts - weder positiv noch
negativ - darüber aussagt, ob auch die
Abschaffung der Klassen verfolgt wird.
Zum anderen - und hier zeigt sich das
Mißverständnis - ist “Gleichheit" eine
Kategorie des bürgerlichen Rechts
(MEW 19, 20); der Marxismus fordert
daher nicht die Gleichheit der Klassen,
sondern die Abschaffung der Klassen
(MEW 19, 20; MEW 20. 580 f.). Ent-
sprechend geht es für Revolutionärin-
nen auch nicht (bloß) um die Gleichbe-
rechtigung der Geschlechter, sondern
um die Abschaffung der sozial konstru-
ierten Geschlechter 3 und der ebenfalls
sozial konstruierten "Rassen"® 4 als
63 läch L-iriUnri M rf O l B f» Mutt « I-Ktwi Otn
urtWKfUKtXMn tafcgBcMn Bgansduflin von MAran uxJ
frai*n(rgl i«il aivKitei ix« Ojiaa angaökfv
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*Uim> 1987. CM wn forafunj «l hwus gaia*J. <US
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IfKrtV* iwW Wn Vttlrufi UMal n UT. ha 0c> TIhm Kn
Ott COtopHfan Z.ogasfJ«föö*el un an« Proben
Wiriw*«* kMotog« aJ CM BdogM (GAMmMsaaiMiaew IBK).
W S Om: Vtfmim 1990. Q' *Ei gt* nur am Rbi* CM
m«n*I*ft Raum' ttn) om KcnBatTcn. :• öo müa md
Udinla UritndHto n s-gaNO bctogsOi ladnj»
W«»n»g*rddufla(v CCktmU Rum’ * an« <*M«« K««*-
gtfa. da t\ 0*t GeWidWa gtfJl «arta.
(BotogachganatiKfi an) tagm» da IManchM« r-WJvan
Dominante der gesellschaftlichen Struk-
tur.
Drittens - und hier zeigt sich erneut der
Reformismus - ist ja gerade der Vorwurf
der Feminist innen an die Kommuni-
stinnen. daß es letztere seien, die sich
auf bloße “ antisexistische . antiphallo-
kratische Reformen, die aber im Rah-
men der global unveränderten sozialen
Verhältnisse" blieben, beschränkten;
daß sie die (klassenunabhängigen!) pa-
triarchalen Strukturen unangetastet
ließen !
Insofern läßt sich die These sinnvoll
folgendcrwcise umformulicren:
Tatsächlich hängt alles von den realen
Zielen ab. die man/frau zu erreichen
sucht. Entweder cire radikale und kom-
plette Veränderung der sozialen Verhäl-
tnisse, hin zu der Gesellschaft ohne
Herrschaftsverhältnisse; die Abschaf-
fung der Ausbeutung und Unterdrük-
kung des Menschen durch den Men-
schen, oder nur reformistisch die Ab-
schaffung des Kapitalismus, aber wei-
terhin im Rahmen der globalen, unver-
änderten sozialen Verhältnisse, in der
die Unterdrückung von Frauen durch
Männer und von Schwarzen durch
Weißen fortbestehl Das erste Ziel ist
das der (umfassenden) Revolutionärin-
nen, das zweite das der patriarchalen
Kommunisten.
6. Anmerkungen zum Verhältnis der
CCC-Gefangenen zur Sprache als so-
ziales Kommunikationsmittel:
a ) Zur Feminisierung der Sprache:
- Das Übersetzungsproblem:
Wenn es stimmt, daß “das Problem
'man/Mann im Französischen nicht
(besteht). 'Man heißt 'on (unbestimmtes
Fürwort), ohne daß da die geringste Er-
innerung an seinen lateinischen Ur-
sprung 'homo wäre." (93). 65 dann wäre
- anders als die CCC-Gefangenen mei-
nen (93) - gerade der Übersetzer zu kri-
tisieren. Gerade dann wäre es angemes-
sen gewesen, als - (ebenfalls) ge-
schlechterübergreifende - deutsche in-
haltliche Entsprechung zu 'on'
'man/frau' zu wählen.
- Das Problem der Feminisierung (der
französischen Sprache):
Die CCC-Gefangenen schreiben eine
Feminisierung der französischen Spra-
We*3«n goniu» ahrtö ir« go0 *M r*Oct*r\ Sä^arrao uvd
w*0*n mJ «v« reefen Scfiwnan: So mxK D Beöjr«. Gaoe*.
GawlwMfl. r Hrttrgird 101965 *6 t«rj: Tn
(tnanv Zuarn»ft*g tai uvimiWian. drt de omtwtf«
fränfTM 0* VmMia EigmNNn kd&cfi &•
IHs-iO»*)« t-oO*o nö* tb* r*rcr*n NaHmn.
Raum Ooi aiaU Crmm CtttfC Vgl oirP Imvaruel
WihWHi. CM Kmonwov « v»im. n Ö*IS ) Ftama BiKoi.
Raua KUs». f«wv. HarfcjrtfWan&arfn. I WO. 87 ■
65 OM» Mwt» wrf nmavdtst aucti K«v An-AS« Um. Passon
c Ott Sag-tgarov 1 . n Oa SOr-ana Bart f». 29. Om
l98SU«VF«b 1965. 10 ■ ISpSIgetet
ehe sei aufgrund der “Übereinstimmung
der Adjektive, der Partizipien der Ver-
gangenheit. (der) Wahl der Fürwörter,
etc." nur unter Zerstörung der Sprache
als soziales Kommunikationsmittel
möglich (94). Ich weiß nicht, wie das
im Französischen genau ist; aber auch
im Deutschen müssen ggf. / werden ja
die Adjektive teilweise mit ergänzt, oh-
ne daß die Verständlichkeit der Spruche
zerstört wird. Im übrigen werden fran-
zösische und belgische Feministinnen
sicherlich längst eine Lösung für dieses
Problem gefunden haben - falls es denn
besteht.
Schließlich weigern sich die CCC-Gc-
fangenen “fratemel' und fraternite'
(brüderlich und Brüderlichkeit. d.Ü.)"
mit "'sororar oder so ro rite'
(schwesterlich und Schwesterlichkcit,
d.Ü.)" zu verbinden, da letztere
“heutzutage ebenso rar in den Wörter-
büchern. wie der sozialen und politi-
schen Kultur unbekannt sind“ (94). Dies
zeigt erneut nur den begrenzten politi-
schen Horizont des "kommunistischen"
Ansatzes der CCC-Gefangenen. Denn
die Parole der Schwesterlichkeit ist
nicht nur eine Parole der heutigen Frau-
enbewegung. sondern hat eine Tradition
seit den 30er Jahren des 19. Jahrhun-
derts. 66
- Das Überbau -Problem / das Problem
der Wirkung:
Die CCC-Gefangenen "bezweifeln
stark, daß dies (eins Feminisierung der
Sprache. Erg. d. Verf.) irgendeine Wir-
kung haben könnte' und weisen in dem
Zusammenhang darauf hin. "daß die
Sprache aus dem Überbau stammt”.
Sicherlich wird eine Feminisierung der
Sprache (allein) nicht das Patriarchat
stürzen, aber eine Änderung der patriar-
chalen Sprache ist ein Elemente des an-
lipatriarchalen Kampfes - und zwar ein
relativ leicht zu bewerkstelligendes
Element. Daher: Wenn selbst hier schon
die Bedenken und Vorbehalte ansetzen.
Frauen wollen zu Recht eine Sprache, in
der sie Vorkommen - sei es bei Stellen-
ausschreibungen; sei es bei Texten, die
den Anspruch erheben eine, "historisch-
materialistische Analyse" (90) der Ge-
sellschaft zu geben. ... wo auch immer!
Auch der wissenschaftliche Sozialismus
mußte neue Begriffe prägen. Und da
das Patriarchat anders (komplexer)
strukturiert ist als der Kapitalismus,
sind die sprachlichen Änderungen, die
der Feminismus fordert umfassender,
als die der Sozialismus (gc)fordcrt (hat).
"Es hilft hier überhaupt nicht weiter, auf
die Gcschlcchtsneutralität" bestimmter
“Begriffe hinzuweisen. (...), wenn Frau-
66Kärn«atl&4.1iZ
104
en sie schlicht als männliche Begriffe
hören und verstehen. Eine Sprcchhand-
lung und eine Anrede gelingt nur, wenn
sich die Angcsprochcnc auch angespro-
chen fühlt. Nun sind wir Frauen da et-
was vorsichtig geworden, weil wir es
immer wieder erleben, daß wir nicht
mitgedacht werden. 'Die Abgeordneten
kamen alle mit ihren Frauen zu dem
Empfang " ist ein völlig normaler Satz.
Mit 'Die Abgeordneten kamen alle mit
ihren Männern zu dem Empfang' wissen
wir weniger anzufangen. Also de Ab-
geordneten, obwohl cs grammatikalisch
ein wunderbar neutraler Begriff ist: im
Singular parallel die Abgeordneu: und
der Abgeordnete . im Plural: die Abge-
ordneten, werden semantisch zunächst
männlich interpretiert." 67
Im übrigen sei in Erinnerung gebracht,
daß selbst Stalin in einer seiner späten
Schriften ("Marxismus und Fragen der
Sprachwissenschaft"), in der er etwas
von seinem Ökonomis-
mus/Determinismus abriiekte, die
These, die Sprache sei ein Element des
Überbaus, zurückwies: 68
"Das ständige Wachstum von Industrie
und Landwirtschaft, von Handel und
Transport, von Technik und Wissen-
schaft, zwingt die Sprache, ihren Wort-
bestand laufend mit neuen Worten zu
ergänzen, die für deren Tätigkeit uner-
läßlich sind. Als unmittelbaren Aus-
druck dieses Bedarfs ergänzt die Spra-
che ihren Wortbestand mit neuen Wör-
tern, wird ihr grammatikalischer Bau
vollkommener. Somit a) kann ein Mar-
xist die Sprache nicht zum Überbau der
Basis zahlen; b) die Sprache mit dem
Überbau verwechseln, heißt einen ern-
sten Fehler begehen." 69 (Hervorh. d.
Vcrf.) Wo er Recht, hat er Recht. Wir
müssen unsere Sprache so ändern
("neue Wörter" / neuer "grammatischer
Bau"), daß Frauen darin Vorkommen;
die objektive Realität zutreffend wider-
gespicgelt wird ("Wissenschaft").
Allerdings können sich die CCC-Gc-
fangenen mit ihrer instrumentalistischen
Konzeption (Sprache als neutrales
Kommunikationsmi/re/) wiederum auf
Stalin berufen. 7 * 7 Diese instrumentali-
stische Konzeption bedeutet allerdings
eine Vernachlässigung der "Dimension
der Praxis, die cs ermöglichen würde,
die sprachlichen Praxen (die Diskurse)
er San» riöroM’Utz. Sparte ab pcfcOrtai Rannen, n tlrgl
Vunstiia u». G-J» Foot Pc** Ten« n» 1 .
aA3Mfo>ert<Ert««ru 0 * (Woan. Born. 'WS
MZuiMBiiUkK (tat Spotte (Dekra) » »xh Force« Gstat
Sartwrt ‘Sporte’. R G*tge» lat« t Qtnra BentwOT (Hg)
Kmsrt« HMtduti OKUMsiria Ban) 7. Hjrrtuj 108. S.
1228-1233(1228. 123?»
69 j Sam. Ue-Umu» unFoprMtatSeort-Beercrttf. «v tan.
Menüt-ul u «3 Frag* ta- Spcartmnnurtrt / N. Men IÄ» Cie
&Mrt»j<ta< Stnrte. Urrttn. 1958. 23 (23 • 28. «ot ;8)
70 Sam. aa 0.23 -27.
mit dem Überbau in Beziehung zu set-
zen - ohne (...) die Sprachc_5clbst zu ei-
nem Überbau zu machen" 7 *. D.h. die
Sprache ist nicht einfach ein neutrales,
Vorgefundenes Mittel, sondern sie ent-
steht erst in der sprachlichen Praxis.
b) Zum Monarchismus in der Sprache
der CCC-Gefangenen
Mit einer penetranten Häufigkeit kom-
men in dem Text der CCC-Gefangenen
schließlich - vielleicht der Übersetzung
geschuldet? - gcsundhcitspolizcilichc
bis Nazi- ["ungesunde Merkmale" (89);
"gesunde (...) Orientierung" (89);
"Entartung (89)]. unwissenschaftliche
("revolutionäre Moral“ (88); "Respekt
der kommunistischen Moral" (91)], re-
ligiöse ['Vision" (91); "offenbaren"
(91); "Opfer an das übergeordnete Klas-
seninteresse" (Seitenref Opfer); "neue
Menschheit (93)) und monarchistische
("die Krone aufsetzi" (91)] Eegriffe vor.
IV. Für eine materialistische Patriarc-
hats-Kritik
Der begrenzte Horizont des Textes so-
wohl der Kommunistischen Brigaden
als auch der CCC-Gefangenen zeigt
sich schließlich daran, daß die KomBri
behaupten, für die These von einer
"triplc oppression" würde (von Vich-
mann et al.) keine gcscllschaftlich-ma-
tcricilc Basis angegeben werden
(können) (86) bzw. an der These der
CCC-Gefangenen, die heute noch be-
stehende Frauenunterdrückung sei ein
ideologisches bzw. Überbau phänomen
(Seitenref Überbau). Vielmehr verfallen
gerade die Vertreterinnen derartiger
Einwändc gegen den Feminismus "in
den bürgerlichen Idealismus'. Denn sie
erkennen die Existenz eines sexisti-
schen Bewußtseins an, ohne ein gesell-
schaftliches Sein als dessen materielle
Basis angeben zu können. 72
Im übrigen ist zwar zuzugeben, daß es
Feministinnen gibt, die den Geschlech-
terwidcrspiuch dem Klassenwider-
spruch mindestens glcichordncn, ob-
wohl sic selbst das Patriarchat für ein
Überbauphänomen halten. Eine solche
Position ist in der Tat haltlos 73
Aber im Widerstreit mit dieser Richtung
erheben sowohl die radikal-feministi-
sche Strömung (zu Unrecht) 7 “* als auch
die sozialistisch-feministische Strö-
mung (zu Recht) den Anspruch, eine
materialistische Patriarchatstheorie zu
formulieren. So lautet bspw. der Unter-
titel des Buches von Mich&le Barrett
71 Gata» »»0.1231
72 Söc<* 101.2*1
73 S. (tan (ta Ktk Mi Bjito? IS». SS *. Si f_ 218 ».; Bc um»
IW. 22. H**VW 196*. 60. 62. 73 L VOTw ■>.!»}. 39.
74 S dtfu 1968. 8 1. 12 1.
"Umrisse eines materialistischen Femi-
nismus"..
Dazu ist es allerdings erforderlich,
++ zum einen den marxistischen Basis-
Begriff von seiner statistischen Ver-
kürzung zu befreien
und
++ zum anderen auch noch über die so
wieder zur Geltung gebrachte Theorie
von Marx, Engels und Lenin korrigie-
rend /imoMtzugehen.
1. d«r marxistische Basis-Begriff
Hier ist zu beachten, daß bei Marx der
Begriff der materiellen Basis noch nicht
- wie in der späteren marxistischen
Theoriebildung - auf die Güterprodukti-
on eingeschränkt war, 73 sondern auf
die 'gesellschaftliche Produktion (des)
Lebens " (Marx 1859, 8) insgesamt be-
zogen war. Friedrich Engels bezeich-
nete im Vorwort zum " Ursprung der
Familie " nicht nur die Produktion, son-
dern auch die " Reproduktion des unmit-
telbaren Lebens" als "in letzter Instanz
bestimmende(s) Moment in der Ge-
schichte" (Balibar 1984a, 623 - Her-
vorh. d. Verf.). Diese Ansätze einer
nicht klassenreduktionistischen Gesell-
schaftstheoric (vgl. Balibar 1984b, 634
f.) wurden allerdings weder von Marx
noch von Engels weiter ausgefühn und
sind in der üeschichte des Marxismus
wieder verloren gegangen (worden).
2. Über den Marxismus hinaus!
Ein solcher breiter Basis-Begriff ermög-
licht cs dann, Gcschlcchtcrverhält-
nissc 76 und Rassismus 77 ebenso wie
Klasscnvcrhältnissc als Bestandteile der
Produktionsverhältnisse zu betrach-
ten. 78 Zur Analyse dieser
"Übcrdctcrminicrung” (Überlagerung
mehrerer Widersprüche) von
"Sexismus, Rassismus und Klassis-
mus' 79 läßt sich Althusscrs Kategorie
des "komptcxc(n), stnikturicrtc(n)
Ganzc(n)" 80 nutzbar machen. 81
75 Fl* Hkij l(tac*X3*rt® VwtiAtx««’ fi <taf OOfi-W»
Hj). T7OT<tan Idacfc-
»an. (Wisjiedn. 1979 1 . 19« 3 .82« (3).
78A.-xkHOTVfoliS68.44.
77 VgL F. Maog 1968. 17.
78 1 S». 9* 6m«N ‘(tan Bag* 'MkcOTiWlW nC*
"u mf IfcoiOTi-tftiUn«« l D MM« aurt da T#*rj rart
GatrtWM in 3 Rau«. Dtlnttnan wnrtiadanar Artolifccwi
{*cpF i«d Hanäat«* iaw.) Baslfnxngan (Uritof. »•* »«San
sol irfl imi‘ V» F. Hauj I Kuno 1984. ß; Vtafrarxi al «
1W1.441
79 So <tar IWHiaKta» BikR« ven UMarM 19«. <*« U>¥ n Iwa*
HauOTut-DaTntOT - sxtao all h» ■ n«M vai onam
vtattüw. serctam w>o arwn soiokgsrtan ra-
gen (Muanoa* U66. 63). Zun QaiOTaf an S<wc«g*. <*a »H-«
W«ot »» an. »ntam an« Her-irtaniiirtn* Bl i: Ka tu 1978. 37
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80 Artua*» 1963. 137 9. da* aöt» srtsi ta Ou The» vtn «*«is
•Mf ainao H»*o»itafscnjrt lasthtf VJemu* 103. 138. 1*9) AJ-
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«W S al tarn stf/att acf*a8«rt ns*n*< Alhj«ar-Qr«Rrt3
105
Aber auch bei der Suche nach einer ma-
teriellen Basis des Patriarchats ist wie-
derum dessen Spezifik zu berücksichti-
gen:
"Unlikc the marxian concept of dass
exploitation which is defined exclusi-
vley by the rclations to the means of
production and the extraction of surplus
value, the oppressbn of women does
not derive from a single set of social rc-
lations but from a complcx System of
interrclatcd structurcs and rclaiions." 8 ^
[Daher erübrigt sich schließlich der
Vorwurf der KomBri, die triple oppres-
sion wolle 'den Mann' bzw. 'den Rassi-
sten' zum Feind erklären. Vielmehr be-
deutet die These von der Existenz
(relativ) eigenständiger patriarchaler
und rassistischer Hcrrschaftsjfru*/uren,
gerade daß der einzelne Sexist und
der/die einzelne Rassistin nur ein Teil
des Problems ist 83 (genauso wie sich
der proletarische Klassenkampf ja auch
nicht nur gegen den/die einzelne N Ka-
piralistin/en, sondern gegen die kapita-
listische Produktionsweise insgesamt
richtet).]
Aber zurück zur Frage nach der Basis
von Patriarchat und Rassismus. Sicher-
lich ist diese Frage noch nicht abschlie-
ßend geklärt aber Viehmann et al. ver-
suchen in ihrem 3:1-Papier durchaus ei-
ne Antwort zugeben.
Zum Patriarchat schreiben sie:
"Im Begriff der Arbeiterklasse ist das
weibliche Geschlecht unsichtbar ge-
macht. Arbeiterinnen werden durch
Vernachlässigung ihrer zusätzlichen
Rolle als Haus/Ehefrau auf das Lohnar-
beitsverhältnis reduziert. Die zusätzli-
che Ausbeutung durch den (Arbeiter-
)Mann verschwindet in der von Marxi-
sten/Leninisten oft propagierten
'Proletarischen Familie'. (...). Die Berei-
che der gesellschaftlichen Produk-
tion, in denen hauptsächlich Frauen -
besonders trikontirentale - arbeiten,
fallen unter den Tisch. Die ganze ge-
schlechtliche Arbeitsteilung und deren
enormer Wert für Kapital (?!) und
Männer verliert sich als quasi naturge-
gebene Quelle im Reproduktionsbe-
reich. dem dann keine revolutionäre
Sprengkraft zugerechnet wurde. (...) Die
Gewalt gegen Frauen wurde aus dem
privaten Bereich geholt und als struktu-
Oafi NaöamrdafJtnxJ-M rOl ■lOrotam ml da n Haut~t*rcprJ-
(WgUWwMi- t*. •«>. '•"•***. U«~-ä/nj« d*. kem-
[<e<eo Guuai (.. ) nu dar wton <to Goar***. da
(Ha«*- und NMavJWdentricti« jeösl *W (Kar? 1976. 1*0- er-
9« ö VM_ mii IOJ
81 HiugHiusof 1984. 7?. MICM* 1 «671. 96 1 . 1 W. FN 53. M&ffel
19M.17.47r.rN13.
67 DaNane 1967. ICC.
63 V* BCMH*l»4.17.
rclle quer durch alle anderen sozialen
Verhältnisse entschleiert; (,..)." 84
Und zu den Rassismen schreiben die
Genossinnen, daß 'sic in der Arbeite-
rinnenklasse selbst real existieren. Die
funktionierende (!) rassistische Spal-
tung der arbeitenden Klasse (...). Ras-
sismen nur als 'Schein', nur als Machen-
schaften und Einrcdungcn der Herr-
schenden anzuschen. verkennt ihre Po-
pularität und ihre materiell wirksamen
jahrhundertealten Traditionen. Ras-
sismen sind zu Strukturen geworden,
die sich nicht auf andere soziale
Verhältnisse reduzieren lassen. Sic
lassen sich auch nicht völlig ahleiten
aus anderen sozialen Verhältnissen, sic
haben eine relative Autonomie gegen-
über Patriarchat und Klassenherrs-
chaft.” 85
3. Organisierung und Autonomie
Nach alledem bedarf die Notwendigkeit
einer "politisch autonomen Frauenbe-
wegung (...) keiner ausführlichen Recht-
fertigung mehr". 86
Einige Elemente, die cs eigentlich auch
Kommunistinnen einfach machen müß-
ten. diese Notwendigkeit
(an)zucrkcnncn. finden sich bereits bei
Lenin. Sic müssen allerdings aus ihrer
prinzipiellen Einordnung in ein Neben-
widcrspruchs-Konzept herausgelöst
werden.
Zum einen sprach sich Lenin bekannt-
lich für das Selbstbestimmungsrecht un-
terdrückter Völker aus, zum anderen
schrieb er: "Wir sagen, die Befreiung
der Arbeiter muß das Werk der Arbeiter
selbst sein und genauso muß die Befrei-
ung Arbeiterinnen das Werk der Arbei-
terinnen selbst sein ” 8 ^ Bei dieser For-
mulierung bleibt unberücksichtigt, daß
auch Frauen der Bourgeoisie als Frauen
unterdrückt sind. Des weiteren ist cs ei-
ne patriarchale Fchlanwcndung des zi-
tierten Satzes, wenn Lenin mit ihm ver-
sucht, die oben angesprochene ge-
schlcchtshierarchische Arbeitsteilung
nach der Oktober-Revolution zu recht-
fertigen. 88
Bei der erstgenannten Position Lenins
muß korrigierend ergänzt werden, daß
sich daß Problem des Rassismus nicht
M VWrrsm n al 1993. 31. 38 • ■WW d Vad Zu« «m*ufMao
Badvrtung ven lUnntrgtwtft gagan FrtMO ( au* oban ZU
K FN 1 «. Zu Brtkii r*} öoi gMcMKMtNonreMKtMn
ArtMftnaiung ak Ba*U da« Pkflaotwii vgl au* Ban« 15».
19. 72. 75. 331. 34. HtojHaum 19M. 591. <*09
»Maman (Wstf Hmm iimha <M (vw a*«n auf Oti
Gfuxtoga Om aonogu PwWnw von Ban« ud HmgHanoi)
ntnriJt/rraelyolMtarsril
65 VMlmmn « al . 37. 34 - H*vcft IO
86 ßa-rafl 1993. 723
87 lann 1919. 77. F ßatfw/N laöa 1»4. 3*4
MS.auudasLfrtn-ZoifiFN Pidcm urduiiscti: F. Balba / N
laba 1564. 344. s* 342: 1.)ar*at«a 1925 (_) rn «vom <M<
rtb&C*-*yti 3 mm rrans! oififimraiaöa S-.enwtj
crr«^»i” Dai gaiOufi • wa (t*o - «fl tpfcp
nur auf den Bereich des Staatsgrün-
dungsrechts bezieht, sondern u.a. auch
in d?r Arbeiterinnen- und Frauenbewe-
gung selbst virulent ist. Deshalb muß
Lenins Forderung • im Gegensatz zu
seiner eigenen Auffassung - auch auf
den Bereich der revolutionären Bewe-
gung selbst erstreckt werden.
"Erst auf der Basts von Autonomien
waren dann wieder Einheiten möglich,
die nicht vercinnahmbar, umarmend
oder unglcichgcwichtig sind, (...).” 89
Und hier fangen di: tatsächlichen Pro-
bleme. die in der weiteren Diskussion
zu klären sind, an.
«-fettig* UMntw (»Hat* In dvr«4iW*i),
lous AJruwai. WdtrsrAfi ud AaöflarraiWar-j AmeAingan
an« Uwauchng (1967). h an . Fi Ua>. FirKud an Hin.
1956.52-99
dar*. ÜMf mUmikuaclM OuMf* V« do« df Ur
*<ünje(19&3).n «W.KO-W
Ml. Vc* -O« Kapod ksa»' (1945) ta Tarn ud da
(19561 • Eif*v 1 «um Vemwl ( 1 MI •» dm. Ckrtru doi Safes-
w*Mi. 1 trs. 97 ».
Adraa ArefosIGua-inHartgoiiUloSpMng. ‘AAMdar AOMa-
Uiu« «1 Kfl sofefl* • C*o AtotabaA ab Wa« ud <*o DwtürtM«
d» Frauen, fi PohmMnoi. 7*. 5. An 1969. 17 1 -
Sinn« A/d»s»n / Sion Wo« Kapp <H Ata-MW-aart** daa Paria-
cMf>.n Poflp«fc»«vN’.4.Nov
Uä*o Bar«. 0 « inladott GoschWc«. (WeORfertn. 1563
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04n4uwan. Kflod-oi WfidKt«* du Mumm* Bad 4.
frV«St* 1 n 1566 pn Onjr&Mft*. Pao. 19M ? ).615" |a)
Mi. Slcfmofl *KUu«r*arc4*. n «M . 676 H. |b)
Faneo« BHWf/Ntd>i lab«. . SSdt«ul ftrrinmjf. n Goo-
944 laöca I Gford Bouuü»i (Hg). Krt«r*i WOflatu* Om
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(Wwt^h?|. oJ |1993?|(anjl OnjnaSaag«« Wjuj« o> (Um
U x®a 1964)
u*am« Biag/Cac« laiu. W M M OdioiofMnng doi Ua-
Bö* W MtWria. n: PRC40A. VOt 50. 1M3. 5 «.
Ov3« CON»». CorfUWd conew» • «rtu ittHf a ffMOfrttal
<hcu«** t* f« cuBarha! fflU Sh>mix* S*a>* (Ml
nanoi ad n* ün« a v<t\ r»; t««daf «4 « pUMc ad pom« leo-
d*. 1587. 83-177
Ffegn* G«)er»fS» i A-g«*a Hrnw. Wm Gficttocfttf
mHM. n GuJruv4J«l Krott) I * nj»** WMkk (Hg). IraH»
non 6 -C*friWj 19K.".
CWM Hai-ay. GncHtOM. Grdaf. Garr«. n to-Mia Hm«
(H 3 I VmWOi« ibtnfl. CftMXurWWreu’j. 1987. S. 72 *
KonMfa lla». SoihalM GutTMtN ud uda-uSa G*40to*Ä
n«M,42».
Fdjga Kiuj M^nat BeacTino. FnoatMlfMjrg. Soriaknui. n
0» Agmat Vö 179. 1»l. 645»
d«. Fortuna -Uani4mj4.nP(«KMMffen.t*. 4. Njv isea.75
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ICP« Farroma (Mg). Gosaifedmr^<fiM-,ai4 ad Fiajarpettk.
(WoöRMdn. 1564. 9». «7»
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rrtMbe* I VWen. 19« ffrj Uxad. AfT*na Fa-
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1564.113«.
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JuM MfcMI. FraurCMatn} • Frjorawyng |1*6 • 1971),
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I960).
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1906.5«
Fiar* BarUKMw. CM an leberogerufl. fl P-spe*>
vwiNr.f.ftor 19«. 261
OtdM ScMie. Oer 8e<ag d*r Air»jSMf-$<JiU# u rrarastotMn
Theon. du KJaurta-ÄMt«. x4« U«nMrM Beröetjöe^
der AJM4M1 vc« OM* SM*n»i Mnu. im«. Bertn. 1992
InjrV] Sicü. CM «SM Bou. n BnsOurenaupe 1i» lÄa irt IqraJ
(Hg). A-aOibg at da ScMrt ihOmuU« Scfan ra Kotf.
Harreas I9*\70 • 73 (NatfOu* aut: Erna 409«)
du. O* Anja dr Fiflsin da Frafaf. n Pio«Aig\*c« Ueoe-
KM9MM10) 1 RavdUoi? (Kjl. TuM ai Panwöiaü-, Bas-
sun-us. fUmMOTatoradaMuai BUiri 1991.13 1.
Pascal VwdegunM / Orte. OartM / Bemal Sawor* / Part« Ca-
iMM.AvMMdUrtaidftVMmiKnMen Ucädun* (MMOUU den
cflenas Bnel «yn Scm-u 1990) Tn aB* GraWnen u«d Genos-
ur. TooroiNeTxoltoraHv# (BW). OtUar 1991.
Klaus VaTnm inj GencurranGereuen. &• ni Ein (1993). rt
PTOJ6M9VW6 UeliswlinQedrMn) l BavcMon? (Hj). Tum ajr
PaWton-. Rassama. HerriMo(ijiBrirtds»us«n. Berte. 1991.
271
...erscheint mitte dezember
Thfmfn:
•Luke und Gewalt-
•Interview mit Huidobro(Tupamaros)»
•Theaterstück von Michael Wildenhain»
•Beethovin 2.Teii • Unke Zensuf*
•PlATTEN-UND BUCHKRITIKEN»
•U.V.M.*
ZU BESTELLEN BEI:
AwancaI. c/o LA Z, CwuiiT». 22, 10827 3cniN
AlDnMM CrlT S noch:
Amanu!: Nr. 0; N». 1; N«. 2
Die Geschichte
und die Mühen der Ebenen:
Marxistische Arl»eit ganz unten
in der Weimarer Zeit, im Exil und
nach dem 11. Weltkrieg.
Von der KPD zur
"Kommunistischen Partei Opposition (KPD-O)",
von der "Gruppe Arbeiterpolitik" zur
"Gruppe Arheiterstimme".
Isaac Abusch
Erinnerungen und
Gedanken eines
oppositionellen
Kommunisten
Herausgegeben von Joachim Kowalczyk
ca. 1 60 Seiten, Taschenbuch
DM 19.80/Fr. 20.80/öS 155.-
ISBN 3-929455-1 7-X
Inhalt
»Man muß doch die Menschen zum Kämpfer erzie-
hen-. Über Psychologie und Pädagogik zur Politik;
»Denken und Handeln waren eins«. Zur Lehrzeit; »Die
Partei hat nicht immer Recht«. Erfahrungen in der KPD;
»Und da haben wir einfach weiter diskutiert...«. Freund-
schaft mit August Thalheimer und Heinrich Brandler;
»Wir haben wie de Verzweifelten gearbeitet«. Zur
Organisationsarbeit der KPO; »Die Gewerkschaften
müssen revolutioniert werden«. Fraklionsarbeit in den
Gewerkschaften; »Kennzeichen: Zeitung in der linken
Hand«. Emigration nach Frankreich; -Wieder neu
beginnen«. Rückkehr nach Deutschland; »Ich habe
immer ein gewisses Mißtrauen gegen Moralisten
gehabt«. Über kommunistische Morat »Es gab auch
antisemitische Kommunisten«. Zur jüdischen Frage;
»Das bürokratische System erstickt jede
Eigeninitiative-. Zu DDR, Sowjetunion und Sozialismus
Bitte über unsere Adresse bestellen:
Thomas Gradl
Postfach 910307
90261 Nürnberg.
107
VI. Der gesellschaftliche Antagonismus zwischen Kapital
und Arbeit II: Kommunistische Kritiken an der neuen
Politik der RAF
"wir haben Überlegt, daß cs darum geht, neue bcstimmu ngen für eine politik heraus/ufinden, die tatsächliche Verän-
derungen für dos leben der mcnschcn heule durchsetzen kann und die längerfristig den herrschenden die bcstimmung
über die lebensrealitüt ganz entreißt."
RAF, April-Erklärung
"Es ist grundfalsch und ganz ungcschichtlich. sich die gesetzliche Refonnarbsit bloß als die ins Breite gezogene
Revolution und die Revolution als kondensierte Reform vorzustcllcn. Eine soziale Umwälzung und eine gesetzli-
che Reform sind nicht durch die Zeitdauer . sondern durch das llfew/i verschiedene Momente."
Rosa Luxemburg, Werke, Bd. 1/1, 428
"die /erstemmg des sozialen unter den mensclien (...) bedeutet, daß auf der basis des kapitalistischen Systems, dem
24-siundcn-alltag von leistung und kenkurrenz. den mcnschcn eigene kritcricn geraubt und durch für den Kapitalis-
mus funktionale m erie ersetzt wurden • (...). cs zeigt sich ebran. daß in diesem System alles zur wäre wird.
RAF, Weiterstadl-Erkliirung
"Weshalb kann man behaupten, daß die Theorie des l Waren- /Fetischismus' (...) ein Hindernis bildet (...) für eine
materialistische Theorie der Ideologie und der Geschichte der Ideologien? (...) Wie wir heute /.u wissen begin-
nen, läßt sich ein ideologischer Vorgang (...) nur (...) durch die Existenz und die Funktionsweise echter ideologi-
scher gesellschaftlicher Verhältnisse (juristischer, moralischer, religiöser, ästhetischer, politischer Art usw.) er-
klären, die sich historisch im Klassenkanpf konstituieren. Es sind spezifische gesellschaftliche Verhältnisse, die
sich real von den Produktionsverhältnissen unterscheiden, auch wenn sie durch diese 'in letzter Instanz’ determi-
niert werden. 'Real unterscheiden' will heißen, daß sic sich in spezifischen Praxen realisieren bzw. materialisie-
ren, die von besonderen ideologischen Apparaten abhängen usw.“
Etlcnnc Balibar, in: Theorien des historischen Materialismus, Frankfurt am Main, 1977 293 - 343 (310)
1. ZK der PCE(r), Strategische Neuorientierung oder Das Ende des bewaffneten Kampfes (Juni 1992)
2. Gefangene aus den CCC, Eine nicht zu rechtfertigende Erklärung (Okt. 1992)
3. Bernhard Rosenköttcr / Ali Jansen / Michi Dietiker, "... sag mal wo leiten wir denn ?" (Mai 1992)
4. Michi Dietiker / Ali Jansen / Bernhard Rosenköttcr, Über das Schleifen von Messerrücken (Juli
1992)
108
Zentralkomitee der !‘CE[ r)
STRATEGISCHE NEU-
ORIENTIERUNG oder
DAS ENDE DES BE-
WAFFNETEN KAMPFS
ln ihrer Erklärung vom 10. April gibt die
RAF das Ende ihrer bewaffneten Aktio-
nen mit folgenden Worten bekannt: "Wir
haben uns entschieden, daß wir von uns
aus die Eskalation zurticknchmcn. Das
heißt, wir werden Angriffe auf führende
Repräsentanten aus Wirtschaft und Staat
für den jci/.t notwendigen Prozeß cinstel
len."
Aul diese Weise reagierte die RAF auf
den Kinkel-Vorschlag, die schwerkran-
ken politischen Gefangenen freizulassen
und dies, bei den Gefangenen, die am
längsten in Haft sind, in Erwägung zu
ziehen, wenn diese ausdrücklich auf Ge-
walt verzichten. Die RAF verlangte wei-
terhin die sofortige Freilassung der Haf-
tunfiihigen und die Zusammenlegung für
die anderen. In ihrer Erklärung fragt sich
die RAF. “ob er (Anm.: der Staat) Raum
für politische Lösungen zuläßt - für das
Problem der Gewillt und die anderen
aufkommenden sozialen Konflikte. Sie
sagen weiter "Wir haben von uns aus
jetzt mit der Rücknahme der Eskalation
aus der Auseinandersetzung einen Schritt
gemacht, um diesen politischen Raum
aufzumachen. Jetzt ist die staatliche Seite
gefragt, wie sic sich verhält...". Die Er-
klärung endet mit der Drohung, den be-
waffneten Kampf wieder auf/.unehmen,
wenn der Staat seine repressive Politik
heibehült: "Wenn sie diejenigen, die die-
%en Prozeß für sich in die Hand nehmen,
mit ihrer Walze aus Repression und Ver-
nichtung plattmachen, also weiter auf
Krieg gegen unten setzen, dann ist für
uns diese Phase des Zurücknehmens der
Eskalation vorbei - wir werden uns das
nicht tatenlos anschauen. Wenn sic uns.
also alle, die für eine menschliche Ge-
sellschaft kämpfen, nicht leben lassen,
dann müssen sie wissen, daß ihre Eliten
auch nicht leben kennen. Auch wenn es
nicht unser Interesse ist: Krieg kann nur
mit Krieg beantwortet werden."
Diese neue Position der RAF gründet
sich auf ihrem Handlungsprinzip, der so-
genannten “Westeuropäischen Guerilla-
front”, und diese sei zerbrochen.
Sie schreiben: "Wir waren damit kon-
frontiert, daß die Vorstellung, im ge-
meinsamen internationalen Kampf einen
Durchbruch für Befreiung zu schaffen,
nicht aufgegungen ist." Ihre Selbstkritik
bezieht sich auch auf andere Aspekte ih-
rer politisch/militärischcn Aktionen:
"Wir selbst waren damit konfrontiert, daß
wir so. wie wir in den Jahren vor '89 Po-
litik gemacht haben, politisch nicht star-
ker. sondern schwächer geworden sind."
’89 begann nach ihren
Angaben der Prozeß, der zu ihrer neuen
Position geführt hat. "Als einen zentralen
Fehler haben wir gesehen, daß wir viel zu
wenig auf andere. Cie hier auch aufge-
landen waren, zugegangen sind: und auf
die, die noch nicht aufgestanden waren,
gar nicht.“
"Uns ist klar geworden daß es so
nicht weitergeht. ... wir hatten unsere Po-
litik ganz stark auf Angriffe gegen die
Strategien der imperialistischen Kräfte
reduziert, und gefehlt hat die Suche nach
unmittelbaren positiven Zielen und da-
nach. wie eine gesellschaftliche Alterna-
tive hier und heute schon anfangen kann
zu existieren... Aus unseren Erfahrungen
und aus den Diskussionen mit Genossen
über alle diese Fragen steht für uns heute
fest, daß die Guerilla in diesem Prozeß
von Aulbau nicht im Mittelpunkt stehen
kann...”
Aus all diesen Gründen kommen sie zu
dem Schluß, daß es notwendig ist, "über
unsere Fehler nachzjidenken” und "neue
politische Definitionen" zu suchen.
Die Erklärung hat innerhalb der revolu-
tionären europäischen Bewegung und
speziell in Deutschland einige Verwir-
rung gestiftet. Dazu hat zweifellos die er-
läuternde und verworrene Form - bei
RAF-Erklärungen schon üblich - der Er-
klärung beigetragen, die eigentlich dop-
peldeutig sein soll - was sic für uns aber
keinesfalls ist. Bekanntermaßen hatten
wir schon vor einiger Zeit eine Ausein-
andersetzung mit ihnen, in der wir ihre
falschen Ideen und ihre falsche Art, den
Kampf gegen den Imperialismus zu füh-
ren. kritisierten; eine Kritik, die die RAF
jetzt in ihrer selbstkritischen Bilanz in
gewisser Weise anerkennt.
Aus diesen Gründen, genauso wie in der
Auseinandersetzung damals - betrachten
wir es als unsere internationalistische
Pflicht - zuallererst natürlich gegenüber
unseren deutschen Genossen * noch mal
klar zu sagen, das ihr Weg in die falsche
Richtung führt.
Es ist offensichtlich, daß die Kinkel-In-
itiative implizit auch im Interesse der
deutschen Bourgeoisie gestartet wurde,
nicht nur. um mehr als zwanzig Jahre
bewaffneten Kampf so bald wie möglich
zu beenden, sondern auch, um jede Art
von Widerstand auszulöschen, der im-
stande wäre, ein Ansprechpartner für die
Massen in der jetzigen, generellen Krise
des Kapitalismus zu sein.
Sic wissen sehr wohl über (ihre) ökono-
mischen, sozialen und politischen Pro-
bleme Bescheid und auch Uber die wach-
sende Unzufriedenhat - vor allem in der
Ex-DDR -, die sich auch sehr schnell
verschärfen können, wenn sich die wirt-
schaftliche Krise zuspitzt. Deutschland
eine immer aggressivere Außenpolitik
betreibt und es zu einer inncrimpcrialisti-
schcn Auseinandersetzung kommt - was
mehr als wahrscheinlich ist. In dieser Si-
tuation ist es keinesfalls verwunderlich,
daß der deutsche Staat der RAF einen
Köder auswirft, wobei er ihre augen-
blickliche Schwäche, die Sackgasse, in
der sie sich befindet, und die zentrale
Rolle der Gefangenen für die Bewegung
ausnutzt.
Deswegen scheint uns der Waffenstill-
stand ein großer Fehler zu sein, zumal
wenn wir die Bcgrifflichkcitcn betrach-
ten und das Fehlen einer wirklichen poli-
tischen und ideologischen Linie, auf die
sich Revolutionäre stützen könnten.
Vielmehr macht es der Regierung den
Weg frei, die Liquidation der Bewegung
fortzuführen und zu demonstrieren, daß
jeglicher bewaffnete Widerstand gegen
den Staat nutzlos ist. Genau deswegen ist
cs auch schon fast lächerlich, damit zu
drohen, die bewaffneten Aktionen wieder
aufzunchnien. wenn ihre Fordeiungcn
nicht erfüllt würden.
In der augenblicklichen Situation der
Schwäche und Desorientierung der RAF
halten wir cs für illusorisch, daß das
deutsche Großkapital - oder eine Fraktion
dessen - ein Interesse daran hat. "Raum
für politische Lösungen zu öffnen". Und
noch weniger wird sich die Gcwallfrage
lösen lassen.
Hinter der Kinkel-Initiative, die der deut-
sche Polizeistaat dafür nutzt, sich
"human“ zu zeigen, steht der Gedanke,
falsche Hoffnungen zu wecken und
gleichzeitig die Repression zu verstärken.
Unserer Meinung nach ist das einzige,
was man vom deutschen Staat jetzt er-
warten kann - auch im Hinblick auf die
Ideen und Vorschläge der RAF -. daß er
seine Politik der "Wiedereingliederung
der Gefangenen" schlicht und einfach
fortset/.t, was zu einer wachsenden Re-
pression gegenüber den Gefangenen füh-
ren wird; sozusagen die Anwendung der
"Politik von Zuckerbrot und Peitsche".
Milde für die. die bereuen - Härte (Iso
und Folter) für die "Unverbesserlichen".
Daß dies der Weg dir Regierung ist, hat
sich schon gezeigt, als die Staatsanwalt-
schaft nach der "großzügigen" Offerte
begonnen hat. die Aussagen der reumüti-
gen Ex-Aktivisten aus der fcx-DDK zu
benutzen, neue Prozesse gegen die Ge-
fangenen an/ustrengen. die zu weiteren
langen Haftstrafen führen werden.
Wie die Erfahrung zeigt, werden sich die
Gefangenen der Erpressung durch die
"Gevvaltvcrzichtserklärung" nicht beugen
KW
- aber auch der Staat wird sic keinesfalls
freilassen, sondern die Repression gegen
sie verstärken. So wird sich im Gegenteil
ihre Situation sogar noch verschärfen.
Gewiß, cs geht nicht dämm, auf Ver-
handlungen als Waffe im politischen
Kampf zu verzichten, die es eventuell er-
lauben. dem Stau ein paar Verbesterun-
gen abzuringen, wenn nicht sogar die
Freiheit der politischen Gefangenen.
Aber wenn die RAF jetzt, in einer Positi-
on der Schwäche jeglichen bewaffneten
Widerstand aufgibt und alle möglichen
politischen und ideologischen Konzes-
sionen macht, fuhrt das nicht zum Ende
ihrer Isolierung und ihrer Schwäche,
sondern zeigt, daß cs ohne vorherige Ka-
pitulation keinen Ausweg gibt. Dies ist
nicht gerade ein Beitrag dazu, die revolu-
tionäre Bewegung zu stärken.
In ihrer Erklärung rechtfertigt die RAF
das Ende der bewaffneten Aktionen mit
der Notwendigkeit, einen internen Dis-
kussionsprozeß voranzutreiben und eine
"Gegenmacht von unten" zu bilden. Aber
diese Argumente sind bei näherer Be-
trachtung nichts wert.
Erstens, weil die Erklärung eines Waf-
fenstillstandes das Ergebnis einer Dis-
kussion hätte sein müssen, da sie doch
der ganzen Bewegung die Hände bindet.
Tatsächlich begeht die RAF - bzw. ihre
Führer genau den Fehler, den sic eigent-
lich korrigieren wollte: Sic treffen die
Entscheidungen, die von den anderen be-
folgt werden müssen.
Zweitens, weil es ein Unding ist. eine
"Gegenmacht von unten“ aufbauen zu
wollen, in einem bis an die Zähne be-
waffneten Polizeistaat, der jegliche revo-
lutionäre Bewegung sofort ausradicrcn
will, wie die Geschichte der letzten Jahre
auch gezeigt hat.
Es macht vielmehr Sinn, den bewaffne-
ten Kampf aufrechtzuerhalten - als we-
sentlichen Bestandteil des Kampfes für
den Kommunismus -, nicht nur um die
Konterrevolution zu bekämpfen, sondern
auch vor allem zur Ergreifung der Macht.
Der imperialistische deutsche Staat wird
nicht darauf verzichten, "die unten' aus-
zubeulen und zu unterdrücken, noch wird
er die in Ruhe lassen, "die für eine huma-
nere Gesellschaft kämpfen“. Zu behaup-
ten. etwas anderes könne passieren - ab-
gesehen davon, daß man so albcm ist, zu
glauben, daß die Bourgeoisie als Klasse
eines Tages Harakiri begehen könnte,
zeigt nur. daß es am wirklichen Willen
fehlt, den Kampf gegen das Unrecht und
den Staatsterror weiterzuführen.
Die Ursache für die neue Position der
RAF sei die Einschätzung, daß sich "eine
komplett neue Situation der weltweiten
Kräfteverhältnisse" ergeben habe, als Er-
gebnis der "Niederlage der sozialisti-
schen Staaten”.
Mangels einer genaueren Erklärung
scheint die Ursache für ihren Positions-
wechsel diese neue, plötzliche interna-
tionale Lage zu sein.
Da diese reue Situation für die RAF so
wichtig zu sein scheint, ist es umso er-
staunlicher. daß sie in ihrer Erklärung
nicht genauer darauf eingeht. Wenn sie
dies getan hätte, wäre sic wahrscheinlich
zu dem Schluß gekommen, daß der Zu-
sammenbruch des Ostblocks die inner-
imperialistischen Rivalitäten speziell
zwischen den USA und dem imperialisti-
schen deutschen Staat verstärken würde.
Dann hätte die RAF eine wirkliche Erklä-
rung für dis Scheitern ihrer antiimperia-
listischen Politik gefunden, nämlich die
angebliche Integration der kapitalisti-
schen Staaten und ihrer 'weltweiten
Herrschaft'.
Darüber hinaus ist jetzt nicht der Zeit-
punkt, eine Debatte über das angebliche
"Scheitern des Sozialismus" zu führen;
die RAF bezieht sich darauf, indem sie
die bürgerliche Propaganda übernimmt,
die dazu dient, die Krise des Ausbeu-
tungssystems und den Bankrett des revi-
sionistischen Konzepts zu verdecken.
Um verstehen zu können, warum die
RAF so sehr irren konnte, muß man sich
an ihre Entstehungsgeschichte erinnern
und den damaligen historischen Kontext.
Daher waren wir umso überraschter, daß
diese Phase in der Erklärung überhaupt
nicht vorkommt, obwohl dies der einzige
Weg gewesen wäre, die eigene Ge-
schichte cinzuschätzcn und die eigene
Perspektive klarzukriegen.
Das hätte dazu bcigclragen. die Diskus-
sion transparenter zu machen und mit
den vielen weißen Stellen der Geschichte
aufgeräumt mit denen die deutschen Re-
volutionäre im Augenblick ?u kämpfen
haben.
Deswegen ist es wichtig, sich daran zu
erinnern, caß die RAF von Anfang an
den Marxismus gefordert hat und auch
die Notwendigkeit einer Partei anerkannt
hat, auch wenn sic der Meinung war. daß
in der BRD Ende der sechziger, Anfang
der siebziger Jahre eine Gründung un-
möglich war. da die Situation nach dem
zweiten Weltkrieg und die speziellen Be-
dingungen in der BRD dies nicht zulie-
ßen.
Trotzdem glaubten sie. daß sie im be-
waffneten Kampf die Bedingungen dafür
schaffen könnten. Aufgrund entgegenge-
setzter Faktoren, sowohl internationalen
(Aufstieg des Revisionismus) wie auch
nationalen (Desorientierung -der Arbei-
terbewegung. Einfluß revisionistischer
Strömungen, der Aufschwung der Wirt-
schaft, etc_.). wurden diese Wccn durch
einen zweiten Plan ersetzt.
Wenn dann noch die Gefangennahme
und Tötung eines großen Teils der histo-
rischen Führungskader und die Integra-
tion von unerfahrenen, ideologisch nicht
gefestigten jungen Aktivisten liin/.u-
koninit. kann man sich bc.v'ci erklären,
wie spontanciistischc Ideen Fuß fassen
konnten und die Entwicklung der Theorie
einer antiimperialistischen Front begün-
stigten. die damals schon im Entstehen
war. Daß die RAF jetzt ihre eigenen zu-
letzt verfolgten Prinzipien in Frage stellt,
ist unserer Meinung nach ein wichtiger
Schritt, um die subjcktivistischen und
spontaneiistischen Ideen über Bord zu
werfen und die Strategie neu zu definie-
ren.
Diese Erkenntnis kann die revolutionäre
Bewegung nur stärken, unabhängig da-
von. welchen Weg die RAF tatsächlich
nehmen wird. Denn so werden günstige
Bedingungen dafür geschaffen, die De-
batte zu vertiefen, die Irrtümcr richtig zu
stellen, die Organisation voranzubringen
und eine revolutionäre Strategie und ein
revolutionäres Programm auszuarbeiten,
das die Kampferfahrungen der Arbeiter-
klasse wie auch die des deutschen Volkes
zusammenfaßt. Bei konsequenter Be-
trachtung sind dies unter anderen die
Aufgaben, die die deutschen Genossen
anpackcn müssen, wenn sie ihre Selbst-
kritikemst meinen.
Nichtsdcstotrolz sind wir besorgt, daß die
Suche nach "neuen Definitionen" und
"dem Raum für politische Losungen" zu
einem verkappten Reformismus und in
den Schatten der LcgaStät führen kann,
ähnlich wie bei den lateinamerikanischen
Guerilleros, die sich von der Sozialde-
mokratie haben einfangen lassen.
Daher wäre cs beklagenswert, wenn die
RAF einmal mehr ihren Weg verlieren
würde und sich in dem vom Staat ge-
knüpften Netz verfangen würde.
Trotz alledem vertrauen wir der Bewe-
gung, daß sic in der Lage ist. diese
schwierige Zeit zu überwinden, und daß
aus ihrem Fundus heraus die Leute und
Kräfte kommen, die in der Lage sind, ei-
ne wirklich revolutionäre Organisation
zu schaffen, und die in der Lage sind, ei-
ne Kampfstratcgic für den Kommunis-
mus in Deutschland auszuarbeiten.
Juni 92
110
Didier Chevolet. Pascale Vandegcerde,
Hertrand Sassoye & Pierre Carene
Gefangenenkollektiv der Kämpfenden
Kommunistischen Zellen
Eine nicht zu rechtferti-
gende Erklärung
(Zum Brief der RAF vom 10. April
1992)
Im Frühling dieses Jahres hat die Rote
Armee Fraktion ein wichtiges politisches
Dokument veröffentlicht. In diesem Text
stellt die revolutionäre deutsche Organi-
sation verschiedene Gedanken dar, wel-
che die internationale Situation und die
soziale, militante und politische Lage in
ihrem Land betreffen (mit besonderem
Augenmerk auf die Frage der inhaftierten
Genossinnen und Genossen); sic zieht
eine Art Bilanz ihrer Aktivität und
schließt mit der F.ntscheidung, den be-
waffneten Kampf aefzugeben.
In einer bestimmten Art und Weise hat
uns dieser Schritt nicht überrascht. Seit
langer Zeit verstehen wir nicht mehr, aus
welchen historischen, politischen und
strategischen Analysen die RAF ihre
kämpfende Vitalität schöpfen konnte.
Aber das heißt, daß nne dieser Schluß
besonders verabscheuungswürdig er-
scheint: Er drückt nicht die Eröffnung ei-
ner kritischen und selbstkritischen Über-
legung aus. die auf eine theoretisch-poli-
tische Richtigstellung zugunsten der re-
volutionären Sache bedacht ist. wohl
aber das liqiiidntcrische Resultat des
Prozesses von Abweichung und politi-
scher Degradierung, den die RAF wäh-
rend der zwanzig Jahre ihrer Existenz er-
fahren hat.
Wir wissen, daß vicie Militante der soge-
nannten "antiimperialistischen'' Bewe-
gung in Deutschland es für extrem unan-
gebracht halten, von aufeinanderfolgen-
den Etappen in der Geschichte der RAF
zu sprechen. Trotzdem, wenn man sich
auf den Diskurs und die Praxis der Orga-
nisation seil Anfang der 70er Jahre be-
zieht. ist unbestreitbar, daß die RAF von
1972. 77 oder 82 drei verschiedene, sehr
unterschiedliche Gesichter zeigt.
Ursprünglich bezog sich die Organisation
teilweise auf marxistische Prinzipien und
auf die marxistische Analyse, bewies po-
litische Kreativität und Initiative im revo-
lutionären Kampf. 1977 befand sic sich
auf dem Gipfel sirategisch defensiver
Optionen. 1982 bestätigte sic - durch den
Text " gucritla . widerstand und antiimpe-
rialistische front" - die komplette Preis-
gabe ihrer anfänglichen marxistischen
Referenzen und ihr gänzliches Einschrei-
ben in den Subjektivismus und den Mili-
tarismus. Während der folgenden zehn
Jahre hat sich die RAF immer weiter in
diese Sackgasse rerrannt. Ausgehend
von der sehr auffälligen Proklamation ei-
ner "westeuropäischen Gutrillrfronr
mit A.D. im Jahre 1985 und der nicht
weniger medienwirksamen gemeinsamen
Unterzeichnung einer Forderung mit den
B.R./P.C.C. im Jahre 1988 bis hin zu ei-
ner großen Zahl bemerkenswerter Gucril-
laaktionen (ganz besonders die Exeku-
tion des Treuhand-Chefs. Rohwcddcr).
konnte sich die deutsche Organisation,
mit gutem Willen zwar, nur in verlorenen
Illusionen erschöpfen. Heute scheint die
RAF nicht mehr zu verstehen, gegen wen
sie kämpft und weshalb. Dies ist auf Zeit
unvermeidbar, wenn man den histori-
schen Materialismus und den wissen-
schaftlichen Sozialismus, das Ziel der
Klassenrevolution und der Diktatur des
Proletariats aufgegeben hat.
Das von der RAF im April veröffentlich-
te Dokument und besonders seine
Schlußfolgerung des "Abschieds von den
Waffen “ haben unter der deutschen mili-
tanten Bewegung wichtige Erschütterun-
gen provoziert; sic haben zahlreiche Dis-
kussionen und Stellungnahmen bis auf
internationaler Ebene hcrvorgeiufen. So
hatten wir die Gelegenheit, den sehr zu-
treffenden Beitrag des Zentralkomitees
der P.C.E.(r.) mit dem Titel
"Re plant amiento estrategico o liqui-
dacion? ” (in dieser Broschüre S. Anm.
d. Hg.J zu lesen. Auch wir wollen zu die-
sem Thema beitragen, wenn wir auch die
Verspätung bedauern. Wir denken, daß
es um unsere Verantwortung und politi-
sche Solidarität gegenüber der gesamten
revolutionären Bewegung geht.
Bevor wir zum Inhalt des Dokuments der
RAF kommen, möchten wir einige Worte
zu diesem Brief selbst sagen. Seit vielen
Jahren entwickelt sich in der revolutionä-
ren europäischen Bewegung eine kriti-
sche Debatte. Interessante Beiträge, be-
sonders aus Spanien und Italien, sind im
Umlauf, und von unserer Seite bemühen
wir uns, an dem Austausch mit unseren
bescheidenen Kapazitäten teilzunehmen.
Ein großer Teil der Themen und Analy-
sen dieser Debatte auf internationaler
Ebene bezieht sich besonders auf die an-
ti-marxistischen, süajcktivistischcn und
militaristischen Positionen, welche in er-
ster Linie die RAF seit Anfang der 80er
Jahre vertritt. Nun hat aber, soviel wir
wissen, die RAF es niemals lur sinnvoll
erachtet, diese politischen Kritiken zu
beachten oder sich den Argumenten zu
stellen, auf denen sie basieren. Und der
Brief vom 10. April ignoriert diese noch
immer in großartiger Weise.
Obwohl die RAF heute erklärt, daß ein
Grund des Scheitems ihrer Ideen in der
Tatsache besteht, daß sie sich isoliert hat,
weil sie keine wirkliche politisch-organi-
sche Beziehung mil denjenigen aufge-
baut hat. die sich in die revolutionäre
Perspektive einreihen. Sie ruft zu neuen
Beziehungen, zu neuen gemeinsamen
Diskussionen und Projekten etc. auf.
Aber konkret fährt sic fort, die Debatte
zu verhindern und de Fragen und Ant-
worten so zu formulieren, wie sie alleine
sie versteht. Zum Beweis die folgende
merkwürdige Handlingswcisc: Um bes-
sere Bedingungen für eine Grundüberle-
gung - die sehr weit die militante Bewe-
gung in Deutschland durchzieht - über
den bewaffneten revolutionären Kampf
zu schaffen, gibt die RAF diesen auf.
Anders gesagt, um eine Reflexion über
ein Thema zu begünstigen und dabei die
Richtigkeit der Schlußfolgerungen zu ga-
rantieren. beginnt sic damit, das fragliche
Thema eigenmächtig zu liquidieren. Un-
serer Meinung nach und in diesem be-
sonderen Fall drückt eine solche Hand-
lungsweise keine Suche nach revolutio-
närem Fortschritt aus. sondern zeigt ei-
nen Versuch, im Nachhinein eine Ent-
scheidung zu rechtfertigen, die im Zu-
sammenhang mit anderen, nicht zugege-
benen Interessen getroffen wurde.
Ein anderer Aspekt des Dokuments der
RAF verdient, hervorgehoben zu werden.
Wir haben gehört, daß er sehr verschie-
den verstanden wurde: Einige sehen
darin ein gerissenes taktisches Manöver,
andere die Anerkennung der Unange-
messenheit der revolutionären Gewalt,
etc. Schließlich finden viele darin die
Gelegenheit, sich von dem, worauf sic
gerade Lust haben, zu überzeugen und
ein unendliches und ungenaues Geplau-
der zu betreiben. Wir denken, daß der
RAF in dieser Angelegenheit ein Groß-
teil der Verantwortung zukommt. Seit
langer Zeit entwickelt sie in ihrem Dis-
kurs wie in ihrer Praiis viele Zusammen-
hanglosigkeiten und Verwirrungen, was
ein Zeichen für den unbestreitbaren
Mangel an ideologischer Klarheit ist. So
etwas greift allmählich um sich.
Die konfuse Ausdrucksweise des Briefes
vom 10. April hält einer strengen Ana-
lyse nicht stand. Die allgemeine Position
im gesamten Text läßt weder mehrere In-
terpretationen noch Zweifel zu. Sie ist
weder zweideutig noch unbestimmt, und
daß sie sehr ungeschickt formuliert ist.
reicht nicht, um den ", Abschied von den
Waffen ", den sie in sich birgt, unter ei-
nem Schleier von Ehrenhaftigkeit zu ver-
bergen.
Übrigens müssen wir diesem Dokument
ein großes (aber einziges) Verdienst an-
erkennen: Es beleuchtet die Sterilität des
subjcktivistischcn Vorhabens der RAF
seil zehn Jahren und gibt sic zu. Ach, cs
ist wirklich schade, daß diese Aufklärung
und dieses Zugeständnis nicht aus einer
Annäherung an den Marxismus-Leninis-
mus licrvorgchcn, .»Iso aus einer Entfer-
nung vom Subjektivismus (zum Beispiel
durch eine Ablehnung des Militarismus,
die wir begrüßen könnten), sondern im
Gegenteil aus einer erneuten Demonstra-
tion des Subjektivismus, diesmal im all-
gemeinen Rahmen eines opportunisti-
schen Debakels. Wenn sic sich in die
Überlegungen und Konzeptionen, die in
diesem Brief dargestcllt sind, versteigt,
wird die RAF die revolutionäre Bühne
verlassen und alle politischen und ideo-
logischen Fehler konservieren, die wir
von ihr kennen und die wir bereits kriti-
siert haben - und sie wird diese Bühne
ohne Hoffnung auf Wiederkehr verlas-
sen.
Es geht also darum, präzise und klar über
die verschiedenen Punkte nachzudenken,
die im Dokument vom April angeschnit-
ten wurden. Denn den "Abschied von den
Waffen ", der in diesem Text beschlossen
wurde, politisch und ideologisch zu be-
kämpfen. heißt in erster Linie, den Sub-
jektivismus und seinen Nachfolger, den
Opportunismus, beide in all ihren For-
men zu bekämpfen, seien sic bewaffnet
oder nicht. Ist denn schließlich der aktu-
elle " Abschied von den Waffen " etwas
anderes als die allerletzte und spektakulä-
re Etappe einer langen politischen Ab-
weichung? Stammt der schlimmste Fehl-
tritt, der von der RAF begangen wurde,
nicht aus der Mitte der 70er Jahre, als die
Organisation begann, sich offen vom
Marxismus und einer sicgcsgcwisscn
Strategie loszusagca?
Der Brief vom 10. April beginnt mit ei-
ner Art lascher strategischer Rcflexi-
on/Bilanz. Es ist die Rede vom Scheitern
der von der RAF in den letzten Jahren
entwickelten Strategie, aber nichts von
den Urhebern des Kampfes, der Art der
Auseinandersetzung, der kurz- oder lang-
fristig angc.slrcblcn Ziele etc. wird näher
bestimmt. Es ist immer nur die Rede von
"wir", von der "kraft, die wir gegenmacht
von unten genennt haben", einer
" gesellschaftlichen alternative hier und
heute ", "um befreiung kämpfen ", was
eher ungenügend ist um eine ernsthafte
revolutionäre strategische Reflexion an-
zustellen. Jedoch ist dies tur die KAh
vollkommcn ausreichend, um der An-
sicht zu sein, ihre Erfahrung zeige, daß
"die guerilla in diesem prozeft (wir ver-
muten, daß es sich um den revolutionä-
ren prozeß handelt ] (...) nicht im mittel-
punkt stehen kann". Noch selbstkritischer
präzisiert die RAF sogar, daß "gezielt
tödliche aktionen (...) die gesamte Situa-
tion alles, was in den anßtngen da ist
und für alle (...) eskalieren .”
Dieser erste Teil setzt sich in einem
zweiten fort.
Das berühmte "alles, was in den anfän-
gen da ist und für alle, die auf der suche
sind " impliziert "als ganz wesentlichen
teil den kampf für die freiheit der politi-
schen gefangenen ", Nach Meinung der
RAF eine in bestimmtem Maße glaub-
würdige Perspektive. Der Justizminister
hätte sich tatsächlich zum Repräsentan-
ten einer Fraktion der Bourgeoisie ge-
macht. die verstanden hat, daß sie die so-
zialen Widersprüche nicht durch Repres-
sion lösen kann. Sich stillschweigend an
diese aufgeklärte Fraktion wendend, fügt
die RAF der Liste noch andere Forderun-
gen hinzu: Die Gefängnisse müssen an-
gemessen sein, alle müssen Uber einen
Wohn- und Lcbcmraum verfügen, die
Bürger der Ex-DDR müssen über eine
Selbstbestimmung verfügen, der herr-
schende Diskurs darf nicht mehr rassi-
stisch sein etc. etc.
Das Dokument endet mit einem drittem
Teil, dessen Naivitit und Logik zu den-
ken geben: Die Antwort, die der deutsche
Staat auf diese Forderungen gibt, wird
zeigen, ob der politische Reformismus
praktikabel ist oder nicht! Und darauf
bedacht, diesen Schritt, der ebenso platt
reformistisch wie anmaßend ist und ge-
münzt auf den "prizess von diskussion
und aufhau". zu schützen, kündigt die
RAF an, ihre ” eskalation " aufzugeben.
Aber Vorsicht, wenn der Staat seinerseits
den besagten Prozeß nicht ernst nimmt,
nun, dann wird die RAF besagte Eskala-
tion wieder aufnehmen ... obwohl diese
einige Abschnitte weiter oben als, strate-
gisch unheilvoll bftrachtet wurde. Der
letzte Satz des Briefes schließt mit einer
überwältigenden Redekunst: "auch
wenn es nicht unser Interesse Ist (wir
unterstreichen diesj; krieg kann nur mit
krieg beantwortet werden". In etwa ist
dies Rache bis zum Tod.
Es ist seit langem offensichtlich, daß der
Hauptfehler der RAF in ihrer Fehlein-
schätzung - ihrer Ablehnung? - des histo-
rischen Materialismus besteht. Beispiel-
haften Mut und revolutionäre Selbstauf-
opferung verbinden die deutschen Ge-
nossinnen und Genossen mit einem uner-
schütterlichen Subjektivismus. Leider
reichen Heroismus und Hingabe nicht
aus, um den revoluiionären Erfolg zu ga-
rantieren. Die Revolution ist nicht nur
eine Sache von Personen und des guten
Willens. Sic ist ein historisches Phäno-
men, das auf die objektiv sozial Bestim-
menden antwortet.
Es wäre höchste Zeit für die RAF, über
diese wesentliche Dimension des revolu-
tionären Kampfes nachzudenken und ihre
1 1 1
allgemeinen Vorhaben, ihre Analyse der
objektiven Realität, ihr Verständnis der
historischen Mechanismen, ihre strategi-
schen und taktischen Auffassungen, ihre
kurz- und langfristigen Ziele etc. dar/.ulc-
gcn. Kurz, all das. was traditionsgemäß
abhängig aus einer Plattform, aus Thesen
und aus einem Organisationsprogramm
hervorgeht. Wer könnte denn ohne dies
jemals überhaupt wirklich und genau
wissen, was die RAF denkt und will?
Wie könnte die RAF selbst wissen, was
sic denkt und will? Wie könnte sie ihren
Kampf organisieren und führen?
Was für einen Sinn hat es. von revolutio-
närer Strategie zu sprechen ohne über-
haupt klar definiert zu haben:
- was die konkreten Vorhaben des revo-
lutionären Prozesses sind (z.B. was denkt
die RAF von der Diktatur des Proleta-
riats. vom sozialistischen Aulbau?)
- was darin der Hauptgegenstand ist (z.B.
was denkt die RAF über das Proletariat?
Wie definier, sie es? Welche Rolle er-
kennt sie ihm zu?)
- wie dieser sich entwickelt (z.B. wie
geht die RAF das Problem der objektiven
und subjektiven Bedingungen des revolu-
tionären Prozesses an? Die Rolle der Par-
tei?). Dies ist unserer Meinung nach die
erste Arbeit, die die RAF zu leisten hätte
und die sie der deutschen revolutionären
Bewegung und dem deutschen Proletariat
unterbreiten müßte.
Die RAF stellt ehrlich fest, daß sie sich
in der Sackgasse befindet. Sie hringt für
diese Sachlage verschiedene Erklärungen
vor, die uns nur ihre Schwäche in der
Analyse zu zeigen scheinen. Zuerst der
Zusammenbruch des Revisionismus und
das aktuelle Debakel des ehemaligen
Ostblocks in der innerimpcrialistischen
Auseinandersetzung ... Aber wer konnte
noch glauben, daß diese Länder - in ir-
gendeiner Art - Träger einer authenti-
schen Dynamik oder eines authentischen
revolutionären Einflusses waren? Dar-
aufhin das Scheitern des Projekts, "im
gemeinsamen internationalen Kampf ei-
nen durchbruch zur befreiung zu schaf-
fen"... Wenn cs um anti-impcrialistischc
Bewegung in der Drillen Well geht, so
weicht sic seit bald fünfzehn Jahren zu-
rück. und wenn es um die illusorische
" Westeuropäische Cucrillafront" geht, so
hat sie nur durch dai journalistische Sen-
sationsbestreben gelebt.
So sehr wir also mit dem Schluß, den die
RAF gezogen hat, übereinstimmen, daß
nämlich der revolutionäre Kampf sich
nur auf den objektiven sozialen Bedin-
gungen eines jeden Volkes gründen
kann, so sehr glauben wir auch, daß sic
in diesen besonderen Fall eher zu diesem
Schluß gekommen wäre, hätte sic einfach
einen Klassenstandpunkt eingenommen
oder den Reichtum an Analyse und Er-
112
fahrung der Internationalen Kommunist!-
sehen Bewegung siudicn.
Dies ist ein Punkt, der umso entschei-
dender ist, als de Richtigstellung, die
von der RAF vorgenommen wird, mit ei-
ner Abweichung einhergeht, die ihr jeden
Vorteil ruiniert. Wenn sic ihr Hirnge-
spinst der internationalen "Front" auf-
gibt. indem sic sich der nationalen sozia-
len Realität zuwendet, so hat die RAF bei
der gleichen Gelegenheit ihren revolutio
nären Grund und ihre politisch-militäri-
sche revolutionäre Verantwortung als
Avantgarde preisgegeben.
Wir haben bereits weiter oben in unserer
Kritik auf das Fehlen einer allgemeinen
Definition seitens der RAF hingewiesen,
ein Fehlen von Bezugnahmen, das einen
wirklichen politischen Austausch prak-
tisch unmöglich macht. Das Problem
taucht wieder auf, wenn man entdeckt,
daß die RAF unbekümmert das revolu-
tionäre Ziel aufgibt und gelassen ihre
Avantgarderolle (und Gott weiß, wieweit
sic diese Rolle 1972 für die gesamte re-
volutionäre Bewegung der Metropolen
ausfülltc ... bis zu dem Punkt, an dem sie
(die RAF. A.d.Ü.) noch heute deren Aura
auskostet!) austauscht gegen ein Mitläu-
fertum in der " alternativen ” Bewegung.
Der wirkliche Inhalt der von der RAF im
Moment vertretenen Positionen ist der
folgende: Weil sie ihre militaristischen
Illusionen sich nicht erfüllen sah, sucht
die RAF eine neue Art. mit dem
“ alternativen " Sumpf zu fusionieren, ei-
ne Fusion, nach der sie offen seit 1982
strebt. Damals - die Sache mußte stau-
finden. indem der Sumpf liquidiert
wurde - schrieb die RAF zu diesem
Thema in "guerilla widerstand und anti-
imperialistische front": "da ist nichts
mehr von sysiemveründerung und
'alternativen modelten' im Staat, sic sind
nur noch skurril ." Zehn Jahre später sind
die Militanten der RAF für die gleiche
Sache bereit, die Liquidierung ihrer Or-
ganisation anzubieten. Dies ist das logis-
che Ergebnis ihrer frontistisch-stratcgi-
schen und gegen die Partei gerichteten
Abweichung. Anstitt sich mit Unabhän-
gigkeit und Bestimmtheit an die Avant-
garde des revolutionären Kampfes zu
halten, dadurch, daß:
- eine Selbstkritik und eine offensive
Neuorientierung auf der Basis des Mar-
xismus-Leninismus vorgenommen wer-
den;
- die Strategie und die Taktik, die zur Er-
hebung des allgemeinen Niveaus des
Kampfes In Deutschland notwendig sind,
angenommen werden;
- mehr und mehr kämpferische Proleta-
rier und Revolutionäre mobilisiert, rekru-
tiert und organisiert werden, etc.; beab-
sichtigt die RAF eher, sich in der margi-
nalen Masse aufzulösen und vor den ak-
tuellen Wünschen und Grenzen des
' alternativen " Sumpfes zu kapitulieren.
Natürlich muß die revolutionäre Organi-
sation niemals von den (proletarischen!)
Massen abgeschnitien sein, aber dies darf
sic niemals dahin führen, auf ihre politi-
sche Unabhängigkeit zu verzichten und
sich von einer autonomen Aktivität los-
zusagen.
Nun können wir im Dokument vom April
lesen, daß die RAF das Problem ihrer
Rolle und ihres Einflusses mit den fol-
genden Worten darstellt: “wir halten un-
sere politik ganz sterk auf angriffe gegen
die Strategien der 'Imperialisten reduziert
und gefehlt hat die Suche nach unmitte-
lbaren positiven zielen und danach, wie
eine gesellschaftliche Alternative hier
und heute schon anfangen kann zu exi-
stiere tu" Was bedeutet das? Daß, weit
davon entfernt, die Kritik anzunehmen,
die schon hundert Mal an der "anti-anti"-
Strategie der " antiimperialistischen"'
Strömung geübt werde, deren militaristi-
scher Fahnenträger sie war ("unsere Stra-
tegie ist es, gegen ihre Strategie zu sein"
etc.), die RAF die Konstruktion und die
Struktur einer starken kommunistischen
Bewegung nicht als "positives Vorhaben"
betrachtet. Dahingegen erscheint die vul-
gärste Art von Reformismus, der als
" positiv " nur diejenigen Ziele ansicht, die
kurzfristig und im kapitalistischen Sy-
stem erreichbar sind den Augen der RAF
als die verlockendste strategische Option.
Und der vollkommene Opportunismus
setzt dem Ganzen die Krone auf: Hört
man nicht, daß die RAF darauf bedacht
ist. "eigene soziale werte in ihren alltag"
derjenigen sich entfalten zu lassen, die
Ihr nahcstchcn? UnJ dann noch, daß sie
beabsichtigt, sich umzustcllcn auf eine
"zeit, in der es für alle, um ein sich-fin-
den auf neuer grundlagc geht ~? Der re-
volutionäre Prozeß verlangt also keinen
Prozeß der Aneignung von Klassenbe-
wußtscin mehr? Ist es also nicht mehr die
Verantwortung der Revolutionäre, dieses
Bewußtsein aufrechtzucrhaltcn und da-
durch der Aneignung durch die Bildung
zu dienen - gegen die Entfaltung einer
"Spontaneität“, die unvermeidlich nach
den Kategorien der herrschenden Ideolo-
gie gestaltet ist?
Mit ihrem Brief vom 10. April verstärkt
die RAF früher als erwartet ihren philo-
sophischen Idealismus und ihren politi-
schen Subjektivismus. Betrachten wir
nun ihren Standpunkt und ihre konkreten
Projekte im Rahmen der aktuellen sozia-
len und politischen Situation in Deutsch-
land. Die RAF ist der Meinung, daß sie
einer "gesellschaftlichen alternative hier
und heute" keine Aufmerksamkeit ge-
schenkt hat. Eine Alternative, die, so
glaubt man, griflbereit ist, denn "... daß
das hier möglich ist, daß es geht, so et-
was anzufangen, haben uns die erfah-
rungen, die andere erkämpft haben, ge-
zeigt". Weiter noch präsentiert die Orga-
nisation eine Liste von sozialen Refor-
men, die zu verwirklichen sic den Staat
auffordert. Wir denken, daß all dies von
einem phänomenalen Unverständnis der
Wirklichkeit herrührt.
Zuerst die Frage nach einer "alternative"
zur Gesellschaft; worum handelt es sich?
Es handelt sich um eine zwangsläufige
Randposition. Ein Rand, der nur von
Kleinbürgern oder deklassierten Elemen-
ten besetzt werden kann. Wie können
diese Kategorie und ihr Rahmen - spezi-
fische Bestrebungen und Interessen - ei-
ne zu verallgemeinernde revolutionäre
Entwicklung bilden' 1 Die Revolution ist
eine Sache sozialer Klassen, "hier und
heute" eine proletarische Sache. Die Re-
volution hat nichts mit einer Alternative
zur Gesellschaft innerhalb der Gesell-
schaft zu tun. aber alles mit einer Um-
wandlung der Gesellschaft, der gesamten
Gesellschaft. Die An. mit der die bürger-
liche Macht gelegentlich auf die beson-
deren Forderungen des alternativen
Sumpfes eingehen kann, ist mit dem
Klassenwiderspruch, der die ganze Ge-
sellschaft durchzieht, nicht zu verglei-
chen. Sich auf den Erfolg beim ersten
Mal zu beziehen, um vorzugeben, daß
andere ebenso erreichbar sind, ist ganz
einfach irrig. Würde man jemals die
Bourgeoisie sehen, wie sie die Interessen
der Unterdrückten einräumt oder vertei-
digt? Es ist absurd, sich so etwas vorzu-
stellen, weil diese Verteidigung eben
über die Eliminierung (und nicht die
"alternative“ Ausrichtung) der Bourgeoi-
sie und ihres sozialen Systems geschieht.
Der philosophische Idealismus und der
opportunistische Subjektivismus der
RAF haben sie dahin geführt, zu glauben,
daß die bürgerliche Macht frei sei zu tun,
was sic wolle, und daß sic sogar für eine
Art rationalen, überlegenen Verstand zu-
gänglich sei. Zu ihrer Liste sozialer Ford-
erungen erklärt die RAF, daß die Ant-
wort, welche die Mscht erbringt, zeigen
wird, "wie weit hier ein politischer raum
für lösungen erkämpft werden kann".
Aber wer könnte jemals glauben, daß es
intcrklassistischc Losungen für den Kapi-
talismus, seine antagonistischen Wider-
sprüche. für den Anstieg der Ausbeutung
und die durch seine Krise induzierte so-
ziale Degradierung gibt? Die Bourgeoisie
hat nicht die Wahl zwischen einer aus-
gleichenden Intelligenz und einer
"provozierenden und draufgängerischen"
Haltung; sie ist die herrschende Klasse
im Kapitalismus, die aus der kapitalisti-
schen Ausbeutung Profil zieht und diese
verteidigt, - eine Klasse, die weder etwas
anderes sein, noch außerhalb des Rah-
mens ihrer eigenen Gesetze handeln
1 13
kann. Wenn es eine Lösung für die Wi-
dersprüche gäbe, die den Kapitalismus
unterminieren und dazu führen, daß er
gestürzt wird, wenn cs intcrklassisiische
Lösungen für die ökonomische Krise gä-
be. glaubt die RAF nicht, daß die bürger-
lichen Herrscher diese nicht längs: ent-
deckt und angewandt hätten?
Was bleibt in dem neuen Schritt der RAF
vom dialektischen materialistischen Ver-
ständnis der Geschichte, vom wissen-
schaftlichen, aufrichtigen Veitrauen in
die revolutionäre Zukunft? Nichts, ein-
fach nichts. Wenn man den deutschen
Genossinnen und Genossen glaubt, wäre
das kapitalistische System von innen her
reformierbar, dazu würde ausreichen, daß
die Bourgeoisie dies versteht, - und na-
türlich macht es nichts, wenn dies ihren
eigenen Interessen entgegensteht. Die so-
zialen Reformen wären zu allen Zeiten
erreichbar, von dem Augenblick an, in
dem die Bourgeoisie die Intelligenz dafür
besäße (oder muß man ihr vielleicht hel-
fen?); der soziale Frieden wäre zu allen
Zeiten erreichbar, von dem Augenblick
an. in dem die Bourgeoisie den Willen
dazu besäße (idem)! Schließlich faßt die
RAF nun den Kapitalismus als ein Pro-
dukt der Bourgeoisie auf und nicht die
Bourgeoisie als ein Produkt des Kapita-
lismus.
Ein spezieller Punkt verdient, gesondert
behandelt zu werden. Es handelt sich um
die Frage der Gefangenen und eventuel-
ler Entlassungen oder Haftverbesserun-
gen. Wir denken, daß wir bei diesem
Thema äußerst vorsichtig sein müssen.
Die taktischen Manöver sind häufig kom-
plex und können nur mittels der gesam-
ten Kenntnis aller ihrer Verhältnisse ri-
chtig bewertet werden; auch enthalten
wir uns jeglicher kategorischer Beurtei-
lung. Trotzdem verstecken wir unsere
Verwirrung nicht und wollen einige
Überlegungen darlcgcn.
Wir denken natürlich, daß es nicht unwe-
sentlich ist. sich um die Entlassung der
Genossinnen und Genossen zu bemühen,
und daß cs richtig ist. daß eine kämp-
fende Organisation alle Möglichkeiten
und Gelegenheiten zu diesem Zweck aus-
schöpft. also auch die Verhandlung,
wenn sic glaubwürdig ist. Aber zu kei-
nem Zeitpunkt kann dies auf Kosten des
Kampfes, seiner Zukunft und seiner
grundlegenden Vorhaben geschehen. Der
revolutionäre Kampf verursacht zwangs-
läufig eine Repression: der revolutianäre
Sieg wird immense Opfer erfordern, dies
ist ein historisches Gesetz und sich davor
vorrangig zu schützen suchen, führt
zwangsläufig zur Aufgabe des Kampfes.
Der Justizminister habe Anfang des Jah-
res angekündigt, die Entlassung einiger
sehr lang Inhaftierter oder Gefangener,
deren Gesundheitszustand sich ver-
schlechtert habe, sei in Betracht zu zie-
hen. In Wirklichkeit nichts Beweiskräfti-
ges. im Gegenteil, perfider Diuck auf die
geweckte Hoffnung. Analysiert die RAF
klar die Situation? Überschätzt sie in die-
sem Fall nicht ihre Kraft, ihr Gewicht?
Wird sie nicht dorthin gelenkt, wohin zu
lenken sie glaubt?
Daß eine bürgerliche Fraktion, die
euphorisch ist. weil sic denkt, sic habe
noch einmal die Grundlagen eines
" Tausendjährigen Reiches' gelegt
(diesmal heißt es "Neue Weitordnung")
die sich humanistischem unJ - publi-
kumswirksamem! - Sanftmut gegenüber
einer Handvoll erfahrener Genossinnen
und Gcnosien hingibt, darf nicht mit ei-
nem defensiven Rückzug des Feindes
verwechselt werden. Im Gegenteil! Übri-
gens, soviel wir wissen, ist der Minister
damit beschäftigt, die Repression gegen
andere Gefangene zu verschärfen
(besonders dank der Kollaboration ein-
maliger Militanter, heute Kollaborateure,
die in der F.x-DDR festgenommen wur-
den). Die - verbale - Eröffnung von Kin-
kel, beabsichtigt sic schließlich etwas
anderes, als eine noch grausamere Re-
pression gegen diejenigen zu rechtferti-
gen. die ihre Ideen und ihre kämpferische
Integrität behalten? Ist sie nick* eine Täu-
schung. um die authentischen revolutio-
nären Kräfte zu schwächen? Ist sie nicht
ein wirkungsvoller Betrug, dci schon Re-
sultate zeigt, weil man feststellt, daß er
die RAF schon dahin gefühlt hat. ihre
Sache, ihre Unabhängigkeit und ihre
Waffen am Rande des Sumpfes zurück-
zulassen? Für vage, barmherzige Ver-
sprechungen, die schon durch eine re-
pressive Verschärfung dementiert wur-
den, hat die RAF nicht gezögert, öffent-
lich ihr Erbe von zwanzig Jahren des
Kampfes zu liquidieren.
Wir werden jetzt schließen. Wir hoffen,
daß der Brief vom 10. April nicht die Ge-
danken aller deutschen Genossinnen und
Genossen und besonders der Gefangenen
wiedergibt, die sicher nicht erfreut dar-
über sind, daß man dem Preis, den sic
zahlen, die Negation ihres politischen
Engagements und die Liquidierung ihrer
Organisation hinzufügt. Der Weg der
RAF ist sei; ihren Ursprüngen so gewun-
den. daß es schwierig ist. den Gedanken
zu akzeptieren, daß alle mit jeder einzel-
nen seiner politischen Windungen direkt
verbunden waren. Wir hoffen, daß - ist
die Rauchwolke einer konfusen Formu-
lierung einmal aufgelöst - die Genossin-
nen und Genossen der RAF Kenntnis von
der subjektivistischen und opportunisti-
schen Natur der Positionen nehmen wer-
den. die sie in ihrem Dokument vom
April vorgebracht haben; daß sie es als
einen Fehler auf ihrem Weg anschcn. cs
als null und nichtig betrachten und
schließlich die realen Probleme meistern
werden, die sich ihrer Organisation und
der deutschen revolutionären Bewegung
.stellen. Und dies auf einer wirklich re-
volutionären Grundlage, die den selbst-
kritischen Verstand verbindet mit dem
Willen, den Reichtum der Internationalen
Kommunistischen Bewegung, der im
Marxismus-Leninismus zusammengefaßt
ist. in seinem Wert zu erkennen und zur
Geltung zu bringen.
Anfang der 70er Jahre hat die RAF im
Wiederaufbau der europäischen revolu-
tionären Bewegung eine unschätzbare
und unersetzbare Rolle gespielt. Auch
wenn zum Ende dieser Jahre immer
schwerere Fehler gemacht wurden, ver-
gessen wir niemals, wie viel wir ihr
schulden, ihr und ihren heldenhaften
Gründerinnen und Gründern, die auf Be-
fehl desjenigen Staates massakriert wur-
den. mit dem zusammenzuarbeiten der
Brief vom 10. April einlädt ... Wir haben
genug Vertrauen in die Dynamik der
deutschen revolutionären Bewegung, um
eine energische Reaktion gegen diese
verheerende und nicht zu rechtfertigende
Erklärung abzuwarten, gegen den Prozeß
der politischen und ideologischen Ab-
weichung, dem sie die Krone aufsetzt
und hoffen, daß die Militanten der RAF
ihren alten und ruhmvollen Platz in den
ersten Rängen der europäischen revolu-
tionären Bewegung wieder einnchmcn
können.
Für die Einreihung der Roten Armee
Fraktion in die Erfahrung der Interna-
tionalen Kommunistischen Bewegung,
dio im Marxismus-Leninismus zusum
mengeraßt ist!
Ehrenvolle Erinnerung an die Genos-
sinnen und Genossen, die im Kampf
und in den Gefängnissen getötet wur-
den!
Ehrenvolle Erinnerung an die Genos-
sen vom Kommando Martyr Halymch,
die in Mogadischu getötet wurden!
Es lebe der proletarische Internationa-
lismus!
17. Oktober 1992
114
Bernhard Rosenkötter, Ali Jansen. Mi-
chael Dietiker
"...sag mal, wo leben wir
denn?"
Briefe zur April-Erklärung der RAF
Mit dem Folgenden wollen wir einige
grundsätzliche Überlegungen in die Aus-
einandersetzung um die Erklärung der
Genossen und Genossinnen aus der RAF
vom 10.4.92 cinbringen.
Wir stehen dabei vor dem Widerspruch,
daß cs uns einerseits unter den Nägeln
brennt, so schnell wie möglich Stellung
zu beziehen, daß aber andererseits die ei-
gentlich nötige Ausführlichkeit und Ge-
nauigkeit einer solchen Stellungnahme
eine intensive Arbeit erfordert, die wir in
der notwendigen Schnelligkeit gar nicht
leisten können. Zumal wir immer noch in
verschiedenen Knasten hocken und all
unsere Diskussionen nur mühsam schrift
lieh führen können.
Weil wir jetzt aber auf keinen Fall den
viel zu oft gemachten Fehler wiederholen
wollen, aus diesem Dilemma heraus zu
spät oder gar nicht zu reagieren, haben
wir beschlossen, zwei Briefe aus der
Diskussion mit unseren Genossen und
Genossinnen draußen zu veröffentlichen.
Das kann natürlich nur der Anfang sein.
Bernhard Rosenkötter. Ali Jansen. Mi-
chael Dietiker
Gefangene aus dem antiimperialistischen
Widerstand
Butzbach/Schwalmstadt, Mai 92
liebe
nun also mal zum zur zeit alles dominie-
renden thema. weißt du, was mir selbst
beim ersten und nun wirklich noch flüch-
tigen lesen des briefes vom 10.4 sofort
wie 'ne heiße ncdel unter die haut ging,
das war diese oberflächliche, sich selbst
und damit auch seine eigene geschichtc
nicht ernst nehmende und (nun, ich sag
mal) lieblose art, in der dieser bref so
runiergcschricbcn worden ist. daß an die-
ser in jeder hinsicht ja wirklich sehr
wichtigen crkläring richtig intensiv gear-
beitet worden ist, sie darüber tage, Wo-
chen und diskutiert, überlegt, disku-
tiert ... haben, einmal bevor sie sich ans
schreiben machten und dann noch einmal
bevor sie den text dann wirtlich abge-
schickt haben, das vermittelt dieser brief
eigentlich in keiner zeile. mir zumindest
nicht, auch das jetzt nachgcschobcnc
■ps” vom 14.4. macht das m.M.n. deut-
lich, ist Ictztcndlich aber praktisch nur
noch sowas wie das pünktchen auf dem i.
da ich nicht weiß, ob cs dir in dieser hin-
sicht ebenso geht, will ich dir an zwei
kurzen und m.M.n. sympKimatischen
briefpassagen versuchen deutlich zu ma-
chen, was ich damit meine.
"uns ist klar geworden .... und dass es so
nicht weitergeht, dass wir als gucrilla
alle entscheidungen allein treffen und die
anderen sich an uns orientieren, wir ha-
ben das zwar oft anders formuliert, aber
die realitäi war so. " - steht auf Seite 2 ih-
res briefes.
"wir, die ruf. haben seil 89 engefungen,
verstärkt darüber nachzudenten, und zu
reden, dass es für uns wie für alle, die in
der brd eine geschichte im widerstand
haben, nicht mehr so weilergehen kann
wie bisher, wir haben überlegt, dass es
darum geht, neue bestimmungen.... " -
schreiben sie auf seitc 1 des gleichen
briefes.
auf der einen Seite zu sagen, cs geht
nicht, daß wir alle entscheidungen allein
treffen, sich alle an uns orientieren, auf
der anderen scitc ohne vorherige breite
diskussion gleich für alle, die in der brd
eine geschichtc im widerstand haben,
nicht nur nachzudenken, sondern auch
entscheiden zu wollen, ob cs so wcilcr-
gcht oder nicht, das ist einfach nur noch
grotesk, leider ist der brief aber nicht nur
das!
wie du dir sicher vorstellen kannst, in
den vergangenen 2 wochen habe ich die
letzten 8 oder 10 jahre noch ein weiteres
mal sehr gründlich für mich revue passie-
ren lassen und ich kann mich auch da-
nach nur nochmal wiederholen: dieser
text ist so etwas wie der logische und
auch beinah zwangsläufige schlußpunkt
einer langjihrigen fehlentwicklung: einer
sehr oft problematisierten und auch aus-
führlich kritisierten fehlentwicklung. und
offensichtlich wird jetzt noch ein weite-
res mal, daß die vcrfasscr/innen des brie-
fes sich mit der kritik an ihnen, an ihrer
analyse und praxis nie ernsthaft auscin-
andergesetzt haben.
kurz, vorab, damit da keine missverständ-
nisse aufkommen können: ihre cntschci-
dung. die eskalation zurückzunehmen,
die ist natürlich richtig, zu kritisieren ist
dabei nur. daß sie sich in ihrer erklänrng
nicht mit der cntwicklung hin zu ihrer
weitgehenden reduktion auf ''gezielt
tödliche aktionen" auseinandersetzen;
mit einer cntwicklung, in der sic angriffc.
die nur in besonderen ausnahmefällen le-
gitimiert sein können, zu etwas beinah
normalen verkommen ließen denn die
dieser cntwicklung zugrunde Hegende art
und weise, in der sie die realität und
machtstrukturcn in der imperialistischen
gesellschaft wahmahmen und
"analysierten“, wiederholen sic jetzt nur
noch ein weiteres mal. indem sie völlig
unreflektiert ins gegenteil verfallen:
"justizminister kinkel hat mit seiner an-
kiindigung im januar, einige haftunfähi-
ge gefangene und einige von denen, die
am längsten im knast sind, freizulassen,
das erste mal von staatlicher seite offen
gemacht, dass es fraktionen im apparat
gibt, die begriffen haben, dass sie wider-
stand und gesellschaftliche Widersprüche
nicht mit polizeilich-militärischen mittein
in den griff kriegen, gegen die gefange-
nen haben sie seit 20 jahren auf Vernich-
tung gesetzt, die kinkel-ankündigung
wirft die frage auf, ob der Staat dazu be-
reit ist, aus dem ausmcrz-vcrhältnis, das
er gegenüber allen hat. die für ein
selbstbestimmtes leben kämpfen, die sich
nicht der macht des geldes beugen, die
eigene interessen und ziele entgegen dem
profuinteressen formulieren und umsei-
Zen, also ob er raum für politische lösun-
gen zuläßt (und wenn auch Vertreter aus
der Wirtschaft dahingehend druck auf die
regierung machen, kann das nur gut
sein)."
wer sowas denkt und schreibt, der hat
sich von der dringend notwendigen rc-
bonstmktion revolutionärer polilik verab-
schiedet, der sucht Zuflucht im reformis-
mus.
aber weißt du. beinah ist das ja sogar ein
wenig verständlich, genossen/innen, die
jahrelang falsche und völlig unbegründet
euphorische "analysen" zum ausgangs-
punkt ihres knmpfes machten, die den
Imperialismus in politische agonie verfal-
len sahen, die interventionsmögüchkeiten
des staates/des kapitals für beendet
wähnten und von "entscheidungschlacht"
redeten, die müssen natürlich im momen-
tanen siegeszug des iir.perialisinus ver-
zweifeln. ihre Zuflucht im reformismus
suchen — zumindest müssen sie das so-
lange. wie sie sich nicht auf eine kriti-
sche aufarbeitung der letzten jahre ein-
lassen. sie nicht in den Vordergrund ihrer
anstrengungen stellen, aber nein, sie ha-
ben sich auch jetzt nicht verändert, d.h.
ihre irt “polilik" machen zu wollen ist
die gleiche wie vor 6, 7 oder 8 jahren ge-
blieben. unter dem druck der globalen
entwicklung haben sich nur die ergeb-
nisse verändert, und korrespondierend
zur analyse und praxis aus den letzten
jahren ist Ictztcndlich daher auch der ge-
samte brief vom 10.4. verfasst worden,
mcnsch muß sich das mal vor äugen hal-
ten: statt zu realisieren, daß kinkel er-
kannt hat. daß die weitere von der politik
eingeklagte inhaftiening von günter,
bemd und z.b. auch irmgard (20 jahre...)
kontraproduktiv zu werden droht und ein
ständiger nicht zu kalkulierender mobili-
sicrungsfaktor ist, und er deswegen eine
völlig unverbindliche pantius-pilatus-in-
itiati\e startete (und wie zu erwarten war,
plötzlich erinnern sich diese herren wie-
der an die Unabhängigkeit der staats-
schutzsenate der obcrlandcsgcrichtc). da
erkennen die illegalen darin eine ent-
115
Wicklung, in der sich politische lösungen
nicht nur für uns politische gefangenen
abzcichncn. sondern gleich auch für alle.
“die für ein selbstbestimmtes leben
kämpfen, die sich nicht der macht des
geldes beugen, die eigene interesser. und
ziele entgegen den profitinieressen for-
mulieren und umsetzen" und das kapital
macht gleich auch noch dahingehend
druck.... sag mal. wo leben wir denn?
nun ich laß das für heute erstmal so ste-
hen und setz mich jetzt nicht auch noch
mit dem restlichen brief auseinander,
grundsätzlich werden wir aber daran
nicht vorbeikommen,
zum abschluß noch ein zitat aus dem be-
schluß des olg (der 2/3 ablehnung):
"der senat hat davon abgesehen, eine
Sperrfrist gemäß § 57 abs. 6 STGB für
die Stellung eines erneuten antrags fcst-
zusetzen. im hinblick auf die dem senat
nach dem anhönmgstermin bekannt ge-
wordene. der raf zugeschriebenc crklä-
rung vom 10.4.1992. in der auch der ver-
uitciltc namentlich erwähnt worden ist.
kann nicht ausgeschlossen werden, daß
der verurteilte sich in naher Zukunft den
dort angekündigten gewaltverzicht zu ei-
gen macht und damit eine neue beurtei-
lungsgrundlage schafft.”
lieber....,
was du von der atmosphäre der letzten
zeit schreibst, diese mischung aus Unsi-
cherheit wie was gemeint ist. und Unver-
ständnis kann ich mir gut vorstellen —
leider, daß es in einer Situation wie heute
keine "fertigen antworten" gibt, ist klar
(die gibt es in Wirklichkeit nie), aber das
problem ist, daß zu den ganzen brennen-
den fragen scheinbar nirgendwo wenig-
sten klare grundhaltungen formuliert
werden, die den jeweiligen einschttzun-
gen zugrunde liegen, dabei ist auch das
jetzt von existentieller bcdcutung. ich
kann dazu nur sagen, wie wir das sehen,
das in kinkeis "versöhnungs-offensivc“
(treffender begriff, hab ich aus einem ra-
dio-kommentar) drinstecken würde, uns
als politische ge%ner anzuerkennen, den-
ken wir überhaupt nicht, im gegenteil:
kinkeis eigene Interpretation seines
schlagworts macht deutlich: er hat
"Versöhnung” damit erklärt, daß sich
schließlich auch die juden mit den deut-
schen versöhnt hätten! wohlgemerkt, in
dem bild sind raf. widerstand und gefan-
gene die nazis und bundesregierung und
kapital sind "die juden". was da drin-
stcckt. ist also, uns mit dem terrcr der
nazis gleichzusetzcn, sich als unschuldi-
ges opfer zu gerieren und uns aus der real
überlegenen machtposition heraus
“anzubictcn", wir dürften uns schimcn,
"entterrorifizieren" und reumütig bessern,
natürlich muß es trotzdem darum gehen,
dieses veränderte staatliche kalkiil zu
nutzen für die durchsetzung von Zusam-
menlegung und frcilassung. aber Voraus-
setzung dafür ist, daß wir ihrem kalkül
mit einer klaren und offensiven grundpo-
silion gegenübertreten, die crklärung
vom 10.4. hat da genau gegenteilig ge-
wirkt: seither steht auch bei den staatlich
gewollten vorzcigc-cntlassungen das
"abschwören von der gewalt" noch viel
betonter im Vordergrund, wir halten es in
der Situation fUr notwendig, ein paar
(eigentlich:) Selbstverständlichkeiten
deutlich und offensiv zu formulieren,
zum beispiel einfach mal klar feslzustcl-
len, daß cs eine "gewaltfrage' im sinne
von "ja oder nein" überhaupt nicht gibt,
es gibt lediglich die frage nach dem ziel,
was ich damit meine ist. daß der staut
den gewaltverzicht ja nicht aus Pazifis-
mus fordert, sondern im gegerceil die an-
erkennung seines gewaltmcnopols --
sprich, der Staat ist der einzige, der ge-
walt anwenden darf, was sonst ist denn
golfkrieg, autobahnbau. Wohnungsnot,
wozu dient miliütr, bullen-, justiz- und
knastapparai. wenn nicht zur gezielten
ausübung von gewalt? oder anders: zum
staatlichen gewaltverständnis der brd ge-
hört die feier des 20 . juli. also eines be-
waffneten attentats gegen einen staat-
schef. der gcwaltfragc muß also entge-
gengehalter. werden, daß es erstmal nicht
um gewalt an sich geht, sondern darum,
mit welchem ziel welche gewalt ange-
wandt wird, und daraus ergeben sich erst
die kritcrien. ganz plump gesagt, die
herrschenden setzen zur Verteidigung ih-
rer ausbeutungsintcrcsscn untcrdrückeri-
schc gewalt ein, und dagegen richtet sich
der revolutionäre kampf. so kommts
dann vom köpf auf die füßc. ein ende
von gewalt setzt also die abschaffung der
herrschenden Verhältnisse voraus,
natürlich ist das so arg simpel ausge-
drückt. dazu ist in jeder hinsicht noch
sehr viel mehr zu sagen, aber es hleiht
trotzdem die grundlage. und so wäre es
möglich eine position zu formulieren, die
die staatliche abschwör-forderung als
entlassungsbedingung zurückweist,
statt aber von der grundlage aus zu ar-
gumentieren, bleibt die erkllmng vom
10.4. auf eine ganz verheerende weise in
genau diesen fragen unklar und wider-
sprüchlich. einerseits wird das scheitern
einer bestimmten politik fcstgcstcllt und
die hoffnung auf eine einächtige, zu
"politischen lösungen" bereite staatliche
politik ausgedrückt, andererseits wird die
Unversöhnlichkeit der ziele betont ("von
allein werden sie an keinem punkt zu-
rückweichen"). zu der deshalb notwendi-
gen eigenen stärke wird aber nichts wei-
ter gesagt, als die drohung, dann die Poli-
tik fortzusetzen, deren scheitern zuerst
festgestellt worden war.
das isi unserer meinung nach aber kein
zufall und auch kein einzelner fehler, es
ist auch nicht nur absurd. sondern ist
ausdnick von Unklarheiten und rehlem.
die schon ziemlich lange die antiimperia-
listische politik (nicht nur der raf) kenn-
zeichnen. ich kann das auf die schnelle
hier nur stichwortartig anreißen, aber es
ist einfach existentiell notwendig, diese
auseinandersetzung endlich zu führen,
wenn wir die problemc jemals knacken
wollen.
und damit ist auch schon der erste punkt
benannt, nämlich die fehlende bereit-
schaft zur kritischen und selbstkritischen
diskussion der jeweiligen politischen be-
stimnung und politischen praxis. die
obigen "Selbstverständlichkeiten" zur
frage der gewalt heißen ja nichts anderes,
als daß revolutionäre piaxis dem ziel ent-
sprechen muß. daß das revolutionäre ge-
walt nie was selbstverständliches werden
kann, daß sic ein höchstmaß an Verant-
wortlichkeit verlangt, wie weit eine pra-
xis. die sich immer mehr' auf "gezielt
tödliche aktionen” gegen einzelne reprä-
sentanten beschränkt, diesen anforderun-
gen entspricht, also im grund die erste
frage nach selbstreflektion für revolutio-
näre politik überhaupt, war beinah in der
gesamten antiimperialistischen linken
zumindest in den letzten 10 jahren kein
thema. fast alle kritik und beinah alle
versuche, solche auscinandcrsctzungcn
anzugehen, sind im plumpen Pro-Contra-
Schetna erstickt worden, zwischen Zu-
stimmung und "counter” gabs für kriti-
sche Weiterentwicklung kaum platz, darin
hat sich eine im grnnd zutiefst unkriti-
sche. unrevolutionäre denkweise etab-
liert, die aus allem nur die clcmcntc hcr-
auszupft. die die "an sich" gut und richtig
sind oder sonst gerade in den kram pas-
sen. und das, was ursprünglich "nur" ge-
gen kritik immunisiert hat, führt jetzt da-
zu. selbst mit staatlichen angriffen wie
der kinkel-initiative genauso umzugehen,
so stehen dann plötzlich hoffnungen auf
den staatlichen willen zur "politischen lö-
sung" unvermittelt und unvereinbar ne-
ben dem wissen um die unvcrsöhnlich-
keit der ziele, auf genau derselben ebene
lief seit langem die auseinandersetzung
mit revolutionärer gewalt. die kritik an
der konkreten bestimmang einzelner ak-
tionen wurde sofort zur grundsatzfrage
gemacht: wer kritisiert, stelle den be-
waffneten kampf in frage, vom notwen-
digen und in seiner bestimmung ständig
genau zu reflektierenden kampfmittcl
wurde der bewaffnete kampf so zur ge-
sinnungsfragc: und die ebene der "gezielt
tödlichen aktionen' zur bestimmung re-
volutionärer politik schlechthin, und des-
halb kriegt jetzt auch die "an sich" ja völ-
lig richtige entscheidung, eine ganz spe-
zifische ebene von praxis so nicht mehr
116
fortzuset/en, diesen unklaren und schwer
faßlichen tcigcschmack von
"beendigung".
aber in der erklärung vom 10.4. fehl! ja
nicht nur ein versuch der analyse der ei-
genen entwicklung. ja cs nicht mal die
frage danach aufgeworfen, vielmehr wird
als grund für die Veränderung an erster
stelle der Zusammenbruch des rcalsozia-
lismus genannt!
durch den Zusammenbruch des realsozia-
lismus hat sich natürlich die gesamte in-
ternationale läge völlig verändert, und
natürlich bedeutet das für die nationalen
befreiungsbewegungen einen harten
schlag und ganz veränderte strategische
aussichtcn. auch die gesellschaftlichen
widersprüche in der brd sind durch den
ddr-anschluß massiven Veränderungen
ausgesetzt, und sicher muß die kinkel-in-
itiative auch vor dem hintergrund gese-
hen werden, daß die herrschenden sich
jetzt auf neue, in ihrem ausmaß noch
ganz unvorhersehbarc probleme erstel-
len und sich deshalb ein paar unfunktio-
nal gewordene "altlasten" vom hals
schaffen wollen, aber mit den fragen an
die bestimmung revolutionärer politik
hier und an die rolle des bewaffneten
kampfs hat das ziemlich wenig zu tun.
die fragen stellen sich auch nicht erst seit
1989.
natürlich ist die politik der raf von an-
fang an internationalistisch bestimmt, im
Zusammenhang mit dem weltweiten
kämpf der befreiungsbewegungen anfang
der 70er jalire. die Sowjetunion / der real-
sozialismus hat darin aber allenfalls eine
mittelbare rolle gespielt, als zwar strate-
gischer aber insgesamt trotzdem passiver
faktor im internationalen kräfteverhält-
nis. dieser internationalistische hinter-
grund war zudem nur ein teil, der andere
teil war die Situation in der brd, die da-
von gekennzeichnet war. daß eine breite
Protestbewegung immer deutlicher in ih-
re grenzen stieß und für die weiterfüh-
rung der globalen antiimperialistischen
offensive eine Überwindung dieser gren-
zen (gerade) auch in den metropolen
notwendig wurde, durch den zerfall und
die integration der 68er-bewcgung hat
dann crstmal zwangsläufig die interna-
tionalistische bestimmung eine ganz be-
sondere rolle für die revolutionäre linke
in der brd eingenommen, aber spätestens
in den 80er jahren wurde das zur Verein-
seitigung insofern, als sich die politische
analyse immer mehr auf die Untersu-
chung und bewertung der imperialisti-
schen planspiclc und Strategien icduzicit
hat, die entwicklung in der brd einzig aus
diesen blickwinkcl wahrgenommen
wurde, und die Veränderung gegenüber
den anfänglichen bestimmungen wurde
vielleicht überhaupt nicht mehr realisiert,
ganz sicher aber wurde sie nicht mehr
Michi Dietiker /Ali Jansen (von 1970 -
81 Gefangener aus der RAF ) / Bern-
hard Rosenkötter - Gefundene aus dem
antiimperialistischen Widerstand
Über das Schleifen von
Messerrücken
"Es gibt keine völlig neue Arbeit, am
wenigsten als revolutionäre; die alte wird
nur klarer wcitergefühit, zum Gelingen
gebracht. Die älteren Wege und Formen
werden nicht ungestraft vernachlässigt,
wie sich gezeigt hat."
(Emst Bloch, Erbschaft dieser Zeit. Ffm
1985, S. 146)
Die Weiterentwicklung revolutionärer
Politik verlangt eine nüchterne Einschät-
zung der Lage und die genaue Analyse
der Entwicklung, die ihr zugrunde liegt.
Das gilt grundsätzlich und jederzeit.
Die nüchterne Einschätzung für den anti-
imperialistischen Kampf in der BRD
heißt augenblicklich Niederlage - das ha-
ben wir mit allen Teilen der Linken, nicht
nur der revolutionären gemein.
Es geht bei dieser Feststellung nicht um
das Schaffen von Nestwärme dadurch,
daß wir quer durch die Fraktionen bei der
gesellschaftlichen Einsamkeit wenigstens
die Niederlage gemeinsam haben. Es
geht dabei erst recht nicht um die Kon-
sumcntcnhaltung, bei nicht zufriedener
Leistung die eigene Praxis und Ge-
schichte einfach wegzuschmeißen und
nach etwas prickelnd Neuem zu suchen.
Es geht auch nicht einfach um Fehlersu-
che. Denn das wirkliche Begreifen von
Fehlem und das produktive Lernen dara-
us setzt das Wissen darum voraus, was
wann warum und wie gelaufen ist. Das
Ziel der Auseinandersetzung liegt darin,
die richtigen und wcitcrzucntwickelnden
Momente hcrauszufmden, die Gründe zu
erkennen, aus denen sie sich nicht entfal-
ten konnten (hier geht es dann auch um
die vermeidbaren Fehler), und aus dieser
Erkenntnis ihre aktuelle Bedeutung zu
bestimmen. Erst so wird sie nützlich für
die Rekonstruktion revolutionärer Politik
- und dieses Interesse ist schließlich die
Grundlage der gemeinsamen linken Dis-
kussion!?!
Die gegenseitige Versicherung über die-
ses Ziel sollte erlauben, von dem kurzfri-
stigen Klammem an nachträgliche
Selbstvergewisserungen abzulassen - ei-
ne Haltung, deren Wiederholung Georg
Fülbcrth in " nachgerade klassischer
Welse " bei Thomas Ebcruiami entdeckt:
"Ich weigere mich ja zu sagen, daß unse-
re Hoffnung, die Einkreisung der Metro-
polen möge mit unserer Mitwirkung ge-
lingen, reiner Spinnkram war, sondern
ich versuche einen Blick auf unsere Bio-
eraohie und Geschichte zu behalten, der
diskutiert, sondern sie wurde als quasi
gradlinige fortcntwicklung unterstellt,
und jetzt schlügt das ganz einfach um
bzw. setzt sich mit umgekehrten Vorzei-
chen fort, an die stelle der imperialismus-
stratcgic-arsdysen treten die innergcscll-
schaftlichen widersprüche, genauso ver-
einseitigt und auch ohne darin die ent-
wicklung der eigenen praxis und die Ver-
änderungen der eigenen bestimmung zu
untersuchen.
klar ist nur eins: auf die art werden auch
noch die letzten grundlagcn revolutionä-
rer politik verlorengchen,
ich laß cs mal bei diesen kurzen und sehr
stichwortanigen bemerkungen. aber cs
macht vielleicht schon mal deutlich, wo
wir die cckpunkte (Ür die genauere aus-
cinandcrsetzung jetzt und für die aufar-
beitung der gcschichte sehen - als unbe-
dingt notwendige Voraussetzung, wenn
wir uns unsere politische geschichte
nicht rauben lassen und der rekonstnikti-
on revolutionärer politik und gcschichte
arbeiten wollen.
noch sieht, daß es einige Jahre lang
wirklich auf des Messers Schneide stand,
welche Kräfte sich in der Welt durchset-
zen" (Ehermann. konkret fi/92).
Unter der Überschrift “Auf des Messers
Rücken" schreibt Fülbcrth (konkret
8/92): "Es ist zu prüfen, ob das stimmt,
und dabei sollte man vielleicht bis 1917
zurückgehen. ... Wes wie des Ende des
Kapitalismus aussah. war nur seine - zu-
gegeben: konvulsivische - Umgruppie-
rung ... Auf des Messers Schneide aber -
dies wissen wir erst im Nachhinein -
stand dabei nicht."
Diese Einschätzung ist zweifellos richtig.
Fraglich ist aber, welche Schlußfolge-
rung zu ziehen ist. Bei Fülbcrth ist cs die
Richtigkeit der " prinzipiellen Opposition
gegenüber einem System, dessen mögli-
cher Sieg nicht seine moralische Recht-
fertigung bedeutete. ... Es handelt sich
um eine Frage der Wertung, welche ei-
ner gleichsam wissenschaftlichen Sortie-
rung in Fatsch und Richtig nicht zugäng-
lich ist. Fehlerhaft war die Einschätzung
des Kräfteverhältnisses, doch auch eine
andere Prognose hatte an der Stellung-
nahme von Linken nichts geändert."
(ebd.).
So lassen sich immerhin schon einmal er-
reichte Kriterien dafür retten, was falsch
ist an einer ausschließlichen Konzentra-
tion auf den "sozialen Prozeß" in der Mc-
tropolengesellschaft und auf die Suche
nach “politischen Lösungen von unten".
Das kann aber nicht genügen, ebensowe-
nig wie die Feststellung von Karl-Heinz
Dell wo. daß cs "eine historische und mo-
ralische Legitimation (gibt), hier in die-
ser Gesellschaft der i bewaffneten Kampf
geführt zu haben" (konkret 6/92). Die
Richtigkeit der Stellungnahme und die
Legitimität der politischen Praxis sind
nur die Voraussetzungen für die wesent-
liche Frage: die Frage danach, was an der
konkreten Praxis nicht nur legitim,
sondern politisch richtig war, und was
heute politisch richtig ist!
I
Am Ende des Celler Interviews läßt sich
Thomas Ebermann zu dem Ausruf hinrei-
ßcn: "Ute berettschajt zur Konsequenz
muß unbedingt verteidigt werden gegen
die Propaganda, daß der Erfolg das al-
leinige Kriterium für politisches Handeln
sei" (konkret 6/92). Nachdem er kurz zu-
vor die kollektive Haltung von uns Ge-
fangenen gegenüber dem staatliche ge-
forderten Abschwür-Ritual als
~tm taktisch" qualifiziert hat, bleibt offen,
was daran Selbstkritik ist und was Tribut
an vermeintliches Märtyrertum. Richtig
ist jedenfalls, daß der Erfolg keineswegs
das einzige Kriterium für politische Pra-
xis ist.
Das von Fülbcrth für alle Teile der Lin-
ken festgestellte Fehlen einer Gesamt-
strategie heißt nicht, daß das Pochen auf
richtige Elemente nur ein Klammem an
Einzelstücke als Erkennungswimpel sein
muß.
Zumindest in den letzten 25 Jahren hat
keine Gruppen der Linken hier auf der
Grundlage einer umfassenden Gesamt-
strategie operiert, es gab überall nur mehr
oder weniger fundierte Analysen, vor-
rangige Kriterien, darauf aufbauende
Einschätzungen und Haltungen. Die Op-
tion auf die organisierte Arbeiterbewe-
gung oder auf grüne Reformpolitik be-
ruhte kaum auf einer Gcsamtstrategic. die
diesen Namen verdient hätte. Der be-
waffnete Kampf und der antiimperialisti-
sche Widerstand waren die Konsequenz
aus bestimmten Erfahrungen und Ein-
sichten. waren als notwendig erkannter
Vorstoß und Versuch der Eroberung von
neuem Terrain unter den veränderten Be-
dingungen der spätkapitalistischen Me-
tropolcngcscllschaft - auf einer Grund-
lage, die ursprünglich sehr vielmehr um-
faßt hat als den weltweiten Kampf der
Befreiungsbewegungen.
Was cs bedeutet, unseren heutigen
Standort auf dem Messerrücken festzu-
stellen. ist eine gcschichtsphilosophischc
Frage: Ihre Beantwortung hängt davon
ab, welche Entwicklungsgcsctzlichkcitcn
das Umdrehen des Messers bewirken
könnte. Wollen wir ans der Ungewißheit
dieser Frage nicht auslicfcm. geht es
darum herauszufinden, welche Elemente
der eigenen Geschichte wir zur Bearbei-
tung des Messerrückens scharf machen
können - und da gibt es sicherlich mehr
als die "Bereitschaft zur Konsequenz",
die "historische und moralische Lcgiti-
mation" und die grundsätzliche Richtig-
keit der Parteinahme.
Voraussetzung dafür ist allerdings die
etwas genauere Kenntnis unserer Ge-
schichte. Bisher kommt sie in der Aus-
einandersetzung, wenn überhaupt, nur
merkwürdig schemenhaft und cingeebnet
vor.
Auch der Begriff der Niederlage hatte
mal einen weniger tabuisierten Klang:
"die subjektive Seite der dialektik von re-
volution und konterrevolution: das ent-
scheidende ist, dass man zu lernen ver-
steht. durch den kampf für den kampf.
aus den siegen, aber mehr noch aus den
fehlem, aus denflipps, aus den niederta-
gen, das ist ein gesetz des marxismus.
kämpfen, unterliegen, nochmals kämp-
fen, wieder unterliegen, erneut kämpfen
und so weiter bis zum endgültigen sieg,
das ist die logik des Volkes," schrieb Hol-
ger Meins 1974 in einem Brief aus dem
Knast.
Ein solches Verständnis braucht nicht
den Glauben an ein« Situation auf Mes-
sers Schneide. Es steht dazu sogar in ei-
nem gewissen Widerspruch, denn cs geht
aus von einem zähen, langandauemden.
schwierigen Kampf, in dem auch jeder
wirkliche Fortschritt mit Rückschritten
und Niederlagen verbunden ist. Tatsäch-
lich waren die Gründe für den Aulbau
der Roten Armee Fraktion auch wesent-
lich andere: Die politische Bestimmung
Pur die Aufnahme des bewaffneten
Kampfes und für die Organisierung der
Illegalität war in erster Linie aus den Be-
dingungen in der BRD und West-Berlin
entwickelt.
Die Vorstellung von einer auf Messers
Schneide stehenden "instahilität des im-
perialisischen Systems " wurde von der
RAF erst 1982 im sogenannten Mai-Pa-
pier zu einer grundlegenden und strate-
giebestimmenden Einschätzung erklärt -
ohne dort allerdings die Unterschiede
und Widersprüche zu den anfänglichen
Einschätzungen und Bestimmungen zu
thematisieren. Daß solche späteren Ver-
schiebungen heute als immer schon be-
stehende Grundlagen erscheinen können,
zeigt daß unsere Geschichte auch eine
Geschichte der nicht geführten und ver-
hinderten Diskussionen ist. Wenn wir
uns also unsere "politische geschichte
nicht rauben lassen wollen”, heißt das
auch, sic uns gegen die selbstverschulde-
ten Einebnungen zuriickzucrobcm.
11
Um das anfängliche Selbstverständnis
der RAF zu skizzieren (und von da aus
die späteren Veränderungen und Ver-
schiebungen anzudeuten), müssen wir
zunächst ein wenig ausholcn. Selbstver-
ständlich waren die weltweiten Kämpfe
der Befreiungsbewegungen von Anfang
an der Hintergrund für den Kampf in der
Metropole. Im "Konzept Stadtgucrilla“
schreibt die RAF 1971 zu ihrem Selbst-
verständnis: "Der sozialistische Teil der
Studentenbewegung nahm, trotz theoreti-
scher Ungenauigkeit • sein Selbstbe-
wußtsein aus der richtigen Erkenntnis,
daß die revolutionäre Initiative im We-
sten auf die Krise de: globalen Gleichge-
wichts und auf das Heranreifen neuer
Kräfte in allen Ländern vertrauen kann."
Das war der Hintergrund, vor dem sich
damals die gesamte Linke weltweit be-
wegte. Aber die konkrete Bestimmung
ihrer Politik entwickelte die RAF aus der
Situation hier: "Die Rote Armee Fraktion
leugnet... ihre Vorgeschichte ah Ge-
schichte der StuderJenbewegung nicht,
die den Marxismus-Leninismus als Waffe
im Klassenkampf rekonstruiert und den
internationalen Kontext für den revolu-
tionären Kampf in den Metropolen her-
gestellt hat. ... Was Stadlguerilla machen
kann, hat die Studetenbewegung teil-
weise schon gewußt. Sie kann die Agita-
tion und Propaganda, worauf linke Ar-
beit schon reduziert ist, konkret machen.
Das kann man sich für die Springerkam-
pagne von damals erstellen und für die
Cabora Bassa Kampagne der Heidelber-
ger Studenten, für die Hausbesetzungen
in Frankfurt..." (Konzept Stadtguerilla).
Es war also nicht die internationale Si-
tuation, sondern in erster Linie die Ent-
wicklung der Studentenbewegung und
der Apo, die den bewaffneten Kampf in
der BRD auf die Tagesordnung setzte. Im
sogenannten Organisationsreferat des
SDS von Rudi Dutschkc und Hans-Jür-
gen Kralil hieß cs schon 1967: "Die Agi-
tation in der Aktion, die sinnliche Erfah-
rung der organisierten Einzelkämpfer in
der Auseinandersetzung mit der staatli-
chen Exekutivgewalt bilden die mobili-
sierenden Faktoren in der Verbreiterung
der radikalen Opposition und ermögli-
chen tendenziell einen Bewußtseins-Pro-
zeß für agierende Minderheiten inner-
halb der passiven und leidenden Massen,
denen durch sichtbare irreguläre Aktio-
nen die abstrakte Gewalt des Systems zur
sinnlichen Gewissheit werden kann. Die
'Propaganda der Schüsse' (Che) in der
'Dritten Welt' muß durch die
‘Propaganda der Tot' in den Metropolen
ven'ollständigt werden, welche eine Ur-
banisierung ruraler Guerillatätigkeit ge-
schichtlich möglich macht. Der städti-
sche Guerillero in der Organisator
Schlechthinniger Irregularität als De-
struktion des Systems der repressiven In-
stitutionen ."
Die Studentenbewegung selbst war aber
nicht in der Lage, diese Vorstellungen
auch wirklich umzusetzen. "Die Studen-
tenbewegung zerfiel, als ihre spezifisch
studentisch-kleinbürgerliche Organisati-
onsform, das 'Antiautoritäre Lager’ sich
ab ungeeignet erwies, eine ihren Zielen
angemessene Praxis zu entwickeln, ihre
Spontaneität weder einfach in die Betrie-
be zu verlängern war noch in eine funkti-
onsfähige Stadtguerilla, noch in eine so-
zialistische Massenorgan bation "
(Konzept Stadtgucrilla).
In dieser Situation mußte es darum ge-
hen. den bereits zum Vorschein gekom-
menen richtigen Kern aufzugreifen und
ihn in einer anderen Form weiterzuent-
wickeln. "Die Linken wußten damab,
daß es richtig sein würde, sozialistische
Propaganda im Betrieb mit der tatsäch-
lichen Verhinderung der Auslieferung
der Bild-Zeitung zu verbinden. Daß es
richtig Wäre, die Propaganda bei den
Gis. sich nicht nach Vietnam schicken zu
lassen, mit tatsächlichen Angriffen auf
Militärflugzeuge für Vietnam zu verbin-
den. die Bundeswehrkampagne mit tat-
sächlichen Angriffen auf Nato-Flughä -
fen..." " Stadtguerilla zielt darauf, den
staatlichen Herrschaftsapparat an ein-
zelnen Punkten zu destruieren, stellen-
weise außer Kraft zu setzen, den Mythos
von der Allgegenwart des Systems und
seiner Unverletzbarkeit zu zerstören "
(ebd.).
Für diese Aufgabe aber war die illegale
Organisierung notwendig - auch als Kon-
sequenz aus den Erfahrungen der Bewe-
gungen in anderen Mctropolenstaaten.
"Das Schicksal der Black Panther Partei
und das Schicksal der Gauche Proletari-
enne dürfte auf jener Fehleinschätzung
basieren, ... (die) nicht realbiert, daß
sich die Bedingungen der Legalität
durch aktiven Widerstand notwendiger
weise verändern und daß es deshalb
notwendig bt, die Legalität gleichzeitig
für den politischen Kampf und für die
Organisierung von Illegalität auszunut-
zen und daß es fabch bt. auf die Illegali-
sierung durch das System ab Schicksals-
schlag zu warten, weil Illegalisierung
dann gleich Zerschlagung bt und das
dann die Rechnung bt, die aufgeht"
(ebd.).
Das hieß jedoch nicht, daß nur die Illega-
lität das "echte" Kampfterrain wäre: “Wir
sugen nicht, daß die Organisierung ille-
gal bewaffneter Widerstandsgruppen le-
gale proletarische Organisationen erset-
zen könnte und Einzelaktionen Klassen-
kämpfe und nicht, daß der bewaffnete
Kampf die politbche Arbeit im Betrieb
und im Stadtteil ersttzen könnte. Wir be-
haupten nur, daß das eine die Vorausset-
zung für den Fortschritt und Erfolg des
anderen bt~ (ebd.).
Die Stadtgucrilla sollte als Fraktion der
Bewegung fungieren; als diejenige Frak-
tion. die im Zusammenwirken mit ande-
ren Fraktionen der Bewegung die Orga-
nisierung des bewaffneten Kampfes und
den Aufbau der Roten Armee vorantreibt
- als Rote Armee Fraktion. ' Unser ur-
sprüngliches Konzept beinhaltete die
Verbindung von Stadtguerilla und Basb-
arbeit. Wir wollten, daß jeder von uns
gleichzeitig im Stadtteil oder im Betrieb
in den dort bestehenden sozialistbchen
Gruppen mitarbeitet, den Diskussions-
prozeß mit beeinfußt, Erfahrungen
macht, lernt. Es hat sich gezeigt, daß das
nicht geht. Daß die Kontrolle, die die po-
litbche Polizei übet diese Gruppen hat,
ihre Treffen, ihre Termine, ihre Dbkus-
sionsinhalte, schon jetzt so weit reicht,
daß man dort nicht sein kann, wenn man
auch noch unkontrolliert sein will. Daß
der Einzelne die legale Arbeit nicht mit
der illegalen verbinden kann" (ebd ).
Das war die Situation 1970/71. Die Stu-
dentenbewegung wir an eine Grenze ge-
stoßen, und cs ging darum, durch Trans-
formation der bereits angelegten richti-
gen Momente diese Grenzen zu überwin-
den.
118
III
Die Genossinnen und Genossen, die nur
wenige Jahre später in die Illegalität ge-
gangen sind, machten diesen Schritt be-
reits aus einer sehr veränderten Situation.
"Wir wollten für die Linke einen Raum
schaffen, die Illegalität, in dem du erst
mal Subjekt sein kannst - politisches
Subjekt, das zum Angriff kommt", sagt
Karl-Heinz Dellwo im konkret-Interview
- der Unterschied zu den im "Konzept
Stadtguerilla" formulierten Bestimmun-
gen ist offensichtlich. Die politischen
Bedingungen hatten sich stark verändert.
Apo und Studentenbewegung hatten den
Sprung über ihre Grenzen nicht ge-
schafft. Was 70/71 noch an gemeinsamer
Bewegung vorhanden war, hatte sich
aufgelöst in K-Gruppen und reformisti-
sche Integration. Der Entschluß zum
Aufbau der Stadtgucrilla war auch eine
Antwort auf diese schon absehbare Ten-
denz, die in selbstverschuldete Bedeu-
tungslosigkeit führen mußte, "wenn die
Avantgarde selbst die Frage nicht be-
antwortet, wie die politische Macht des
Proletariats zu erlangen, wie die Macht
der Bourgeoisie zu brechen ist, und
durch keine Praxis darauf vorbereitet bt,
sie zu beantworten" (Konzept Stadtgue-
rilla).
Es war die richtige Antwort in dieser Si-
tuation, obwohl auch die bewaffnet
kämpfenden Gruppen den Zerfall der
Bewegung letztlich nicht aufhalten konn-
ten. Gleichzeitig und durch diese Ent-
wicklung begünstigt, nahm die staatliche
Repression massiv zu und konzentrierte
sich zwangsläufig auf die im Vergleich
zu den "Bewegungszeiten" leichter über-
schaubaren revolution'iiicn Kräfte. Stau
des Kampfes als Fraktion mußte cs ohne
die Bewegung nun darum gehen, die be-
gonnene Organisierung der Illegalität al-
leine voranzutreiben; die Genossinnen
und Genossen, die den Schritt in die Ille-
galität mit all seinen Konsequenzen ge-
macht hatten und die. die in den Knästen
saßen, nicht einfach im Stich zu lassen
und das neu eroberte Terrain der Illegali-
tät für künftige Mobilisierungen zu hal-
ten.
Natürlich hat sich in dieser Situation
auch das Selbstverstandnis der RAF ver-
ändert. Angesichts des Zerfalls der Apo
und der damit wesentlichen Bezugspunkt
innerhalb der Metropolengcscllschaft trat
der internationalistische Bezugspunkt
stärker in den Vordergrund. Gleichzeitig
verschob sich auch das Verhältnis zum
Staat: Von der im Rahmen einer breiten
politischen Mobilisierung bestimmten
bewaffneten Aktion zur direkten Kon-
frontation. die sowohl durch verschärfte
Repression und die Verfolgung draußen
bedingt war als auch durch die ganz kon-
krcie Notwendigkeit, die Gefangenen aus
den Kndstcn zu holen. Eine Notwendig-
keit. die Uber ihre Selbstverständlichkeit
hinaus auch den Grund hatte, die Gefan-
genen vor der Folter und Vernichtung im
Knast zu schützen.
Es ist nicht das anfängliche Selbstvcr-
ständnis der RAF. aber in der Situation in
den Jahren nach 1972. die Karl-Heinz
Dellwo im Interview beschreibt: "Wir
haben zurückgcschosscn, das Verhältnis,
das sie nach unten haben, umgedreht und
auf sie selbst gerichtet."
Durch das staatliche Vemichtungspro-
gramm gegen die Gefangenen rückte das
Ziel der Gefangenenbefreiung zuneh-
mend in den Mittelpunkt. Damit verän-
derte sich aber auch die Bedeutung der
"Machtfrage".
Der Staat behandelte die Gefangenen als
Geiseln (woran sich bis heute im Prinzip
nichts geändert hat) und verknüpfte so
die eigene Machtposition unmittelbar mit
der Frage der Gefangenen. Was umge-
kehrt bedeutete, daß Gefangenenbefrei-
ung zu einem Angriff wurde, der ganz
zentral mit der gesamten Staatsmacht
konfrontiert war - viel mehr als "den
staatlichen Herrschaftsapparat an ein-
zelnen Punkten zu destruieren, stellen-
weise außer Kraft zu setzen ".
Diese Entwicklung ist aber erst im Nach-
hinein so deutlich r.u erkennen. Anfang
1975 gelang der Bewegung 2. Juni durch
die Entführung des Berliner CDU-Spit-
zenkandidaten Lorenz noch die Befrei-
ung von 5 Gefangenen aus den Knästcn.
Die Botschaftsbesetzung in Stockholm
durch ein Kommando der RAF wenige
Wochen später - ein Angriff in einer bis-
her noch nicht dagewesenen Schärfe -
traf auf die harte Haltung der Bundesre-
gierung, deren damaliger Staatssekretär
Kinkel als politischer Verantwortlicher
die Sicherheit der Botschaftsangehörigen
dem Zerschlagungskalkül opferte.
Nach dieser Erfahrung, und nach dem
Tod von Ulrike Meinhof. die am 1 1. Mai
1976 in ihrer Zelle "erhängt aufgefun-
den" wurde, sollten die Aktionen des
Jahres 1977. die Entführung des Arbeit-
geberpräsidenten Schleyer und die ge-
plante Entführung des Dresdner Bank-
Chefs Ponto, die Bundesregierung zum
Nachgeben zwingen. Ponto und Schleyer
gehörten zur Elite des BRD-Kapitals.
und sie verkörperten wie kaum jemand
sonst die faschistische Kontinuität der
BRD: einen auf "Arisierungen", auf
Ausbeutung von KZ- und Zwangsarbeit
fußenden Machlaufstieg, der ohne Un-
terbrechung 1945 direkt in die BRD-Eli-
teposition führte.
Aber diese Einschätzung ging nicht auf.
Die Bundesregierung entschied sich,
Schleyer zu opfern und schreckte auch
nicht davor zurück, (da Aussagen über
die Todesart der Stammheimer Gefange-
nen mit einer gegen die sic veröffentli-
chenden Medien unterdrückt werden, be-
schränken wir uns hier gezwungenerma-
ßen auf selbst von der BAW unbestreit-
bares:) die Ermordung der Gefangenen
von Prominenten in der Öffentlichkeit
propagieren zu lassen und sie im Krisen-
stab zu erörtern.
Konfrontiert mit dieser geballten und vor
nichts mehr zurücktchrcckcndcn Staats
macht endeten die Aktionen von 77 mit
einer umfassenden Niederlage, die von
bisher nicht dagewesenem Terror und
Repression gegen die legale Linke und
alle auch nur halbwegs kritischen Stim-
men begleitet war.
Wenn sich auch im Rückblick deutlich
Fehler erkennen lassen, falsche Einschät-
zungen der eigenen Kräfte und des staat-
lichen Kalküls, gehören sie wohl zu den
"unvermeidlichen" (Gremliza). Nach
dem Zerfall der Apo blieb der RAF nur.
alleine zu handeln: und in der Situation,
in der keine Bewegung mehr politischen
Druck zum Schutz der Gefangene entfal-
ten konnte, mußt es darum gehen, alles
zu tun. um sic vor Folter und Vernich-
tung zu schützen: sie zu befreien.
IV
Für die Entwicklung nach 1077 läßt sich
allerdings keine vergleichbare Notwen-
digkeit behaupten.
Vor dem Hintergrund der stärker wer-
denden sozialen Bewegungen seit Ende
der 70er Jahre und der damit verbunde-
nen Massenmilitanz formulierte die RAF
ihren politischen Neuansatz im Mai-Pa-
pier von 1982:
Die Niederlage von 77 wurde jetzt
gleichzeitig als Beginn einer neuen Phase
interpretiert: " sie hätten es fast geschafft,
aber die ironie ist, dass sie genau da-
durch eine Situation geschaffen haben, in
der wir unter veränderten und so besse-
ren bedingungen weiterkämpfen konn-
ten" (Mai-Papier). Denn die Entschei-
dung des Staates für die militärische Lö-
sung " war der sprung an die spitze der
reaktionären gegenoffensive zur Verein-
heitlichung der apparate der inneren Si-
cherheit in Westeuropa," an ihm "ist aber
auch die politische schwäche der metro-
polenstaateit, die innere brüchigkeit der
ganzen nach außen so potenten Struktur,
so evident geworden wie noch nie"
(ebd.).
Im offenen Widerspruch zu dem 1 1 Jahre
früher im "Konzept Stadtgucrilla" formu-
lierten Ansatz hieß es nun: "nachdem aus
dem internationalen Zusammenhang der
kampf um befreiung vom isolierten gue-
rillaprojekt zur greifbaren Wirklichkeit in
den auseinandersetzungen des tages
durchgebrochen ist geht es jetzt um den
sprung mit beiden beinen auf der boden
der Situation hier, tut i widerstand in der
metropole in der umgekehrten bewegung
von hier aus zur frort im internationalen
klusseukrieg zu bringen, also die Strate-
gie, die ihre würze! hier hat" (cbd.).
Anstatt die Frage zu untersuchen, wie aus
den strategischen Anfangsbestimmungen,
die ihre Wurzeln hier hatten, der bewaff-
nete Kampf zum "isolierten gucrillakon-
zept" werden könnt«; und was daraus zu
lernen ist, wurde die Geschichte einfach
umgeschrieben: "wenn man so will, un-
terscheidet sich unsere aktionslinie von
77 von der jetzt darin, dass es bis 77 im-
mer auf das ankam. was direkt zum be-
waffneten kampf gekommen ist oder die-
sen schritt vorbereitet hat und dass es
jetzt darauf ankommt, dass gtterilla, mili-
tante und politische kämpfe als integrale
komponenten im perspektivischen flucht-
punkl der zu entfaltenden mctropolen-
strategie Zusammenkommen " (ebd.).
Wurde im "Konzept Stadtguerilla" das
Verhältnis von bewaffneter und legaler
Politik noch damit beschrieben, "daß das
eine die Voraussetzung für den Erfolg
des anderen ist", heißt cs nun: "wenn
auch bewaffnete, illegale Organisation
der kern dieser Strategie ist, bekommt sie
erst ihre ganze notwendige kraft, wenn
bewaffnete politik mit militanten angrif-
fin. mit den kämpfen aus der ganzen
breite der erdrückmg und entfremdung
und mit dem politischen kampf um die
Vermittlung ihres prozesses zusammen zu
einem bewussten und gezielten angriff
gegen die dreh- und angelpunkte des im-
perialistischen Zentrums gebracht wird"
(Mai-Papier).
Und zwar vor den Hintergrund einer
weltweiten Schwäche des Imperialismus.
Der Sieg der Befreiungsfront in Vietnam
wurde als historischer Durchbruch mit
weitreichenden Auswirkungen beschrie-
ben: ” die 'Instabilität des imperialisti-
schen Systems bedeutet seitdem weltweit
eine Situation, in der der Imperialismus
mit einer niederlagt an jedem punkt sei-
nes Weltsystems, oder dem vertust ir-
gendeiner seiner rmchtpositionen ... in
die endliche krise des Systems kippen
kann " (cbd.)
Erst hier taucht der Glaube an eine Situa-
tion auf Messers Schneide auf - und
wurde gleich zur zentralen Grundlage des
strategischen Ansatzes. Mit einer gewis-
sen Notwendigkeit, denn das neue Front-
Konzept beruhte. anders als das
"Konzept Stadtguerilla”, nicht auf den
Erfahrung und dem bereits geführten
Kampf einer Bewegung, sondern war ein
theoretisch entwickelter Ansatz, der sich
ausgehend vom Kampf der Guerilla
durchsetzen und in einer so erst zu schaf-
fenden Bewegung verankern sollte.
Die Chance dafür wurde darin gesehen,
daß die Polizeistaatsformierung nach 77
120
zu der allgemeinen Erfahrung geführt
habe, daß "der Imperialismus ... über
keine positive, produktive Perspektive
mehr (verfügt), er ist nur noch die von
Zerstörung, das ist der kem der etfah-
rung, die die wurzel der neuen militanz
in allen lebensbereichen ist." (ebd.).
So wurde das ganze Problem der politi-
schen Verankerung auf eine völlig neue
Weise betrachtet: "es ist jetzt mehr der
punkt. die inneren Veränderungen hier
im einzelnen zu analysieren, denn die
haltung und die lebenspraxis derjenigen,
die seitdem kämpfen, hat die veränderte
Situation schon in sich und geht ganz
einfach von ihr aus. wir stellen einfach
fest: fundamentalopposition ist mit die-
sem System wie nie zuvor grundsätzlich
fertig, kalt, illusionslos. vom Staat nicht
mehr zu erreichen ... da ist einfach
Schluss ... und erst hinter dem ende des
Systems wird eine lebensperspektive vor-
stellbar" (ebd.)
Vor diesem Hintcrgiund hieß die Konse-
quenz für die Bestimmung der Politik:
" revolutionäre Strategie ist einfach die
Strategie gegen ihre Strategie, die ihren
strategischen plan in ihren konkreten
Projekten angreift und durch den militä-
rischen angriff die imperialistische of-
fensive nach innen und aussen politisch
bricht und damit bewußtsein schafft, das
neuer widerstand und prozeß der front
national wie international wird, die ihre
pläne blockiert, bevor sie sie ausführen
können “ (cbd.).
Es ist deutlich: Hier wird das, was in der
Entwicklung bis *77 die vielleicht unver-
meidliche Bewegung weg vom Aus-
gangspunkt war, zum Programm erklärt.
Die Gesellschaft wird nur noch von au-
ßen wahrgenommen, Analyse beschränkt
sich auf die Untersuchung der imperiali-
stischen Pläne und NATO-Siratcgicn,
militärische Guerillaaktionen werden
zum politischen Kern. Politische Ausein-
andersetzung und Vermittlung entwickelt
sich nicht aus den gesellschaftlichen Wi-
dersprüchen, sondern beschränkt sich auf
Angriff und angestrebte Verhinderung
der fortgeschrittensten strategischen Pro-
jekte des imperialistischen
"Gesamtsystems". Der Bruch mit der Me-
tropolenrealität wird zur Bewußtseins-
grundlagc - nicht mehr als aufklärerische
"Irregularität”, sondern als subjektiver
Bruch mit der gesamten Lcbcnswirklich-
keit der Metropole. Etwas theoretischer
formuliert: Mit dem Aufbau der Roten
Armee Fraktion ging es ursprünglich
datum, die von der Studcntcnbcwcgung
theoretisch erkannte totale Verdingli-
chung des Lebens im Kapitalismus zu
druchbrechen. ein Kampfterrain zu er-
öffnen, auf dem die wesentlichen Ele-
mente der "spontanen Irregularität" zu
einer kontinuierlichen und nicht mehr in-
tegrierbaren politischen Praxis entwickelt
werden können.
Im Mai-Papier dagegen drückt sich die
Verdinglichung eben der Schritte und
Formen aus, die ursprünglich gerade das
Durchbrechen der tctalcn Verdinglichung
ermöglichen sollten.
Das verlangte aber Interpretationen der
gesellschaftlichen Wirklichkeit, die da-
mals nicht weniger falsch waren als
heute: Die Behauptung eines weltweiten
Kräfteverhältnisses, das die imperialisti-
sche Herrschaft auf Messers Schneide
stellt, und der Behauptung vom Verlust
der (im "Konzept Stadtguerilla" noch als
Ausgangsfähigkeit verstandenen) Inte-
grationsfähigkeit des Kapitalismus: ~Die
Offensive jetzt ist für sie auch deswegen
zur entscheidungsschiacht geworden,
weil die reformistische Variante, sozial-
demokratismus und verdeckter krieg auf
allen ebenen gelaufen ist ... weil die mili-
tärstrategie zum angelpunkt geworden
ist, ist auch die politik gestorben - bzw.
darin kommt sie auf ihren reinen begriff ”
(Erklärung zu 77 der Gefangenen aus der
RAF, 1984 im Stammheimer Prozeß).
Damit waren dem Front-Konzept von
vomehercin die Grenzen gesetzt, an de-
nen es auflaufen muStc - spätestens dann,
als sich in der Niederlage nicht länger
übersehen ließ, daß die gesellschaftliche
Wirklichkeit in der Metropole doch viel-
schichtiger und widersprüchlicher ist.
Trotzdem hat sich auf dieser Grundlage
in den 80er Jahren breiter Widerstand
entwickelt, Ansätze zu einer revolutionä-
ren Bewegung wie in keinem anderen eu-
ropäischen Land zu dieser Zeit. Eine
Entwicklung, die ohne den Kampf der
Guerilla so sicher nicht stattgefunden
hätte.
Trotz der Fehler in der Analyse, der feh-
lenden wirklichen Verankerung, war der
Kampf der RAF eine wichtige Orientie-
rung für viele: Die Existenz einer grund-
legenden Opposition in einem System,
das alle Veränderungsimpulse, alle Sub-
kulturen so umfassend aufschluckt, re-
formistisch oder direkt kapitalnützlich
umbiegt oder blockiert; in einem System,
in dessen Rahmen viele wirklich keinen
Lebenssinn mehr sehen konnten, das sich
aber als allumfassend und ausweglos
darzustellen sucht.' Die Selbstinszenie-
rung der spätkapitilistischcn Metropo-
lengesellschaft als quasi pragmatischer
Gesamtsachzwang, als Beste aller histo-
risch möglichen Gesellschaften, die zu-
nächst nicht durchschaubar ist. wurde in
den Angriffen der Guerilla durchbro-
chen, mit denen konkrete Verantwort-
lichkeit erkennbar gemacht und die Ang-
reifbarkeit des Systems bewiesen werden
sollte. Nicht zuletzt gehört dazu auch die
Ausstrahlung des konsequenten Kampfes
der Gefangenen, den auch das Isolations-
regime der Hochsichcrhcitstraktc nicht
brechen konnte. Es gab ein starkes Be-
dürfnis bei vielen, die von diesen Mo-
menten angesprochen wurden, sie auf-
grlffcn, sich anclgncicn und weiterzuent-
wickeln suchten. Anti-Nato-Mobilisic-
rungen wie die Bush-Demo 1983 in Kre-
feld 1983, die Vielzahl militanter Aktio-
nen in den Jahren 85/86 oder der Anti-
imperialistische Kongreß in Frankfurt
1986 seien hier nur als Beispiele für die
Entwicklung erwähnt.
Aber cs gab keine politische Diskussion,
keine Auseinandersetzung um die we-
sentlichen Fragen, und so konnten die im
Ansatz angelegten Grenzen und Fehler
auch nicht erkannt und überwunden wer-
den. Stattdessen führte das zur immer
stärkeren Verdinglichung des politischen
Bewußtseins:
Revolutionäre Politik war nur noch als
bewaffneter Angriff denkbar, die militä-
rische Aktion wurde zum nicht hinter-
fragbaren Fetisch, Illegalität wurde zum
Mythos, zur Verkörperung des "Bruchs”,
zur Voraussetzung von Kollektivität
schlechthin.
Mit teilweise verheerenden Folgen, die
Lutz Täufer in seinem "Brief an einen
Gefangenen" (konkret 8/92) ganz zutref-
fend als "reaktionäre Symbiose ” von
wortführenden Aktivisten und apologe-
tenhaften Anhängern beschreibt. Daß wir
ein "ehrliches Verhältnis zu unseren Feh-
lern und Schwächen entwicklet (Täufer,
cbd.), wird aber verhindert, wenn nur die
oberflächliche Erscheinung der
" reaktionären Symbiose" beschrieben
wird: "Welche Bedürfnisse auf beiden
Seiten mitspielen urd woher sie stam-
men, will ich hier nicht näher untersu-
chen" (ebd.). Denn tatsächlich gibt es
dabei mehrere Seiten. Auch die Gefan-
genen aus der RAF liabcn die Diskussion
um die im Mai-Papier formulierte Politik
der "bewaffneten Aktion" zumindest
nicht forciert. Dieser Zusammenhang
darf aber nicht länger aus der Auseinan-
dersetzung verdrängt werden. Wird seine
Untersuchung nicht zum Ausgangspunkt
gemacht, erscheint alles Übrige nur als
leicnrertige Schuldzuweisung für den in-
dividuellen Sprung aus dem Schlamassel
- und läßt die Gnindstrukturen unangeta-
stet. statt an ihrer Überwindung zu arbei-
ten.
V
Denn die Gefahr der heutigen Situation
liegt darin, daß dieses verdinglichte Be-
wußtsein, nachdem cs unleugbar an seine
Grenze gestoßen ist, nun - anstatt durch
Reflexion und selbstkritische Untersu-
chung seine Grenzen zu überwinden -
undialektisch in sein scheinbares Gegen-
teil umschläßt: An die Stelle, die vorher
121
das "Gesamtsystem" und die imperialisti-
schen Strategien eingenommen haben,
treten plötzlich, als das Neue, das Ande-
re, die “sozialen Prozesse in der Gesell-
schaft".
'Heute fehlt etwas atuieres. Das ist nicht
durch die Staatsmacht begrenzt. Es fehlt
der neue soziale Gedanke, so etwas wie
ein neuer historischer sozialer Sinn für
die Gesellschaft \ so Karl-Heinz Dellwo
im konkret-Interview. Daß die spätknpi-
talistische Metropolcngescllschaft über
keinen sozialen Sinn verfügt, war aller-
dings schon der Ausgangspunkt der Apo.
Ihre Stärke beruhte auf der Entwicklung
eines eigenen "jozialcn Sinns’, aus dem
dann auch der bewaffnete Kampf hervor-
gegangen ist - der ihn allerdings in der
eskalierenden Konfrontation mit der
Staatsmacht immer mehr verloren hat. Im
Mai-Papier sollte dann das Fehlen des
"sozialen Sinns', das Fehlen jeglicher
Lcbensperspektive im System alleine
schon die Möglichkeit der revolutionären
Front begründen Heute ist unübersehbar,
daß die Konfrontation mit der Staats-
macht keine ausreichende politische
Grundlage sein kann. Aber wenn nicht
gemeint ist daß es unsere neue Aufgabe
wäre, der bestehenden Gesellschaft einen
Sinn zu stiften, dann ist das Fehlen des
"sozialen Gedankens" nichts "anderes",
nichts Neues, sondern das, wovon revo-
lutionäre Politik immer schon auszuge-
hen hatte: Die Notwendigkeit, im Kampf
gegen die herrschenden Verhältnisse ei-
nen sozialen Sinn zu entwickeln, der
diese transzendiert.
Tatsächlich etwas völlig Neues ist aber,
wenn Karl-Heinz Dellwo jetzt sagt: " Für
mich hat RAF bedeutet, ein bestehendes
Vernichtungsverhältnis aufzubrechen,
das von diesem Staat immer gegen Min-
derheiten, gegen Opposition eingesetzt
wurde " (ebd.).
Denn ein Verrichtungsverhältnis läßt
sich nur da aufbrechen, wo der zugrunde-
liegende Widerspruch nicht mehr an-
tagonistisch ist.
Wer jetzt fcststcllt: "Wir müssen unser
Ghetto verlassen, wir müssen in die Ge-
sellschaft zurück ' (Täufer, konkret 8/92).
ohne daran die allererste selbstkritische
Frage anzuschlieäen, wie es nämlich zum
damit unterstellten Herausfallen aus der
Gesellschaft kommen konnte, für den
trifft wirklich zu: ’ Die Tür in die Gesell-
schaft wird erst einmal in jene brandge-
fährlichen sozialen Gegenden führen, wo
der Reformismus lauert" (Täufer, ebd.).
Es ist diese Gefahr, vor der auch Fülberth
zurecht warnt: Daß nämlich in der
Euphorie über die neuentdeckten Betäti-
gungsmöglichkeiten beim Erobern von
"Räumen" in der Gesellschaft und bei der
Suche nach "Lösungen von unten" leicht
vergessen werden kann, daß es (wenn
dieses Wort einen Sinn haben soll) keine
Lösungen unterhalb der Revolution, im
Rahmen des kapitalistischen Systems
gibt. Natürlich geht cs um Sclbstorgani-
sation. geht es um einen "sozialen Sinn",
darum. Ansätze für ein anderes Leben,
jenseits der Herrschaft von Geld und Wa-
re zu erkämpfen und so Schritt für Schritt
Raum zu erobern. Darum ging cs auch
bei der Gründung der RAF. Gefährlich
sind nicht die "sozialen Gegenden", son-
dern das Verhältnis, mit dem wir uns ih-
nen nähern. Dann nämlich, wenn die
Haltung, die politische Basisarbeit - sei
es in Bürgerinitiativen oder anderen lega-
len Gruppen, sei cs in Gewerkschaften,
im Betrieb, an Schulen und Unis -. die
zum Teil sogar Ausbildung und Berufs-
arbeit als "Counter" gebrandmarkt hat.
jetzt plötzlich schlicht gewendet wird.
Es ist weniger das tatsächliche Hcrausfal-
len (das so total nie war, sonst hätte der
antiimperialische Widerstand nicht so
vielfältig ind relativ zahlreich sein kön-
nen). als die im Mai-Papier formulierte
mutwillige Verortung des eigenen politi-
schen Standpunkts außerhalb der Gesell-
schaft, die zu dem jetzt auftauchenden
Rückkehr-Bedürfnis geführt hat. Die
Neuentdeckung politischer Basisarbeit
"in der Gesellschaft" beruht weniger auf
deren neuer Qualität als auf der Ignorie-
rung dieses Hintergrunds.
VI
Das Problem ist nur. daß sich aus politi-
scher Bassarbeit nirgends unmittelbar
revolutionäre Politik entwickeln läßt. Mit
dieser Erkenntnis sind wir wieder bei den
Fragen der Studentenbewegung angc-
langt.
Die Tatsache, daß die damaligen Antwor-
ten heute nicht einfach wiederholt wer-
den können, ist aber noch lange kein
Grund, das ganze damals schon erreichte
Erkenntnisniveau und Problembewußt-
scin über den Haufen zu schmeißen.
Deutlich wird das an einer Äußerung von
Knut Folkerts im konkrct-Interview: " Der
Emanzipationsgedanke muß wirklich aus
der Tiefe und geschichtlichen Reife neu
begründet werden, weil ja eine ganze
Epoche zu Ende gekommen ist. Befreiung
- was ist das heute? Heute lind Aufhe-
bungen möglich, wie sie bisher nicht
möglich waren. Die strukturelle Massen-
arbeitslosigkeit ist zB. ein Negativaus-
druck für die tendenziell mögliche Auf-
hebung der Arbeit. Wir brauchen ein
Wirklichkeitsmoment in der Gegenwart,
auch weil es ein langandauenuler Über-
gangsproztß sein wird. Befreiung kann
keine Abstraktion bleiben, kein fernes
Ziel. Die Ziele müssen in der Lebens-
wirklichkeil beginnen, als Aneignungs-
bewegung. '
Daß Befreiung nicht abstrakt bleiben und
daß Ziele nicht völlig außerhalb der Le-
benswirklichkeit wurzeln dürfen, ist si-
cher richtig - aber nicht erst seit gestern.
Schon vor längerem hat Marx deswegen
mal das Kapital als die bestimmende
Sphäre der Lebenswirklichkeit in der
bürgerlichen Gesellschaft analysiert, um
so den Idealismus der utopischen Sozia-
listen auf eine materielle Grundlage stel-
len zu können.
So konnte er das Proletariat und die In-
dustrialisierung ab diejenigen
"Wirklichkeitsmomente in der Gegen-
wart" bestimmen, von denen aus revolu-
tionäre Politik im langandauemden
Übergangsprozeß damals entwickelt
werden mußte. Seither geht cs darum,
was unter dem "Wirklichkeitsmoment"
für die konkrete politische Arbeit zu ver-
stehen ist. Etwa Lenin oder Luxemburg
haben das als Problem von Reform und
Revolution untersucht und auch heute
noch Lesenswertes darüber geschrieben.
Darauf aufbauend hatte die RAF im
"Konzept Stadtgucrilla" festgestellt: " Die
'revolutionären Übergcngsforderungen
die die proletarischen Organisationen
landauf landab aufgeitellt haben, wie
Kampf der Intensivierung der Ausbeu-
lung, Verkürzung der Arbeitszeit, etc., -
diese Uhergangxfnrderungen sind nichts
als gewerkschaftlicher Ökonomismus,
solange nicht gleichzeitig die Frage be-
antwortet wird, wie der politische, mili-
tärische und propagandistische Druck zu
brechen sein wird, der sich schon diesen
Forderungen aggressiv in den Weg stel-
len wird, wenn sie in massenhaften Klas-
senkämpfen erhoben werden."
Die Gründung der RAF als damalige
Antwort kann heute natürlich nicht stu-
pide wiederholt werden. Aber richtig
bleib:, daß sich heute genauso allen Ver-
änderungen, die auf eine Überwindung
der strukturellen Massenarbeitslosigkeit
zielen, mächtige und aggressive Kiäftc in
den Weg stellen. Zudem ist die Erkennt-
nis des Zusammenhangs von struktureller
Arbeitslosigkeit und möglicher Aufhe-
bung der Arbeit nicht neu, die IG Metall
beispielsweise begründet darauf seit En-
de der 70er Jahre ihre Tnrifpolitik. 1980
formulierte Andre Gorz seinen
"Abschied vom Proletariat", wo er aus
dem Gedanken der "möglichen Aufhe-
bung der Arbeit" ein Modell entwickelt,
das ebenso zwangsläufig wie konsequent
die Grundlagen der Metropolengesell-
schaft. nämlich die imperialistische Ar-
beitsteilung des Weltmarkts, unberück-
sichtigt läßt.
Wenn es jedoch um mehr geht als um die
andere Verteilung des geraubten Profits
zur Aufrechtcrhaltung des zerstöreri-
schen Konsumwahns, dann sind gesell-
schaftliche Umwälzimcen nötip. die ein
122
Ende des gifi- und müllproduzierenden
Metropolenwohlstands, eine Umwälzung
der imperialistischen Weltmarkt-Arbeits-
teilung mit sich bringen und somit
zwangsläufig ein Mehr an Arbeit (ur alle
Menschen weltweit.
Die Vorstellung der Abschaffung der
Arbeit ist nur der konsequent zu Ende
gedachte sozialdemokratische Gedanke
von Umverteilung im Kähmen der beste-
henden Verhältnisse. Wenn der Zusam-
menbruch des Realsozialismus als Zei-
chen einer zu Ende gegangenen E[>oche
etwas gezeigt hat, dann ist es die Priorität
von Eigeninitialivc. von Selbstorg>nisa-
tion.
Statt um "Abschaffung der Arbeit" geht
es um die Verfügungsgewalt: um die
gleichberechtigte Selbstbestimmung aller
beteiligten Menschen darüber, was und
wie produziert wird. Auch ohne eine fer-
tige Antwort auf die Frage nach der prak-
tischen Durchsetzung dieses Zieles wird
an dem Beispiel deutlich, warum revolu-
tionäre Politik nicht unmittelbar auf das
zurtickgreifen kann, was in konkreten ge-
sellschaftlichen Auseinandersetzungen
schon vorhanden ist.
Das "Wirklichkcitsmomcnl" ist das in
dieser Gesellschaft nicht lösbare Problem
der Massenarbeitslosigkeit, aber durch
die eurozentristische Vorstellung von
"Aufhebung der Arbeit" wird es sich ge-
rade nicht revolutionär überwinden las-
sen. Andererseits ist der Gedanke von
Sclbstorganisation in den real existieren-
den Arbeitskämpfen so gut wie nicht
vorhanden. Aufgabe revolutionärer Poli-
tik ist deshalb, ihn dort hineinzutragen.
Das setzt aber eire Verankerung in dieser
"sozialen Gegend" voraus, die in der an-
tiimperialistischen Linken bisher tenden-
ziell für überflüssig oder falsch gehalten
wurde. Diese Verankerung, dort wie in
anderen "sozialen Gegenden", ist Korrek-
tur eines Fehlers, ist Voraussetzung für,
ist aber nicht selbst schon revolutionäre
Strategie. Nicht die "sozialen Gegenden",
sondern diese Verwechslung ist das
"brandgetührliche“, "wo der Reformis-
mus lauert".
Dasselbe gilt für die "sozialen Prozesse
in der Gesellschaft". In der zweiten Hälf-
te der 70er Jahre entstanden in den unter-
schiedlichsten Bereichen soziale Bewe-
gungen, in denen eine Vielzahl von Er-
fahrungen gesammelt wurden. Sie alle
sind später je für sich an eine Grenze ge-
stoßen. nämlich an die Macht und an die
Intcgrationsfähigkeit des Kapitals. Schon
vorher gewußt zu haben, daß sic ihre
Ziele gegen diese Macht nicht einfach
werden durchsetzen können, rechtfertigt
nicht ihre Geringschätzung durch die an-
tiimperialistische Linke als
"Teilbereichskämpfc". die von echtem
revolutionärem Kampf gegen die impe-
rialistischen Zentren eher ablenken wür-
den. Sicher, die AKWs stehen noch, die
Startbahn West ist gebaut, die Häuser
sind geräumt, die Raketen stationiert -
doch auch hier ist der Erfolg nicht das
einzige Kriterium.
Mit der neuen Entdeckung der “sozialen
Prozesse“ und ihrer Bedeutung aber um-
gekehrt das Wissen um ihre Begrenztheit
aufzugeben, wäre ein ebenso schlimmer
Fehler, genauer: die Fortsetzung des alten
mit umgekehrten Vorzeichen. Erst die
richtige Einschätzung aller konkreten
Kämpfe, sowohl in ihrer gesellschaftli-
chen Begrenztheit als auch in der politi-
schen Brisanz der darin anfbrechenden
Widersprüche, der entstehenden Um-
gangs- und Organisationsfermen, der
Mittel und Ziele macht es möglich, auch
aus ihren konkreten Niederlagen nicht als
Verlierer hervorzugehen.
Das gilt gleichermaßen für die Kämpfe
der sozialen Bewegungen wie für die des
antiimperialistischen Widerstands. Statt
der bedingungslosen Identifikation mit
den einzelnen Fordenmgen und den je-
weiligen Parolen geht es darum, diese
Eingebundenheit und Widersprüchlich-
keit zu erkennen und ertragen zu
lernen. (Wir empfehlen: Mao zu lesen,
z.B. "Übcrdcn Widerspruch"!)
Denn es gibt keine einfachen, gradlini-
gen, unverrückbaren Siege, der revolu-
tionäre Prozeß ist keine Entscheidungs-
schlacht. Erst dieses Bewußtsein setzt
uns in die Lage, ein Leben lang zu kämp-
fen, anstatt in grandiosen Anstrengungen
auszubrennen, um sich dann zurückzu-
ziehen.
Daraus ers: entsteht Identität, die auch
für andere erkennbar sein wird, das ist
der Schritt von Subkultur zu eigener Kul-
tur und endlich auch die Überwindung
der vielbeklagten Unfähigkeit zu solida-
rischkriiischcm Streit.
VII
Heute müssen wir von Niederlage spre-
chen und nicht von einer Grenze:
Anders als bei der Grenze, an die die
Apo 1970 gestoßen war, gebt es heute
nicht um eine Transformation der fortge-
schrittensten Praxis in eine höher organi-
sierte Form, sondern es geht zunächst nur
um die Bestimmung der nach wie vor
gültigen Analysegrundlagen und derjeni-
gen Elemente unserer Geschichte, die in
veränderten, für heute angemessenen An-
sätzen und Formen weiterentwickelt
werden sollen.
Einige zentrale Ausgangsbedingungen
sind immer noch dieselben wie vor 25
Jahren, wenn auch in extrem verschärfter
Form: Das Problem der Entfremdung, der
Verdinglichung aller menschlichen Ver-
hältnisse. der zunehmenden Kapitalisie-
rung und warenförmigen Durchdringung
aller Lcbcnsbcrciche. Voraussetzung für
die Subjektwerdung. für den Aufbau von
Formen der Sclbstorganisation, ist nach
wie vor ein "Bruch" mit dieser umfas-
senden gesellschaftlichen Fremdbestim-
mung. "Bruch” darf aber weder autono-
me Selbstghcttoisierungscin, noch Bruch
mit der gesamten Lebenswirklichkeit der
Melrupolcngcscllschiift durch die Identi-
fikation mit einem illegalen Terrain, das
zudem isoliert ist und nicht Fraktion ei-
ner Bewegung. Trotzdem muß er, als
Bruch in der Wertselzung, als Bruch mit
der kapitalistischen Extermination, im
eigeren I«ben für andere erkennbar sein.
Anstelle des Holzhammerverhältnisses
"Jeder muß sich entscheiden" geht es um
die Suche nach Formen, in denen viele
Menschen Schritt für Schritt diesen
Bruch mit den Werten des metropolita-
nen Konsumalltags vollziehen können.
Innerhalb dieses Rahmens bleiben Sabo-
tage und bewaffnete Aktion grundsätz-
lich unverzichtbar. Genauso, wie es
falsch ist, in der illegalen bewaffneten
Aktion die Verkörperung des "Bruchs"
zu sehen, die höchste Form revolutionä-
rer Politik schlechthin, so ist cs falsch,
den bewaffneten Kampf mit dem "Sturm
aufs Winterpalais", mit einer letzten Auf-
standsphasc zu identifizieren, wie Fülber-
th das in schlechter DKP-Tradition tut.
Im Fall der russischen Revolution ist
letzteres übrigens auch historisch falsch,
denn trotz aller Widersprüche war der
Terrorismus' der Narodniki in der zwei-
ten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein wich-
tiger Vorläufer, ohne den die Entwick-
lung der revolutionären Bewegung in
Rußland nicht verstanden werden kann.
Damit soll natürlich keine Analogie zur
heutigen Situation zusammengeschustert
werden, aber das Wintcrpalais-Argumcnt
fällt sogar hinter das politische Niveau
der Friedensbewegung zurück, die im-
merhin mit Sitzblockaden schon Formen
massenhaften zivilen Ungehorsams orga-
nisiert hat. und zwar bewußt als Sabota-
ge, als Angriff auf das herrschende Ge-
setz, anstatt alles auf eine spätere Aus-
nahmesituation namens Aufstand zu ver-
schieben.
Gleichzeitig geht es um die Suche dcije-
nigen Wirklichkeitsmonente in der Ge-
sellschaft, die den grundlegenden Wider-
spruch und seine mögliche Aufhebung
beinhalten. Anders als vor 20 Jahren, vor
dem Hintergrund einer breiten Bewegung
mit starken revolutionären Impulsen, sind
dieso heute aber nicht in den gesell-
schaftlichen Konflikten schon aufgreif-
bar vorhanden. Vorhanden sind nur die
Probleme, an denen sich der Wider-
spruch zeigt, aber die Momente seiner
möglichen Aufhebung können zunächst
nur abstrakt bestimmt werden: Jede Kon-
123
kretion als "Lösung von unten" mündet
zwangsläufig in Reformismus. Wirkliche
Konkretion kann nur im praktischen
Kampf erfolgen, auf der Grundlage des
Bewußtseins, daß es keine Lösungen un-
terhalb der Revolution gibt, und daß die
Richtigkeit jedes einzelnen Schrittes sich
daran bemißt. ob er den Blick auf den
gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang
freilegl oder versrhilttet.
Statt der unbeantwortbaren Frage nach
einer Gesamtstrategic oder einer Zcatral-
perspektive geht es also um die immer
weitergehende Bestimmung von Krite-
rien und deren schrittweise Konkretion in
der Praxis.
Diese Kriterien können zunächst nur ab-
strakt bestimmt werden, denn die Ent-
wicklung revolutionärer Politik verläuft
dialektisch: Sie verläuft unausweichlich
in dem ständigen Widerspruch von ab-
straktem Wertmaßstab und notwendig
unzulänglicher praktischgesellschaftii-
chcr Umsetzung. Es gibt die lange Tradi-
tion eines falschen, positivistischen Ver-
ständnisses der gesellschaftlichen Wider-
sprüche, das letztlich in allen Fehlem
und Niederlagen linker Politik eine Rolle
gespielt hat. Diesem Verständnis er-
scheinen gesellschaftliche Widersprüche
als etwas Äußerliches, sie müssten nur
richtig erkannt werden und linke Politik
könnte dann auf der unteren Seite dieses
Widerspruchs eindeutig, klar und in sich
widerspruchsfrei Position beziehen.
Das ist keine Eigenart der alten Lehre
vom Hauptwiderspruch Kapitalvcrhält-
nis, dem alles andere als Nebenwider-
spnich untergeordnet wurde, es hat ge-
nauso in dem reduzierten Antiimperialis-
musbegriff der 80er Jahre eine wichtige
Rolle gespielt.
Tatsächlich aber ziehen sich die Wider-
Sprüche immer und unausweichlich auch
durch die eigene Praxis. -Es gibt keinen
“Bruch”, kein Programm und keine Stra-
tegie, mit dem wir uns selbst aus den wi-
dersprüchlichen Zusammenhängen von
Rassismus. Sexismus und Klassenuider-
spnich hinauskatapultieren könnten Re-
volutionäre Politik kann nicht durch die
Bestimmung einer "richtigen” Praxis
oder einer "richtigen“ Position aufgebaut
werden, sondern nur durch ständige kriti-
sche und selbstkritische Überprüfung,
Veränderung. Weiterentwicklung, er-
neute Überprüfung und so weiter - in ei-
nem Prozeß, in dem die Kriterien durch
die Praxis zunehmend an Umfang und
Deutlichkeit gewinnen.
Welche Kriterien aus unserer Geschichte
zu gewinnen sind, haben wir zu skizzie-
ren versucht.
Sic bleiben vorerst relativ abstrakt. Aber
nicht das Fehlen von Wirklichkciismo-
menten. nicht das Fehlen klarer Vorga-
ben ist das Problem, sondern das Bedürf-
nis nach eindeutigen Gewißheiten, nach
einer widerspruchsfreien Position.
Wenn wir eine wirkungsvolle konkrete
Praxis entwickeln wollen, die sich nicht
selbst wieder fesselt und verdinglicht,
müssen wir die Angst vor Widersprü-
chen. die Abneigung gegen das Abstrakte
überwinden.
Hier wird der Mut zur Befreiung ge-
braucht. Voraussetzung ist das Wissen
um den grundlegenden Antagonismus.
Aber lebendige revolutionäre Politik
kann nur aus der praktischen Kenntnis
und der Verankerung in den vielfältigen
gesellschaftlichen Widersprüchen entste-
hen. aus der Neugier auf das Leben.
~ Es flbi riesige Täuschungen der Unwis-
senheit. Btirug an falscher- Phantasie.
Weihrauch über ilurchschau/xjren Gr -
Mlah.J?aä.C5..gibt auch rote Geheim-
nisse. in .der MIUo-üul rel:" (Emst
Bloch, ebd. S. 409)
FÜR DEN KOMMUNISMUS
Butzbach/Schwalmstadt. Juli 1992
ZEITUNG ANTtRASStSTtSCHER GRUPPEN
SchwetpunMsMHjii^HMBHH
Nr. 6 ’ JSeicbe Rechte für-alle
Nr. 7 _R»$sismus und Medien
Nr. 8 Abschiebung und Ausweisung
Nr. 9 Bltiberecht für Yertragsarbeiterlnnen
Nr. 10 (2/94) • Rassismus und Medien
aus «Sem InhaB von Nr. 9 ■■§^■■■■1
t A. Snranandan: Statewatetihg • ' '
t Neue Wiehe: Eine Verfcfihnunj
aller Opfer des deutschen Faschismus
( »Wem die Arbeit getan ist -«
Ober neue Formen der Vertragsarbeit
Abo: 4 Ausgaben/Jahr .16 OM
F&rdersbo: 4 Ausgaben/ Jabr_ 24 OM
ZAG / Antirassistische Initiative e.V.
Yorcksti. 59, 10965 Berlin, fon/fa« 030-78G 99 84
Die Rote Hilfe 4/93
Themen: Schwerpunkt: 4 Mona-
te nach dem Mord an Wolf-
gang Grams; Verfolgung von
Antifaschistinnen; Politische
Gefangene; § 129a-Ermittlun-
gen gegen Rote Hilfe;
Abschottung gegen Flüchtlinge
in Europa und mehr...
Die Rote Hilfe-Zeitung gibt es für 2.50
DM in vielen Buch- urri Infoläden und
bei Rote Hilfe-Ortsgruppen oder für 4.-
DMin Briefmarken bei u.a. Adresse.
Das Abo kostet 1 5,- DM für 4 Ausga-
ben.
Rote Hilfe
Literaturvertrieb
Postfach 6444
24125 Kiel
Fax: 0431/ 7 51 41
124
VII. Kritische Theorie : Die Totalität eliminiert die gesell-
schaftlichen Antagonismen. Die theoretischen Ursachen
der Defizite der alten und neuen Politik
"Lukdcs's Interpretation of the ideological battle between capitalism and socialism as a conflict between formal
analytic rationality and the viewpoint of die toiality is bc found again and again in «he works of later thinkers,
among them, Goldmann, Marcusc, Satre" and has "permcated the attitudes und activities of radicals and revolu-
tionäres who may never have read a line of Lukäcs's book."
Gareth Stcdman Jones, in: Western Marxism. A critical rtader, London, 1977, 11-60 (57, 18)
Der “Unterschied, daß der Arbeiter der einzelnen Maschine, der Unternehmer dem gegebenen Typus der maschinel-
len Entwicklung, der Techniker dem Stand der Wissenschaft und der Rentabilität ihrer technischen Anwendung ge-
genüber stehen muß, bedeutet eine bloß quantitative Abstufung und unmittelbar keinen qualitativer Unterschied (...)"
in der Verdinglichung des Bewußtseins.
Georg Lukäcs, Werke, Bd. 2, 273.
"Der Neohegclianismus" - d.h. Georg Lukäcs u.a. - "interpretiert die Gesellschaft als homogene Totalität, (...).
Ihre konstitutiven Elemente sind in eine undifferenzierte Ganzheit aufgelöst, die inneren Widersprüche und
Querheziehungen zwischen den besonderen Ebenen und Strukturen innerhalb eines gegebenen Sozialgebildes
werden ignoriert
Miriam Glucksmann, in: alternative, Vol. 71, 1970, 74 - 87 (74).
"Für den Marxismus ist die Erklärung jedes Phänomens in letzter Instanz intern: der innere ■Widerspruch' ist der
'Motor'."
Louis Althusser, in: Was ist revolutionärer Marxismus? , Westberlin, 1973, 97, FN 2
1. Herausgeber- Kollektiv, Frankfurter oder Rote Armee Fraktion? - Zur Kritik des Einflusses der Kri-
tischen Theorie auf die RAF
2. Galvano della Volpe, "Kritik eines spätromantischen Paradoxes (Über die 'Dialektik der Aufklä-
rung' von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno)" und "Marcuses Moralismus und Utopismus "
3. Karl Marx und Friedrich Engels, Über die revolutionäre Rolle der Bourgeoisie. Auszug aus dem
Kommunistischen Manifest
4. Lucio Colletti, Von Hegel zu Marcuse
5. Friedrich Engels über die Parole " Ein gerechter Tagelohn für ein gerechtes Tagewerk"
6. Karl Marx über die Forderung nach " gerechter Verteilung des Arbeitsertrags "
7. Rolf Nemitz, Ideologie als "notwendig falsches Bewußtsein" bei Lukdcs und der Kritischen Theorie
8. Stuart Hall, Ideologie und Ökonomie - Marxismus ohne Gewähr
9. Desch, Vom Protest zum Widerstand - aber wie?
125
Broschüren-Gruppe
RAF und Frankfurter
Schule
Nachfolgend drucken wir verschiedene
Texte zur Kritik der Frankfurter Schule
(Adorno. Horkhcimer. Marcuse, im wei-
teren Sinne auch: Hsbermas. Fromm u.a.)
und des ihr vorausgegangenen links-
'kommunistischen' Frtlhwerkes von Ge-
org Lukacs ab. Denn wir denken, daß
die RAF-Thcoric nach dem Scheitern der
Mai-Offensive von 1972 zunehmend von
der Kritischen Theorie beeinflußt wurde -
analytisch von Horkheimer/Adomo. stra-
tegisch eher von Marcuse’. Auch die
GRAPO/PCE(r)-Gefangcnen schreiben
in ihrer in dieser Broschüre dokumentier-
ten RAF-Kritik von 1986: "Der subjek-
tive Ansatz der RAF in Bezug auf die
Klasse und den Klassenkampf wird durch
den Trugschluß der Entfremdung und
Verbürgerlichung der europäischen Ar-
beiterklasse vervollständigt. Der Neo-
’Marxisf H. Marcuse sagt, daß die Arbei-
terklasse in der modernen kapitalisti-
schen Gesellschaft unterwürfig allen In-
teressen der Bourgeoisie dient, und daß
sie. weil sie objektiv an der Ausbeutung
anderer Völker teilaimmt, sich in ihrer
privilegierten Position sehr wohl fühlt.
Etwas ähnliches sagt die RAF."
Im Anschluß an diesen Text gehen wir
näher auf die philosophischen Grundpo-
sitionen der Frankfurter Schule ein und
kritisieren diese ausgehend von einer hi-
storisch-materialistischen Position.
Im ersten Teil werden in erster Linie die
politischen Implikationen der Rezeption
der Kritischen Theorie durch die Studen-
tinnenbewegung und die RAF beleuchtet.
Der zweite Teil thematisiert primär die
grundsätzlichen philosophischen
Aspekte.
Frankfurter Schule und Studentin-
nenbewegung
Diese These vom Frankfurter Schule-Er-
be der RAF mag zunächst diejenigen
überraschen, die wissen, daß Adorno sein
während der Studcntlnncn-Revolte be-
setztes Institut von der Polizei räumen
ließ, und daß es Habermas war, der in
Bezug auf diese Revolte das Schlagwort
1 T-) Om Kn* im HertMrr»<<AdxrD mh äuti 9«l. da
Kutx Oat krpoMfarrus ab rawfwriiMbi. /tat u
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WiUrgan Om KrttcT* Th*ort» |T«i »t Aäikxa nr (Wann
(VIXF»*»u1 am MW).VoUS.S«* 1981.0- 134 (Big.
vom "linken Faschismus" in die Debatte
warf. 1 2 *
Tatsächlich ist es aber zum einen so. daß
kcinE Theoretikerin davor gefeit ist, von
seinen/ihren Leserinnen - in von jenen
selbst nicht gewünschter Weise - beim
Wort genommen und ’die Praxis’ umge-
setzt zu werden.
Zum zweiten war es in der BRD so. daß
die Kritische Theorie der Frankfurter
Schule tatsächlich (fast) die einzige
'kritische' Theorie über die hiesigen ge-
sellschaftlichen Verhältnisse war. Ori-
ginär marxistische Positionen (oder auch
nur deren stalinistische Abwandlungen)
waren in der BRD aufgrund des vorheri-
gen Faschismus, des KPD-Verbots. der
Verfolgung KPD-n»her Organisationen
sowie von 'Ost-Kontakten' fast nicht vor-
handen (Ausnahmen existierten in Person
der Professoren Abcndroth. Brückner
und Hoffmann). So war das einzige be-
griffliche Instrumentarium, mit dem die
Studentinnen seit Mitte der 60er Jahre ihr
radikal-demokratisch-humanistisches
Unbehagen artikulieren konnten, eben
das begriffliche Instrumentarium der
Frankfurter Schule. Durch deren - vor-
rangig an die hegelianischen und feuer-
bacherianischen Frühschriften von Marx
anknüpfende 2 - Theorie lernte die Stu-
dentinnenbewegung 'den Marxismus'
kennen. Aber was ist nun eigentlich diese
Frankfurter Schule?
Was ist die Frankfurter Schule?
Die Frankfurter Schule ist in den zwanzi-
ger Jahren als eine mit dem Marxismus
sympathisierende Theorieströmung ent-
standen und hat sich mit dem Institut für
2S ntft n» dun den wVftqan Aifutz von Uno IhwSor» Du
FortM SfftMl (1*7071). «: Qm* SHdnin Jy*i « tl. WiOan
Uanom ACrttalRaaiat HB: lx<ton 1877. *3 • 130 (138. FN 31).
S (*1 »Hfl 6m Uno ferafi Mi. 7K. IWi «
*#E»*iiAta,S 11-TO.
3 'MvMrfUan M m-a rati. OA da Uina:*i rw-ab h Om lagt
»n wwWn. fgen) ofwM m Om Fiajar Om 'tttoicf** voi UiO
in3 Om fl«* hi« rrautamioi tu MMihin. *a uh
rkn mtmTMßan. FMatacft m Imm irO di ftdoan S* mHOm u
VO* M (MH WM* aptrai ab VW Mn w Mntfttv
«** vwi (Mitafi an. (_).• (EMn* B*«r. Oha/ Uuonnfta
ft«Mf*.h:UnJMW</A«ilHcnr»p|Hgl Tfacom Oat HoKfocfian
Xitut* ßnraOxnm tu Ln h Cmtal Stfirtaro:
fartJJI mb UM. 1877. 2«3 - 3*3 038. FN 19Q.
V(» Ukv low AlfcMM. Tft* Om an gm (Fag*n 0t<
Thac*) (IMG) vrt &. Un«« Kn fW4- k» XU Uar. (190).
h 8 m. Ua oOpa irt Vaot&xf* (Ht** POSI-
TONEN hs) w SOöB*). VSA IWKwgWtijHrin. 1977.9-
44 uni 45 *50:
Mn. Vorwvt Hat» (1965) ~K 04 Vünc&oam UmfaM'
f—mtaOa ( 1 MÜ) ird IWWmm uW Mnaittnra ( 116 !). n Md .
FiV Uan. Sjn»rg. 1«fl. » • 38 rd 43 • SO i*3 IM • I«.
0*t.\ Dmrana 0* V8A. i»TJ. M - M.
Pmc4ra. Das äayf Oat Krtk ird <t* Krtt iat (oHecf*
CtrorM (WanecnM UnuM OBUmKn 28). Um* Vafog
r^bWh. 1972
urd KfMaai • *1 po« Khtar Om gownan ToU: log*
Anhm/r m John lamb (1972), Ire Hont tnm I Jo«Mn
BIWK4I I VM Jwggl (Hg), Wm kt mcMonirw KMm)
Kortnern «* Orunfrtg* mnhUKMr Thni* nfecton
Lob. kf.bjum urd Im*. VSA: WwB**n 1973. J5 - 71 (M
MIß
Sozialforschung an der Frankfurter Uni-
versität institutionalisiert.
Nach dem Machtantritt des Faschismus
Hohen ihre Protagonisten in die USA.
Die Erfahrungen mit Faschismus und
Stalinismus ließen insbesondere Hork-
heimer und Adorno ab 1940 mehr und
mehr die Rolle resignierter Intellektueller
cinnchmen. Die dritte Quelle ihres zu-
nehmenden Geschirhtsppcrimicmin; war
die Erfahrung mit der integrierten, vor-
nehmlich weißen, männlichen Arbeiter-
klasse der USA. In ihren Studien über die
US-Kulturindustrie entwerfen sic ein
Bild einer alle Lcbcnsberciche manipu-
lierenden Kultur, die cs der Arbeiterklas-
se nicht mehr erlaube, systemantagonisti-
sche Interessen zu entwickeln. Ihre in
diesen Jahren verfaßten Schriften
"Dialektik der Aufklärung" (1947) und
■Negative Dialektik' (1966) fanden bei
den sich für den Marxismus interessie-
renden Studentinnen in den 60er Jahren
großen Anklang. Ähnliche - und eben-
falls von den Studentinnen rezipierte -
Analysen legte Marcuse 1964/65 unter
dem Stichworten der
"Eindimensionalität" und der
"repressiven Toleranz" vor. 4 Marcuse
blieb aber mit seiner Randgruppen-Stra-
tcgic ein voluntaristischer, gcschichtsop-
timistischcr Ausweg aus der von ihm be-
haupteten Totalität der Herrschaft'. 5
Die Gründe für die Hinwendung gerade
zu den Theoretikern der Frankfurter
Schule sind vor allem:
++ hier wurde eine kritische Denkweise
vorgestellt, die die politische Praxis der
rcalsozialistischen Staaten ablchnte.
++ die Erfahrungen mit der Integration
der US-Arbcitcrlnncnklasse schienen in
der 'formierten Gesellschaft' der BRD der
60er Jahre ihre Bestätigung zu finden
++ Marcuse reflektierte mit seiner Rand-
gruppen-Theorie das Verhältnis von Inte-
gration der Arbeiterinnen und sozialer
Lage der radikalisicrten Studentlnnen-
schaft.
Der 'Marxismus' von Rudi Dutschke
und Hans-Jürgen Krahl
Die Frankfurter Schule-Rezeption führte
- bspw. bei Rudi Dutschke - zu einem
Marxismus- Verständnis, das sich folgen-
dermaßen charakterisieren läßt: 6
4 S nn EHU3 Mjüxb» bpj PthMtd* SZvWväf ur)
ht»mj»*faTxs. D* ErM H»t*1 Motuu jrf Om nUoW*
MimrgMi'VJ'g* " Om Kg. OrOcn «KW«
äxtriacMwvgxg p Om BP© (SMnM* Oat ShatogiMlldUfl
Mr SoiaSgMtfteft« ir3 Att«4(ib«a*ging f*jg. voi Fm* wi3
fObmK VWi t Hd
GM*hchlftiwiM*anÄUirtMBl9ö.b« 15 1.34 -36. 38 - 4S
5V(»J»W*.»»0.(FN4|.31I 411.
8 V(t um bpvdio: 04». Catmmr/ Stva ® f&n Ft# AfO B
Gnara. r SR. ScWhl «K*r Vol 14. Od.-0«C 1868.
131.142(1331)
126
** philosophisch um die Kategorie der
“Entfremdung" statt wissenschaftlich um
den Begriff der Ausbeutung zentriert und
generell von der hege Ischen Philosophie
beeinflußt
** politisch deshalb nicht auf den prole-
tarischen Klassenkampf, sondern auf das
mittclständische Leiden am vermeintli-
chen 'Konsunitetror' bezogen
•• antilcninislisch in dem Sinne, daß ei-
ne Partei allenfalls mit einer Nachtrab-
politik gegenüber den sozialen Bewe-
gungen akzeptiert wird
•• curo-zentristisch in dem Sinne, daß
der Stalinismus (ausschließlich) aus der
‘kulturellen Rückständigkeit' Rußlands
(wozu anzumerken ist, daß die Aufklä-
rung nach “Petersburg eher und nachhal-
tiger kam als nach Potsdam oder Gar-
tnisch" I * * * * * 7 ) erklärt und der bewaffnete
Kampf (“Propaganda der Schüsse*) auf
den Trikont beschränkt wird (s. unten)
und
** schließlich von nicht-marxistischen
ethischen Vorstellung bspw. Emst
Blochs und der kritischen protestanti-
schen Theologie (Helmut Gollwitz«) be-
einflußt.
Nicht ohne Grund wurden deshalb Lu-
käcs, Gollwitzer. Marcuse und Bloch als
die “vier Väter" Dutschkes bezeichnet. 8
Eine genauere Ausformulierung hat diese
Konzeption im Organisations-Referat
von Rudi Dutschke und Hans-Jürgen
Krahl auf dem SDS-Kongrcß 1967 erfah-
ren. 9 * * Dieses Referat, das erst 1979 nach
Dutschkes Tod wiederveröffentlicht
wurde, verdient aus mehreren Gründen
größere Aufmerksamkeit:
-- zum einen schuf cs die theoretische
Grundlage für die Veränderung der
Machtverhältnisse innerhalb des Soziali-
stischen deutschen Studentenbundes
(SDS) zugunsten des 'undogmatisch'-
’amiautoritüren' Hügels
- zum anderen versuchte cs ausdrücklich
nicht mit marxistischen, sondern mit
Theoricansätzcn der Frankfurter Schule
die Möglichkeit/Notwendigkeit der
“Urbanisierung ruraler (= ländlicher, d.
verf.l GucrillaUtigkeit" zu begründen
(wobei aber "Guerilla" fllr die Metropole
wohl nicht im Sinne von bewaffneten il-
legalen Organisationen verstanden
wurde. Denn Dutschke und Krahl un-
terschieden ausdrücklich zwischen
I fnuu Okj WM. UWmtsTu'tfi Itetorxs du
Zu r/HututSOu Sbcbauig du Sahma-Sfr^m n UOZ
|SOA* Hunmi) 4/I963 (<*). 42 • U (62).
6 Gnkhui IXUd**C». 0* Vtof b* Je*. CWT tru.Uuteu.
sec* n 4« «» (Hfl), na dmoh cm r«* i«3.
10- 17 an X*N*.*«0 FmiW.FNK.t11.
9 Ru* Dfflcf *• I Kraft OpuittaicirWaf (1987). it
Ir*» Le« l XkvuH 1 f-nöul (Hj|. CM knxun oO
(fartful an Uir|. IMS*. 137 - 139 h: OOa
) 1940).
10 V» «xfi JuNtr. taO TN fl. 41: UM fcuHW» Uto*wk> 0¥
l-l l>*«n u»cu»i. uö Q* Gvtvaraa Ml« 4*
hlltetlu«Mn vor ff* Sdr«^»»<Ki:
“Propaganda der Schüsse" prikont] und
“Propaganda der Tat" (Metropole].)
So wurde die BRD-Gcscllschoft in An-
lehnung aa Horkhcimer als "integraler
Etatismus" bezeichnet, d.h. die umfas-
sende Verstaatlichung aller Interessen-
gemeinschaften, z.B. der Gewerkschaf-
ten, Arbeit’gebcr'-Vcrbändc etc.
Dos Oigonisationsrcfcrat relativierte die
marxistische Anarchismuskritik, was die
RAF später verstärkt fortsetzte. Der aus
der Frankfurter Schule kommende Sub-
jektivismus wurde mit Aussagen folgen-
der Art auf die Spitze getrieben:
“Die Agitation in der Aktion, die sinnli-
che Erfahrung der organisierten Einzel-
kämpfer in der Auseinandersetzung mit
der staatlichen Exekutivgewalt bilden die
mobilisierenden Faktoren in der Verbrei-
terung der radikalen Opposition und er-
möglichen tendenziell einen Bcwußt-
seinsprozeS für agierende Minderheiten
innerhalb der passiven und leidenden
Massen, denen durch irreguläre Aktionen
die abstrakte Gewalt des Systems zur
sinnlichen Gewißheit werden kann.“ * '
Was hier als neue Erkenntnis moderner
kapitalistischer Herrschaft ausgegeben
wurde, wußten Marx/Engels schon im
"Kommunistischen Manifest" am
"kritisch-utopischen Sozialismus und
Kommunismus“ zu kritisieren:
"Sie sind Sich zwar bewußt, iu ilucn Plä-
nen hauptsichlich das Interesse der arbei-
tenden Klasse als der leidemten Klasse
zu vertreten. Nur unter diesem Gesichts-
punkt der Icidensten Klasse existiert das
Proletariat für sie. Die unentwickelte
Form des Klassenkampfes wie ihre eige-
ne Lebenslage bringen es aber mit sich,
daß sic weit über jenen Klassengegensatz
erhaben zu sein glauben. Sie wollen die
Lebenslage aller Gesellschaftsmitglic-
der," - des Menschen - “auch der bestge-
stelltcn verbessern. Sic appellieren daher
fortwährend an die ganze Gesellschaft" -
an den Menschen - "ohne Unterschied, ja
vorzugsweise an die herrschende Klasse.
Man braucht ihr System ja nur zu verste-
hen, um es als den bestmöglichen Plan
der bestmöglichen Gesellschaft anzuer-
kennen." 12 *
Aber immerhin war das Organisationsre-
ferat in der Lage, mit dem Legalismus
der an der DDR und der Sowjetunion ori-
entierten Teile des SDS zu brechen und
die Happenings und die militante Demo-
Praxis der Studcntlnnenbewegung zu
rechtfertigen - dies allerdings nicht auf
ein Projekt der Umwälzung der Staats-
macht, sondern auf die Aussendung von
11 Oj«M»*r#t>aO.(lN9).139
12 Kal Min / FmiiJi Eng«e. Umlm du KcmrMxftm R*W>
»1M4MV WEW 4. 4M • 493 (**).
13 d«iu ixfht. »«0. |fN fl. 9. 17. 27 I. »i K - 48. d* &u
•CN Ww « «T Itso-gistfwi so® rüge mx***
"aufklärcndcn Gcgensignalcn“ 14 , die
Manipulation durchbrechen sollen, bezo-
gen. 1* Dulschkc/Krahl schrieben:
"Die 'Propaganda der Schüsse' (Che) in
der Dritten Welt muß durch die
'Propaganda der Tat' in den Metropolen
vervollständigt werden, welche eine Ur-
banisierung ruraler Guerilla-Tätigkeit
möglich macht. Der städtische Gucrill©
ist der Organisator Schlechthinniger Irre-
gularität als Destruktion des Systems re-
pressiver Institutionen."'^
Es ist nicht verwunderlich, daß dieser
Text - bis zu seiner Wiederveröffentli-
chung 1979 - so lange in Vergessenheit
gerici (bzw. verdrängt wurde): Zeigt er
doch, daß die Genossinnen der RAF
keine exotischen schicßwütigcn Despera-
dos waren, wie sie bald - vor allem als
sich die staatliche Repressionsschraube
dichte - auch von vielen APO-Aktivi-
stlnnsn hingestellt wurden. Vielmehr
knüpften sie durchaus an Überlegungen
der Studentinnenbewegung insgesamt an
und entwickelten diese weiter.
Das Organisationsreferat belegt, wie an-
dere Reden auch, die bspw. auf dem Vi-
etnam-Kongreß 1968 gehalten wurden,
daß wesentliche Elemente der Theorie
und Praxis der RAF zumindest Ende 60er
Jahre von vielen vorweggenommen ,' 7
von Zehntausenden akklamatorisch be-
grüßt, allerdings nur vun einigen in die
Praxis umgesetzt wurden.
Die 'proletarische Wende' von 1969
Ein weiterer Grund für das Vergessen
bzw. Verdrängen des Inhalts des Refera-
tes lag gerade darin, daß die theoreti-
schen Anleihen bei der Frankfurter Schu-
le unverkennbar waren während diese
ihre Attraktivität bei der sich rasch politi-
sierenden und radikalisierenden Studen-
tinnen- und außerparlamentarischen Be-
wegung verlor, was mehrere Gründe
hatte:
14 CU*l*»Kr»t *aO. (in «. IM.
isv(j ouu Qrf.uopiei na - cm* r<M e-wovrg oc an *-
IWÖ* Ff»Mn UWto** ra Jan 1K6*. 4 Vul ) buMM «X du
T>*C*« Ml M»n • AJLMnxg PlXMfcMrf -.
4« CM II» du twwBl M t ft MindMa» PcmiM >tn
panx***u\ Attoun Wem CDwN 4 m« KoWn rtft
'nua^rteurf rn lUdNf n Mnh«f*i Sn* Bt w dxfivcn
du Min «rar oujuKJuittui AiwQrd« *>. Ei (das ie*M\ d.
Vari) «4M K&flMm «not turtan hpii «n der RarcpWi vn
r>« Ujros«. uri Otoo» irü 0«. uidr^na*
UuaO\ fitYuKnkOu - r«y«a.'wi ird 0 u
Kuhr 0m KcmuTU u«J M rudi du SiuMnar*’) ird utiuu
R ■* rrWcoJurn Hantgrf («j«ncy . uoa: Ajrhr.
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hct.lcm 0Uu\. Ot Uu Om VMiMg vonraMn. WArttjer
tUn. 4« BMfium'ßuW SiKiBn.
«1 HuuaxUu IMS yurKayvB F®mr IMS WnB^r. Otr
<jrtt au vemruVufui Votu inä 4« GtxaiamnM 0a
trpvMtoTul. 1987 (RtomQ »Mn «d». »»0 (TN
4). 73. 1(6. fN 31. 114.
127
-- einmal bot der Maoismus die Mög-
lichkeit. sich mit dem Marxismus zu be-
schäftigen, ohne dadurch Sympathie mit
den osteuropäischen nominalsozialisti-
schcn Ländern zu haben, die durch die
Prager Ereignisse 1968 nicht an Ansehen
gewonnen hatten. 1 8
- wichtiger noch war. daß sich das Theo-
rem der Frankfurter Schule von der tota-
len Integration der Arbcitcrlnncnklnssc in
das System des 'integralen Etatismus’ als
falsch hcrzustcllcn schien. Die Ereignisse
um den Pariser Mai 1968, der proletari-
sche Widerstand in Italien sowie die Sep-
tember-Streiks 1969 in Teilen der
Schwerindustrie der BRD ließen viele
Aktivistinnen der außerparlamentari-
schen Bewegung die Bücher von Ador-
no. Marcusc etc. in die Ecke werfen und
traditionelle marxistisch-leninistische
Parteikonzepte studieren.
- Dabei konnten sie den Kulturpessi-
mismus der Frankfurter Schule in die len-
inschc These vom Imperialismus als an-
gebliche Täulnis'-Phasc des Kapitalismus
transformieren.
Die rasche Gründung verschiedener ML-
Partcicn oder Fraktionen, die sich gegen-
seitig darin überboten, auf dem Boden
der Vorstellungen der 20er Jahre zu ste-
hen. ließ erkennen, daß viele die rein be-
trachtende Perspektive von Adorno.
Horkheimer etc. als hinderlich für ihren
Aktivismus zu begreifen begannen.
Wir können insofern Lutz Täufer zu-
stimmen, wenn er schreibt: "Aber cs liegt
in der Logik der 68er-Bewegung. Die
marxistisch-leninistischen Studentenpar-
teien sind ihr legitimes Kind. Insgesamt
tiadogt irU*. »« u amno-rnn Unu au>
dum "II* n orn 0«-«v»l 0>Q— I ™ H» V«-
i«*ju>g au SttJmmi Mw gthm ton« b r* »
Pst* Oros \er, One VKt«i»rq nmnMsl ny«
Dm l» temjbfi* Ki Krtfc ua Mm da tamrimdwi
So lag «i zimröm» ruM. M0 sa m tot nOmwd*
KPflSU raOi Säht Tod bn WC« «timn» TM«. 0. ,
ItWJOxn an» SKManuC, da SDVaMtU
inadO >a Kouttwnr nt dem rterulvrin 0* EfM&ng da
Dtsaj du ftoMUrt« 0*0) 0* San On grw Vokti <k ton
19* n d* tUkdcPm Vtrimuig ut) «xi OmMfafo.
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ird 1973 Füf dai VwijJi so« ^mtnSr^K-tdOrt^; da itocb»
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S<Mp Md **i*\vwrf*d SdMbrta. VW II. K'i M7>. IM •
I»
blieb uns ja gar nicht anderes, als an der
Vergangenheit anzuknüpfen, die, ohne
Durcharbeitung, liegengeblieben war.
Und wie anders sollte die Ablösung von
dieser Folie erfolgen als Zug um Zug?!
Nachdem die Generation vor uns den Fa-
schismus nicht erledigt hatte, wie sollten
wir Uber den traditionellen Antifaschis-
mus hinauskommen, die Fehlentwicklun-
gen der organisierten Arbeiterbewegung.
dem Gegenspieler dss Faschismus, korri-
gieren? (...) In ihrem Wesen war” die
68er-Bewegung "Abwehrschlacht gegen
tatsächliche und insofern vermeintliche
Faschisierung (...) und insofern Wieder-
holung oder Verlängerung der antifaschi-
stischen Politik der Weimarer Arbeiter-
parteien." 19
So wurden die mit der Infragestellung
der Frankfurter Schule aufgeworfenen
Probleme aber nicht gelöst. Vielmehr
wurde der Subjektivismus der Frankfur-
ter Schule einfach umgekehrt und durch
einen Objektivismus, der gleichermaßen
die post-stalinistische ('revisionistische')
DKP wie auch die 'maoistisch'-stalinisti-
schen ('anti-revisionistischen') ML-Grup-
pen prägte, ersetzt.
Dieser weitgehend auf Proletkult und ei-
nem stalinistischen Verständnis von Par-
teidisziplin reduzierte 'Parteiaulbau' ei-
nerseits und die Reformpolitik der An-
fangsjahrc der sozialliberalen Koalition
blockierten eine revolutionäre Weiter-
entwicklung der Revolte von 68.
Bei den einen führte also der Weg vom
kritisch-theoretischen Bewußtsein der
Studentinnenbewegung zurück in die
20er Jahre. Die anderen “gehen in die Il-
legalität". 21 Sie radikalisicrtcn den
Randgruppen-Ansatz von Marcuse sowie
Dutschkc/Krahl: Sic entdecken die
"Propaganda der Schüsse" auch für die
Metropole und wollen damit den integra-
len Etatismus und das angepaßte Be-
wußtsein der "passiven und leidenden
Massen" durch-/aufbrechen. 22 S. dazu
die Erklärung zur Befreiung von Andreas
Baader (1970) und die RAF- Erklärungen
seil November 1972 Dazwischen lag ei-
ne kurze Phase, in der sich die RAF be-
mühte, eine marxistische Konzeption des
bewaffneten Kampfes in der imperialisti-
schen Metropole zu entwickeln (s. Kon-
zept Stadtguerilla [April 1971 1 und
1» UU TW*. GfMnMo sejen da n Pua (Hj J
t>*UM - rwaOwi dm MBn. V«bg IbaOtn Am Mfc*
1992 . 59 -121 ( 47 )
20 V* Bey. *» 0 . (fN St. 137 . IC fN 9
21 T«/*.a*0 (FM 191. «8.
22 Vj» M Swmrg Mt drfinpn da nön «WW.
Wt*tW 5 a’»*n’ pi grxOm. roci trän lUr TbJk TM Fern»
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UuiBW»flt*s *n}«9*t^ooTm«n *vM ‘ (tat*. uO [*N
I«.e9i|
Stadtguerilla und Klassenkampf [April
1972]).
Rote Armee Fraktion:
Der Versuch einer revolutionären In-
itiative
In die oben skizzierte Zeit der hektischen
ArbdtFRtiimclci und der Pnrteigründun-
gen fiel also die Gründung der RAF. Ihre
Auseinandersetzung führte sie deshalb
zunächst kaum mehr mit der obsolet ge-
wordenen Frankfurter Schule, sondern
vor allem mit dem Marxismus-Leninis-
mus und den verschcdenen Parteien, die
jeweils allein die korrekte Interpretation
davon beanspruchten. Deshalb es nicht
verwunderlich, daß sich zwar gestritten
wurde, ob die RAF marxistisch-leninisti-
sch oder anarchistisch sei. Auf Verbin-
dungen zur Theorie der Frankfurter
Schule aber nicht geachtet wurde; bzw.
wurden diese Verbindungen allein von
reaktionären CDU/CSU-Politikerlnnen in
ihrem Kampf selbst gegen die Position
der radikalliberalen kritischen Kritik der
gesellschaftlichen Verhältnisse in der
BRD thematisiert.
Die RAF versuchte mit der in ihren er-
sten theoretischen Schriften skizzierten
Konzeption die vorstehend angespro-
chcnc Blockierung des revolutionären
Prozesses durch die Fortsetzung des stu-
dentinnenbewegten Subjektivismus
durch die Spnntis einerseits und «len Ob-
jektivismus der diversen
'kommunistischen Parteien' andererseits
aufzubrcchcn:
I. Die Gründung und Existenz von Gue-
rillagruppen. nicht nur in der BRD, war
ein praktischer Btuch mit der Versozial-
demokratisterung der Kommunistischen
Parteien, ihrem Revisionismus und Lcga-
lismus. Anders als die ML-noslalgikerln-
nen, die in den "0er Jahren massiv
auftraten, war die Metropolcngucrilla ein
praktischer Bruch mit dem Revisionis-
mus, auch dem stalinistischen.
Das mag erst einmal überraschen, weil
zumindest in ihren theoretischen Beiträ-
gen wenig Auseinandersetzung mit dem
Phänomen des Stalinismus erfolgt ist.
Während aber die legalistische. revisioni-
stische Praxis und Theorie der KPs kein
Bruch, sondern eine logische Fortsetzung
stalinistischer Politik ("Sozialismus in ei-
nem Land". Volksfront-Kurs seit 1936
etc.) war. entstand die Metropolcngucril-
la weltweit aus einer linken, nichtstaiini-
stischen Linie. Die Gucrillagruppcn im
Trikont. auf die sich auch die RAF be-
rief. wie die Tupamaros in Uruguay, die
Gucrillagruppe um Che Gucvara oder
ähnliche Gruppen :n anderen Staaten,
gründeten sich in Abgrenzung und oft im
Kampf mit dem Volksfront-Kurs der
KPs. Dies veranlaßte Fidel Castro seiner-
128
scits zu der Aussage, daß dann, wenn
Kommunisten versagen, andere die Re-
volution weitertreiben müssen. 23 So sah
sich die RAF auch von Anbeginn in einer
Linie mit international kämpfenden revo-
lutionären Gruppen von Lateinamerika
bis Palästina. Die Aktivitäten dieser Ge-
nossinnen lösten weltweit einen revolu-
tionären Schub aus.
2. In diesem Kontext lehnte es die RAF
im 'Unterschied zu den •proletarischen
Organisationen’ der Neuen Linken" ab.
"ihre Vorgeschichte als Geschichte der
Studcntcnbcwcgung’ zu leugnen. 24
Gleichzeitig versuchte die RAF - wenn
auch sehr vorsichtig - die Defizite der
Studentinnenbewegung zu benennen:
'Gewiß war das Pathos übertrieben, mit
dem sich die Student/nnen, die sich ihrer
psychischen Verelendung (?!) bewußt
geworden waren, mit den ausgebeuteten
Völkern Lateinamerikas. Afrikas und
Asiens identifizierten; stellte der Ver-
gleich zwischen der Massenauflage der
Bild’-Zeitung hier und dem Massenbom-
bardement auf Vietnam eine grobe Ver-
einfachung dar; (...); war der Glaube,
selbst das revolutionäre Subjekt zu sein -
soweit er unter Berufung auf Marcusc
verbreitet war gegenüber der tatsächli-
chen Gestalt der bürgerlichen Gesell-
schaft und den sie begründenden Produk-
tionsverhältnissen ignorant-'' 2 ^
Die "proletarischen Organisationen" so-
wie die linken Intellektuellen kritisierte
die RAF aber nicht (nur) - wie es richtig
gewesen wäre - wegen deren falscher
theoretischen und politischen Praxis,
sondern sic setzte deren (falscher) Theo-
rie einen praktizislisthcn Standpunkt
('die Praxis’) entgegen. Die RAF schrieb:
''Praxislos ist die Lektüre des 'Kapitals'
nichts als bürgerliches Studium." 26 Sie
setzte der notwendigen theoretischen Ar-
beit die These entgegen, daß es "ohne
die praktische, revolutionäre Intervention
der Avantgarde" keine Vereinheitlichung
der Arbeiterlnnenklasse geben könne 27
(was an sich richtig, aber in dieser Entge-
gensetzung falsch ist). Die "praktische
revolutionäre Initiative" reduzierte die
RAF dabei wiederum auf den bewaffne-
ten Kampf: "Die Rote Armee Fraktion
redet vom Primat der Praxis. Ob es
richtig ist. den bewaffneten Widerstand
jetzt zu organisieren, hängt davon ab. ob
a V$» U d mm KatrmnUntUxtg Kpw JCk«. aaO. («N 4 ). 53 .
55.57.73 9?mwN
2t na« Am*« Frauen. Du Ketvta &*»***• (1W«|. *
AcdsMoi Ajjsgr-i-*, 0*u-*rt« «* ZttptxUHt &■»
Ositp-A« ÜROtfitrO {BRO ) ■ ZU Ar*« FraUoi (W). GW
VVUj KOI. 1938*. 5 • 13 »; • -*Oche Fom«i h*
iȟ mtoipnjan *n dtn Vfd. cnjefi#
K BAF.aaO. (FN 2«X 8 • Arm d 7«rt
»RAF.aaO <FN2«i*
27 RAF. ja 0 :‘N?4)9t
/
es möglich; ob cs möglich ist, ist nur
praktisch zu ermitteln." 28
Sicherlich - es gab such andere Bestim-
mungen in den frühen RAF-Tcxtcn (auf
diesen Unterschied zu den späteren RAF-
Schriftcn haben Ali/Bemhard/Michi in
ihrem in dieser Broschüre dokumentier-
ten Messcrriickcn-Tcxt zu Recht hinge-
wiesen). Bspw.: "Wir sagen nicht, daß
die Organisierung illegal bewaffneter
Widcrstandsgmppen legale proletarische
Organisationen ersetzen könnte und Ein-
zelaktioncn Klassenkämpfe und nicht,
daß der bewaffnete Kampf die politische
Arbeit im Betrieb urxl im Stadtteil erset-
zen könnte.” 29 Diese Bestimmung ließ
sich aber aufgrund der Repression und
des weiteren Abflauens der Bewegungs-
reste von 1968/69 nicht durchhaltcn.
Und mit ihrer anti-theoretischen Posi-
tion hatte sich die RAF die Möglichkeit
verbaut, diese F.rfahrungen zu verar-
beiten und sie produktiv nach vorne zu
wenden.
Die subjektivistische Wende der RAF
nach dem Scheitern ihrer Mai-Offen-
sive
Die Folgen sind bekamt: Mit dem Schei-
tern der Mai-Offensive, den Festnahmen
von Andreas Baader, Holgcr Mcins. Jan
Raspe am 1 .6.72 und kurz darauf - neben
anderen - Gudrun Ensslin und Ulrike
Meinhof. war die - von Mao beeinflußte -
marxistisch-leninistische Phase der RAF
weitgehend zu Ende. Die spätere RAF-
Politik war kaum noch vom Ziel ihrer
Anfangsjahre - Revolution auch hier
sondern - neben der Solidarität mit dem
trikontincntalcn Befreiungskampf - vom
Kampf gegen die staatliche Repression
(insbesondere gegen die Gefangenen)
und später auch von den Kämpfen der
sozialen Bewegungen (Anti-AKW. Anti-
NATO). die ihre 'revolutionäre Identität'
aber hiiuflg auch weniger aus ihren Inhal
ten als vielmehr aus ihrer militanten Pra-
xis zogen, bestimmt.
Ali/Michi/Bemhard zitieren zu dieser
(gegenüber dem Kcnzcpt Stadtgucrilla)
neuen Bestimmung Karl-Heinz Dellwo
aus dem KONKRET-Interview der Cel-
ler-Gefnngenen: "Wir wollten für die
Linke einen Raum schaffen, die Illega-
lität. in dem du erst mal Subjekt sein
kannst - politisches Subjekt, das zum
Angriff kommt."
Die Politik jener Jahre nach dem Schei-
tern der Mai-Offcnsivc der RAF (und mit
der langsam einsetzenden Ernüchterung
über den stalinistischen 'Parteiaufbau')
bedeutete eine Wiederaufnahme des Mo-
tivs der 68er Revolte:
TS RAF. a» 0. (FN 24). 9 • 3 Verf.
29 RAF. ja 0 (FNT4X6
"In Westdeutschland rekonstituierten
zwei Faktoren die alle Opposition (...).
Einer war die Bcrufsvcrbotc/Anti-Tcrro-
rismus-Polilik, welche das antiautoritärc
Motiv als mobilisierendem Medium einer
breiten, vereinten Kraft aktualisierte. Der
andere war der Anti-Atom-Protcst. wel-
cher die BI-Bcwcgurg radikalisierte und
ausweitete (...) bis der 1972 gegründete
Bundesverband der Bürgerinitiativen
Umweltschutz (BBU) über 300000 Mit-
glieder hatte. 1977 brachte die Kombina-
tion beider Themen" [Brokdorf/Kalkar,
Stammheim und der militärische Sieg des
Staates in beiden Fällen] "die außerpar-
lamentarische Bewegung in ein wichti-
ges, neues Stadium, das 1980 zur For-
mierung der GRÜNEN als bundesweiter
Partei führte. (...). In einem überzeugen-
den Sinn repräsentiert grüne Politik die
Wiederaufnahme des Anti-Autoritatis-
mus der APO mit seiner charakteristi-
schen Betonung der Themen der Herr-
schaft und der Entfremdung und der Ba-
sis von Befreiung/Emanzipation und der
Hervorhebung der gleichen Wichügkeit
der gegenkulturellen Erkundung eines al-
ternativen Weges des Lebens. Die Beto-
nung der direkten Demokratie (...) und
die einer zentralistischen und bürokrati-
schen Partei entgegengesetzte Idee der
sozialen Bewegung. In diesem Sinne war
die APO die eiste 'neue soziale Bewe-
gung'. (...) der Spruch ( talk ) vom 'Ende
Arbeiterklasse' (...)" 3 ° kam auf.
In ihrer rcchtsopportunistischen Variante
führte die Wiederaufnahme des Motivs
von 68 also zur Gründung der GRÜ-
NEN; 31 in ihrer linksopportunistischen
Variante bildete diese Renaissance den
Hintergrund des schon früher als die
GRÜNEN-Gründung einsetzenden mili-
taristischen Subjektivismus der RAF. 32
der allerdings theoretisch erst mit dem
X El «. 8*0 |FN 61. 133 • 140. 16«. d V*1.. ■Bauttrtrte«' m«
dMKfitMMjM
31 0*«n ZisawVonj Ufi - GFÖNE «irfi
JxHti. aaO. (FN 4). 76
3T "Von Om Uta- dar tubajtt Jsfr« ünjjtttobmi m «tut zu 6«-
9«n Om Xm SM «in’ GHÜNf inJ vnM &liD«rtTKn.
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ganSdnn. da ui du Sut* rafi aWaan am an
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AKW-. HaMastfra- inj ArttaMf*m*jing h*«’ In
Hixgnsia* 1561 maxolacne (ragmnti urfl BagritllfcfUaMn
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«UT(*rodi tMOm, itom ut\ UkMm: «oflita BoMWo
«tavjtn «4M OOamfctiSjai Pot&M- urü (fcanrKftur^
IrtWfl vCrt ÄW)lh|f N
I«eftn«*S9M wsuiiKin SUMwewrai*
Orra, AJtHjvuUk i nS **xtvf*r**t " Pmtet&m Wktmw-
nM 5\Oo-(l»>orj*lrg iTimMirt Mari). T« - 27(26 J
129
Front-Papier von 1982 zum vollen
Durcnbruch kam 33 :
1967 sagten Rudi Dutschke und Hans-
Jürgen Krahl in ihrem schon erwähnten
Organisationsreferat:
'Durch die globale Eindimcnsionalisic-
ning aller ökonomischen und sozialen
Differenzen ist die damals berechtigte
und marxistisch ricltigc AnarchismusAri-
lik, cic des voluntaristischen Subjekti-
vismus. daß Bakunin sich hier auf den
revolutionären Willen allein verlasse und
die ökonomische Notwendigkeit außer
acht lasse, heute überholt Z' 3 **
Die RAF griff diese und die schon oben
angesprochenen Üterlcgungcn aus dem
Organisationsreferat zu 'integralem Etati*
smus'/Manipulation sowie von Marcuse
die Kategorie des "ganzen Menschen" 35
in ihrer Stellungnahme zur "Aktion des
Schwarzen September" während der
Olympischen Spiele 1972 in München, in
der sie erstmals ihre neue "Strategie des
antiimperialistischen Kampfes” begrün-
dete. und 10 Jahre später im Front-Kon-
zept lolgendermaßcn auf:
•w Oh cWtfvmo Mt WJutJtnajM rat oh 2tSxrJ*n»j Oh
Mdöxi Mi SfCtoa Cf* Om -ft**« tHrtn S»5*ii\>3 BigMfMan
• ml Mf ScfWTuig «n i*>3 Q*wr™nttpö«« ha
du S|P-m den SegM&o M Ptt». EbWVüs«. AHnuM*
Promt* . Spcntmrtd. tan: Om gmrn\ Utoteftm B'gH'iWn 1 Du
s»aim n 0 u n Om Mwcp*n gtuMfll Oe Mauai » M «Mn
ö*a oj MMn. MS ta MS GtfM Ur tot Up ak Ausgo6M«< xd
UMittCcta. ab CCjM* Mt mnHUOm Sp ln -Kgüwfil
-Htxm ju neun ictu«n. » Mt m för» AUo. an paar Pümr T»
Ut*-sv( vttrxiQ ind Mo )»Mi VtrtfoJxn dsi Sy ■
eure MM« f KbJ Mftwn. M to* h*s sxWw ak •* Wo. am
FaMraaka. ak gü*7«lK 8a! öun rex" voai(**i uU mrvtm
Unox C sun ktyXa.ätäOm rmtaOoHn Süf#« HOrR Mt
Motto*" Ks <tet*i l<tict/m *ial urd «ra Ttfufm. bi Mn
Vubntfx n Ms Systors toatijd. COS pMR On.Ot m BoVitrgi-
an# OH Wfcaf OH Crt» Wtf « Uarttk IWMtfl
0*<l« ttn v^nrüprt. |adar, Motfa ntfo ntfv r*r*M rtrakflml
>H S«*)M i Mt ■ OatuHi*
TtoraH VwiMsrw.Yor.of 1 bq nc« inato tu g# 0 c»xf*n ■ rxM h
Mr Fo«. <M U*r». Eng«. Irtc Rot» UaMuig au Mf Sot»
(J^e^)(»ut(>r*UMraMn-ej»K«f*M«iM»F»TOiMBfcr.-
9» Büx n. U*t. Kgpoft» tm KT-ÜM xü vaila-Mn MC*n • uv
n(«ltorin* trreftn Shnfcn. (..) 06 M» M>
afai AmctaUran an Vo «ft. ■* o* Mt ant Oroi (to Enfatji]
des tic«iabnus o*aläo HoroJud Ms K*«ator«.i 06« Mn
VantcM'i • (..) • man*»jn«att sat uMnucroi • at lavi tan. -36
•0« EfntyM dH »mar« HxnOg» « toftMlm Pmwai **M st-
« Mstta\ Am a VHf ) varwoana Ucman Mf Vaiititrsi) Oh
BadrvjunBitCrOoiKjntfhBrtJ Es 9«q MCoi JWs trq dm.
(i <tou< [cOOtMi Wiö*. p Oh itot im Stfnv Wra. Vawtanj.
33 2d Bav«gxi?tcflai«aan] Mi riort-KanracU *.: ftoa Mnsa Pial-
taiGuacU tVOsuwü aW «ttwofanKf* (tse 2 ). n üs-
d*»i a.tO ffN 24). «16 - 122 (IH I. 120 1) ’Mtfl 9 « •• (Ml
•« «aoaa-t ab (Vifi « G#9*U«i jö $<•»!
«rfwn Uh M ift.i iM fu» ak tfvjtMTra UVankrvj «iito ad
I« SM. Karpt naiMn a tarn (.) Du haÄ (.) h aMm <*
Htm WM&scfai Kernt# tu ao jedes, oh aut 0*n Er«
M> «gavn Lagt, au san« GanAtfita inJ taium
PraJfO a" (..) n dan lorKKai Karp. n Mi Zuurnro-naij Ott
PcU du Guarfi) trat. Untntf du guatechiMtriai Vufvtoiasa
H. Wem LaMi nJ< r amr .huui CbaiTangaU««. Steg oöf
aä Üjsmor* Ott SSaVt v^aSi* O. nröun du wIkCOu
P raaB det Wduttudt. ird du UirgaOatjij rjr
dHmq' CHuvxn a vm.).
M OuwNBXrm. aa.0. (TN W 119- HuwA d. Vad
JS %.) ugen. d(fi tau d« grn Manwr nn;<M ird ttrai Wai
am Latar. amaOW, (_).* (Hubtl Mututr Ojs PwCMn otr Cent
r> Ott Cftotox. in dar». Ob tnM Otr Itte* VMjo in3
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* Oft* Amte FW.101 O* Al» Mi SMMOM S^tHTC# K Mül-
dun 7af SB«g>s Ml BfärpaftibW.-nai n R*»xn.
»•0. (FN 241.31 -«004.37).
lüje wd B«v} at. dH G«1 mt Usstl. da Pnut (to tc»««'*
Oununng det -^r-demdöien 6ucW ird dei 2e<tiüv<j dat Sy-
Mis haiarautrtigan [.-! « 0 * Si-Wffa. 4a K-a »Vxirf Sa* Mi
hi tx^ort iclco fdii th#o cn0»‘to Lft^ h (Jh
du lotttm das »rperUttMcftw Zanruns. (. ) Ctow Pcük (du
RAT . a Vad.) ) -M» n<M ncdi er« Mw- »6 »tttenJBi deoH-
jsfoi UMela (u-| »At.J* Sa « vMtwk sei "Sijiäl de* Wcpd
I I. da WtoMrMmaAWv du «Mn »nanston Me UanacAan
Nachdem nun (1992) auch die RAF die
Grenzen dieses Subjektivismus erkannt
hat, deutet vieles darauf hin. daß sie jetzt
(wenn auch vorerst nicht organisatorisch,
sondern nur politisch) in den Hafen des
anderen (rechtsopportunistischen, grü-
nen) Subjektivismus cinläuft. Die sog.
"Propaganda der Schüsse" wird wieder-
um - wie bei Rudi Dutschke und Hans-
Jürgen Krahl - auf den Trikont be-
schränkt. ln ihrer WWG-Erklärung hat
die RAF im vergangenen Jahr erklärt,
daß hier keinerlei "bewaffnete aktionen”
den "jetzt notwendige(n) prozess (...)
voranbringen" könnten (interim. Nr. 201,
09.07.1992. 16 f.) (inzwischen scheinen
sie cs wieder etwas anders zu sehen),
während sie den "bewaffneten befrei-
ungskampf in anderen lündcm" nicht in
Frage stellen wollen (S. 15).
Frankfurter Schule-Elemente in der
RAF-Theorie
Abschließend wollen wir (noch einmal)
auf die wichtigsten theoretischen Paralle
len zwischen der Kritischen und der
RAF-Theorie hinwetsen:
- Ausgangspunkt der Kritik an den herr-
schenden Verhältnissen ist nicht die Aus-
beutung, sondern die Entfremdung; nicht
das Sein, sondern das Bewußtsein.
W« »H U>»M in) AüT*T«J>; Ott V*to<l KtlUl 0*1
HgtrttchH) f Hrt tut 0m kijm VHt rktl mH Mn QrxOrt*-
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VtOliWsun. Btorfeb «Tun H nt OHM WdBKüttP«
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Gn»d->5BS<iöi Ml fMi «fOgr-SOTiai «l»sndi
rMvrai Mcä ird Artxl m te ton pvHat Avxgxnj uij gtu»
RTrfto« Prototon) ab UiskM Hamlo goMlxtoMcMf Ef
otorr« lodern Mm fc^Bi (rß XammjaHtn. *»•
M»on «1 IHOI 0« ajmmtwo-uaim. Z«osnng M( IA1-WS
ovm) (\rd (to oiMnn aUgxäscMn WMflp-XM gWfi vOSfl
OxMd). M«Vto «Ofm« soff) MraA. <to Art4i«w«4asM M rw*
cutorton Vjim o-JuuMn m5 l«m«McM Jd BK<a»s)ccr«
«UfW • mt*MH M K*W • n« tut KsntM tu Mftrxn.
TaakMcn a6« ird <to PoMU»«Vn#i |c(r* Bsur m MM-
M— M*i). slw Ot Lofnitf*Wn. Ot Enogoa tto (to U&jrJtat
J7«V.a»0(lNm(117.12l|
W". (to H«wa" Ml KjptUl U Kimn ird (to Ilo-Irta* 16«
0* P-cdÄai«n0e( ru cm. (to0 dWi mm re» H«i-
«Mf! i«w (to AtMBtownitaiM goWuMn »rt ato UUtohkh
«« W s i M WmmW »foWiBim wm «0 Rom voi .«« Uuw
»IBi G.waWu(1 ncfl M« lf«B (^rais Nrtwi w» (üm Ottl aio
«Mt B*J«II »g. s8 Ml • ctotfao bMdwleMn - Ka» im (to
Uh*ä\ÄT 5 öff r? * Rccfxo {CAj^^is&schcn) Pruts dw
iWhWMim n tet «Vi--Jl (nkBcn • dh moUoüfB • Prim ad-
w<f«T»n Ei« Aiig«.. Ot nJi fruJJOi Mi b«J«*i LMtrait-
hnqWt lM niBS • ml Mn rOMtntyn Afdo-^gan • magfoS-o-d
Kd ErMiBdung it>« au VertaS«) ven grUUn Taten fl« Art«»
«nnitüuc. UigMiU traMcn Ott T«rpM vnj UlMMMWM
rnl Mn MiaMn Mr iUrt*nj«>Mi KStpl«) trO twai Ox-
len Kot nci txn VKUttw 0 h »g*rtkMn Un«M. Mi «a»«i-
(>-)/„! Mt K^-io««vkn Xe». l>nn Ommo oe iu
CMfanMn (kitfi M AJnBm« Ml ^oBUfOd»! co-
K«Mn. t)~>t(«7« ) KLcw-fccr«/« - W«Vt«M
nx Auiwrtuigto M*i-cfl. in»l MJ« 1 ai Mn toneOKden Wh-
ntoiai«\ itoidli vfrft «'» nu ihm
-- die gesellschaftliche Wirklichkeit wird
(im Rahmen der hegelianischen Marx-In-
terpretation von Lukäcs und der Frank-
furter Schule) nicht als (komplex geglie-
dertes) Ganzes, sondern als Totalität be-
griffen; statt von einer Einheit der Wi-
dersprüche geht diese Vorstellung von
der Identität der Widersprüche aus; die
Widersprüche sind (Eher nicht entschei-
dend, sondern bloß 'Ausdruck' eines ein-
fachen Prinzips. 38
-- bei Hegel ist dies der Wcltgeist, bei
Lukäcs und der RAF das Warenverhält-
nis; mit diesem einfachen Schema wird
alles und daher nichts erklärt; eine
"konkrete Analyse der konkreten Situati-
on“ 39 wird nicht geleistet: im Rahmen
dieses Konzeptes kann schon die marxi-
stische l'hese von der relativen Autono-
mie der Überbauten nicht gedacht wer-
den; die Überlagerung des Kapiialvcr-
hältnisses durch Rassismus und Patriar-
chat erst recht nicht.
- da so die tatsächlichen Widersprüche
(Bruchlinicn) - als Ansatzpunkte ftir ef-
fektiven Widerstand! - nicht analysiert
werden können, bleibt als einziger Aus-
weg der subjektivistischc Sprung.
-- ebenfalls im Anschluß an Hegel wer-
den (philosophisch;) Vernunft und
(wissenschaftlicher) Verstand entgegen-
gesetzt und crstcrer letzterem vorgezo-
gen; die Wissenschaft wird - aufgrund
ihrer Funktion, die Realität (und - was
geflissentlich übersehen wird: ihre Ver-
ändetungstendenzen!) zu erkennen - als
unkritisch, demgegenüber die Philoso-
phie - da sie nicht von den Tatsachen,
sondern von den Ideen ausgeht - als kri-
tisch dargesteUt. "Die alte spiritualisti-
schc Verachtung fllr das Endliche und
die irdische Welt Wiedererstehen als Phi-
38 S. Omi U«n Glefam*#. g^on GMtoova
Potttrtn |1K9). n atxrjfv» 2*icMl Kt U«*.f irO OHuum
Wna*9r& VO 71: u Uo*i Gottnvm IMfoM
.n»ftövw<-«9MM*.»<>m 970.X 87(7(1
loul AJhuSMf. Wöbs*«" «W iew»l*mn*i«v Vmo*uig*n
l> Mto UW«*x»g |1W21 xö rtx. "uiiruUisQx ftit. O* Von
Mf Ufgt*cf(#l Mi UiW>gB |1953). n: Mn. Kt Um. S(7-a-p
VBl*;PrvMu1BnMj«.1Xi.S2 99;a)xö 103- 1S7 1137-167)
SsJ *Jf«. ».toxi iro Pe«c loa APunif. irt(Mi V«ag Fr»-#
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39 W l Uro. Xonrnnarva* (1K0). n Ml . WM& SarO 31. »M
(15*. 1 a 153) *i Mül* AuHnuvMiMOunj rx tw tttP «n
litaci MMVuSm ZdiOiffi
130
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«3V0 (UMPccjW.Uil.no IFNII ) .ml
losophie der Revolution, besser der
Revolte'. Es werden nicht etwa be-
stimmte historisch-gesellschaftliche Insti-
tutionen bekämpft (wie 'Profit',
Monopol' oder auch 'sozialistische Büro-
kratie'). Man /frau bekämpft Gegenstände
und Dinge." Genau in diesem Sinne kon-
vergieren auch bei der RAF Theorief-
eindlichkeit und eins Kritik des analyti-
schen, zerlegenden (im Gegensatz zum
'organischen') Denken einerseits und die
Forderung nach 'Vernünftigen" (Eva
Haute) bzw. ''sinnvollen Losungen"
(RAF-Erklärung vorn Aug. 1992). 40
- Auf der Grundlage dieser Übernahme
des hegelschen Idealismus ist es dann
auch kein Wunder mehr, daß sich die
RAF und Teile d:r Gefangenen die
Durchsetzung gesellschaftlicher Verän-
derungen im Wege der Durchsetzung
neuer Werte' vorstellen.
- Diese 'Strategie' steht schließlich im
Kontext der Interpretation des Kapitalis-
mus nicht als eine Art der Organisation
des sozialen Zusammenhangs, sondern
als Zerstörung des Sozialen’. Dadurch
scheint der Imperialismus ständig am Zu-
sammenbruch zu sein. In dieser Perspek-
tive mag cs vielleicht plausibel erschei-
nen. sich auf die Durchsetzung 'neuer
Werte' beschränken zu wollen und da-
durch dem Imperialismus den letzten
Stoß zu geben 4 * In dieser Perspektive
wird ideologischer Klassenkampf allen-
falls dahingehend verstanden, "'bedrohte
humanistische Werte’ dem
verdinglichten' Einfluß spatburgcrlichcr
'Kunstindustrie' zu entreißen und dem
Erbe' cinzuverlcibcr." 42 In Anbetracht
der tatsächlichen Stabilität und des tat-
sächlichen Kräfteverhältnisses ist eine
solche Geringschätzung des revolutionä-
ren ideologischen Kampfes und die Ge-
ringschätzung der Schaffung einer Org-
anisation. die ihn fuhrt, 43 fatal.
Wenn diese Punkte in den folgenden
Texten an der Frankfurter Schule kriti-
«V0 UcsCOM HtpU pi U*o** n Val 72?}
1970.129- 1*6
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siert werden, dann können diese Texte
unseres Erachtens also auch als Kritik an
der RAF-Theorie nach dem Mai 72 - teils
bis zum April 1992, teils erst ab dem
April 1992 - gelesen werden.
Lateinamerika ist mehr als
Salsa, Drogen und Bananen
Seil mehr oll 1 Sichren berichtet die Informationsstelle lotemamo-
rika (ilo) uberdie politischen, sozialen und kulturellen Entwicklun-
gen oul dem Kontinent. Aktuollo und hintergrindige Artikel über
Verdrängtes und ßrhantei, kritische und engogiorlo Berichte über
Unrecht und Ungerechtigkeit gebon der "ilo" ihr eigenes Profil.
Information »Melle
Lateinamorila
Heerstr 205
53111 Bonn
(0228) 65 86 13
Erscheint lOx im Jahr
Einzelheft 60 Seifen, DM 7,-
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•» i . »I .
internütionulistiseke linke Mer
Widerstand in Österreich cecen
Efi-Sritritt, ill« F«fmj Ekrep*.
Die LINKE
Johresabo DM 70, /SFr 68 Probnexomplni grolis.
Beslellungcn an Die UNKE, Posllath 393, 10/0 Wien
zum Kernen] erneu
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131
Grundzüge der Kritischen
Theorie
Der vorliegende Text befaßt sich mit der
von Vertretern der Frankfurter Schule
entwickelten Kritischen Theorie. Nach
einem kurzen Hinweis auf die spezifi-
sche Denktradition dieser von vielen als
marxistisch betrachteten Strömung, sol-
len einige ihrer zentralen Aspekte darge-
legt und kritisiert werden.
Es muß aus Platzgrinden verallgemeinert
werden. Dies ist jedoch legitim, da die
einzelnen Vertcter der Kritischen Theorie
zwar jeweils sehr individuelle Konzcp^
tionen entwickelten, jedoch ausgehend
von grundlegenden Gemeinsamkeiten.
Eben diese elementaren Übereinstim-
mungen werden von uns, ausgehend von
einer historisch-materialistischen Positi-
on, untersucht.
Zur Beantwortung der Frage, weshalb die
Beschäftigung mit Philosophie für den
revolutionären Kampf von großer Bedeu-
tung ist, kann eine Notiz zur Einführung
in die Philosophie von Antonio Gramsci
herangezogen werden: "Man muß das
Vorurteil zerstören, die Philosophie sei
etwas sehr Schwieriges aufgrund der Tat-
sache. daß sie eine spezielle Tätigkeit ei-
ner bestimmten Kategorie von Wissen-
schaftlern ist. den professionellen Philo-
sophen oder Systematikern. Man wird
daher zeigen müssen, daß alle Menschen
Philosophen sind, indem man die Gren
zen und die Wesenszüge dieser
{ 'spontanen' | 'Jedermanns’-Philosophie
definiert, nämlieh den Alltagsverstand
und die Religion. Nachdem gezeigt ist,
daß alle auf ihre Art Philosophen sind,
daß cs keinen normalen und intellektuell
gesunden Menschen gibt, der nicht an ei-
ner bestimmten Weltauffassung teilhat.
sei es auch unbewußt (...), geht man zum
zweiten Moment über, zum Moment der
Kritik und der Bewußtheit. Ist cs vorzu-
ziehen, 'zu denken' ohne Bewußtheit da-
von zu haben, auf zersetzte und zufällige
Weise, ist cs vorzuzichcn an einer Welt-
auffassung teilzuhabcn. die 'vorgegeben'
ist von außen, von einer gesellschaftli-
chen Gruppe, oder ist es vorzuziehen, die
eigene Weltauffassung bewußt und kri-
tisch auszuarbeiten und im Zusammen-
hang mit dieser Aibcit des eigenen Ver-
standes. die eigene Tätigkeitswclt zu
wählen, an der Hervorbringung der Uni-
versalgeschichte aktiv teilzuhaben?"*
Die Bedeutung der Philosophie besteht
also darin, daß sie als ein System verall-
gemeinerter theoretischer Auffassungen
von der Welt Orientierung innerhalb die-
ser vermittelt und somit zielgerichtetes
Handeln ermöglicht. Jedes Individuum
I Gra-uo * Cgrtngntihgfl. (KiObTi GaorrOÄjiö». v
BoOintm. K . HtoQ W F.J; HKttxrg. Biim 1993. S itti'iCM.
findet sich konfrontiert mit einer objektiv
gegebenen, spezifisch strukturierten
Umwelt (z. B. mit einer von verschiede-
nen Herrschaftsverhältnissen durchzoge-
nen Gesellschaft). Um sich innerhalb
dieser Strukturen bewegen zu können,
muß Handlungsfähigkeit erworben wer-
den; es muß eine Rezeption der äußeren
Welt staUfinden. Diese individuelle Er-
klärung der Welt vollzieht sich ständig
und meistens unbewußt. Sie findet ihren
Ausdruck sowohl in der frühzeitlichen
Naturmythologie als auch später in der
Religion. Auch der von Gramsci erwähn-
te Alltagsverstand ist ein Versuch, die
Welt durch Thcorctisicrung zu begreifen
und somit handlungsfähig zu werden. Er
ist "die 'Philosophie der Nichtphiloso-
phen' [...], das heißt die unkritisch von
den verschiedenen gesellschaftlichen Mi-
lieus aufgenommene Weltauffassung, in
der sich die moralische Individualität des
Durchschnittsmenschen entfaltet."^ im
Gegensatz zum Alltagsvcrstand ist eine
wissenschaftliche Philosophie nicht ein-
fach eine Sammlung, sondern ein in sich
folgerichtig aufgebautes System von The-
sen, Tatsachenfeststellungen und Ideen.
Es wird also nicht bei der Verkündung
einer bestimmten Weltauffassung ste-
hengeblicbcn, sondern versucht, die
Richtigkeit der Position durch Schlußfol-
gerungen und Ictztlichcn Vergleich mit
der materiellen Realität zu begründen.
Das Verhältnis der wissenschaftlichen
Philosophie zu den Einzelwissonschaflcn
besteht darin, daß sie sich permanent an
deren Erkenntnissen orientieren muß. um
nicht spekulativ zu werden, darauf auf-
bauend jedoch Fragen stellt, die jenseits
des jeweiligen Fonchungshorizontes lie-
gen. So trügt die Feststellung, daß die
Dialektik das Gmndprinzip jeglicher
Entwicklung ist, primär philosophischen
Charakter. Sic wird bestätigt durch die
Ergebnisse der modernen naturwissen-
schaftlichen Forschung, z. B. der Phy-
sik. 3
Philosophie im wissenschaftlichen Sinn
ermöglicht also die Herausbildung einer
kohärenten Weltanschauung als Voraus-
setzung selbstbewußten Handelns. Daß
sie unerläßlicher Bestandteil des revolu-
tionären Kampfes ist, formulierte Marx
in seiner Einleitung zur Kritik der Hegel-
selten Rechtsphilosophie:
"Wie die Philosophie im Proletariat ihre
materiellen, so findet das Proletariat in
der Philosophie seine geistigen Waffen,
und sobald der Blitz des Gedankens
gründlich in diesen naiven Volksboden
cingcschlagcn ist, wird sich die Emanzi-
2«M.S
3 Siet* Nm Imrn ptnfepn» SOtt. Uarttfimu urü
CrpktoWIMirui IWH.7B
pation der Deutschen zu Menschen voll-
ziehn." 4
Die theoretischen Ursprünge
Die Marx-Rezeption der Frankfurter
Schule ist stark beeinflußt von einer
Denkrichtung deren bekanntester Vertre-
ter wohl Georg Lukdcs ist. Seine 1923
erschienenen Studien über Geschichte
und Klassenbemfitsrin $ bilden bis heute
die klassischen Texte des linken Radika-
lismus. Mühelos lassen sich schon dort
zentrale Topoi des im Rahmen der Fran-
kfurter Schule geführten Diskurses iden-
tifizieren. Ausgehend von einer starken
Beeinflussung durch Hegel thematisierte
Lukäcs das Phänomen der Verdingli-
chung. In diesem Zusammenhang maß er
dem Kapitel über den Fetischcharakter
der Ware im ersten Band des Kapital
eine zentrale Bedeutung zu. Die dortigen
Ausführungen bilden zwar nur den theo-
retischen Überbau der vorhergehenden
Analysen von Ware und -Arbeitskraft,
wurden jedoch auch von Ernst Bloch und
später der Frankfurter Schule ins Zen-
trum der marxschen Theorie gerückt. Im
genannten Kapitel analysiert Marx das
Phänomen, daß der gesellschaftliche
Charakter des Warenwertes nicht er-
kannt. sondern als etwas der Ware im-
manentes aufgefaßt wird. Der Weit ist
jedoch keine materielle Größe; er be-
zeichnet das Quantum der für die Pro-
duktion einer bestimmten Ware durch-
schnittlich notwendigen einfachen Ar-
beit. Da der Wert also gesellschaftlich
konstituiert wird, kann er sich auch nur
in einem gesellschaftlichen Verhältnis -
dem Tausch und hier als Tauschwert -
ausdrückcn. Die Menschen tauschen ihre
Produkte jedoch nicht selbstbewußt als
Resultate eigener Aibcit, sondern als Ge-
gegnstände, denen sie einen natürlichen
Wert zuschreiben. 'Das Geheimnisvolle
der Warenform besteht also einfach
darin, daß sic den Menschen die gesell-
schaftlichen Charaktere ihrer eignen Ar
beit als gegenständliche Charaktere der
Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftli-
che Natureigenschaften dieser Dinge zu-
rückspiegelt, daher luch das gesellschaft-
liche Verhältnis der Produzenten zur Ge-
samtarbeit als ein außer ihnen existieren-
des gesellschaftliches Verhältnis von
Gegenständen. (...] Es ist nur das be-
stimmte gesellschaftliche Verhältnis der
Menschen selbst, welches hier Für sic die
phantasmagorischc Form eines Verhält-
nisses von Dingen annimmt." In dem 14
Seiten langen Kapitel über den Fctisch-
4MEW1.M1
S UMa. C: GnehfeM» grd KJaiMnbmfttMh S>i*r CM
nuotfaM Ck*K*. h Mi VMrte. Bä ? FrttacMta I
i*»JW«SS*rtP 19»
6UEW23.SSI.
132
Charakter der Ware thematisiert Marx
somit die Frage, wanim originär mensch-
liche Verhältnisse als dingliche wahrge-
nommen werden. Die starke Konzentra-
tion der Frankfurter Schule auf auf die
dortigen Ausführungen bildete die
Grundlage für deren Forschungen zur
Ideologie, sowie für falsche theoretische
Schwerpunktsetzungen, auf die weiter
unten cigcgangen wird.
Ebenso wie das Phänomen der Verding-
lichung als eine Zentralkategorie der Kri-
tischen Theorie erscheint, bleibt im Kreis
um Horkhcimcr und Adorno die Rezep-
tion der marxschen Theorie aus einer,
früher von Luk£cs repräsentierten, hege-
lianisierenden Sicht erhalten. Besonders
Theodor W. Adorno und Herbert
Marcuse praktizieren eine Rückführung
von Marx auf Hegel, indem sie den histo-
rischen Materialismus als rein geistesge-
schichtliches Produkt auffassen, also als
die logische Konsequenz des Denkens,
die Marx aus der hegelschen Philosophie
gezogen habe. Diese Konstruktion einer
einfachen Kontinuität ignoriert die Ent-
wicklung der materiellen Bedingungen
(deren Repräsentation ein spezifisches
Denken ist) und vor allem den aufgrund
dieser Umstände von Marx und Engels in
den 1840er Jahren vollzogenen Bruch
mit Hegel.
Idealistische Spekulation statt materia-
listischer Analyse
Ein zentrales Bestreben der Frankfurter
Schule ist die Kritik der bestehenden Ge-
sellschaft mittels eines neu zu etablieren-
den Begriffes von Theorie. In Abgren-
zung zu den als affirmativ bczcichnctcn
Einzelwissenschaften wird interdiszi-
plinär gearbeitet, unter Zuhilfenahme der
Soziologie, der Psychoanalyse unJ des
historischen Maierialismus. "Die isolie-
rende Betrachtung einzelner Tätigseiten
und Tüiigkeitszweigc mitsamt ihren In-
halten und Gegenständen bedarf, um
wahr zu sein, des konkreten Bewußtseins
ihrer eigenen Beschränktheit. Es muß zu
einer Konzeption übergegangen werden,
in der die Einseitigkeit, welche durch die
Abhebung intellektueller Teilvorgänge
von der gesamtgesellschaftlichen Praxis
notwendig entsteht, wieder aufgehoben
wird." 7
Die an die Wissenschaft gerichtete For-
derung, die eigene Funktion im gesell-
schaftlichen Prozeß zu reflektieren, ist so
richtig wie banal Diese schlichte metho-
dologische Notwendigkeit wird im Rah-
men der kritischen Theorie allerdings
zum Postulat einer vcmunftgclcitctcn
Wissenschaft hypostasiert: "Die Selbst-
erkenntnis des Menschen in der Gcgcn-
7 HJU.™. M Tr*5tO*U und ThKrt* « Om
TrM.o-1* u>5 7****. FortlirtU 1«?. 8 218215.
I
wart ist [...] nicht die mathematische Na-
turwissenschaft, sondern die vom Inter-
esse an vernünftigen Zuständen durch-
herrschte kritische Theorie der bestehen-
den Gesellschaft." 8 Die sich hier ab-
zcichncnd: Affinität zum von der Auf-
klärung beeinflußten Idealismus erklärt
auch den Charakter der Kritischen Theo-
rie. die weniger wissenschiftliche Ge-
scllschaftsanalysc als vielmehr spekula-
tive Geschichtsphilosophie isL
Die Frankfurter Schule bedient sich zwar
eines marxistischen Vokabulars, bei nä-
herer Betrachtung treten jedoch ihr Pseu-
domatcrialismus und ihre im Wesen idea-
listische Dialektik zutage. So wird der in
der Deutschen Ideologie 9 dargclcgte hi-
storische Materialismus im Sinne einer
(in der Phänomenologie des Geistes^
formulierten) hegelschen Dialektik von
Subjekt ued Objekt aufgefaßt. Dialektik
wird reduziert auf die Bcwegungsfonn
des die Umwelt erfassenden Denkens.
Hier wird zurückgcgangcn hinter die von
Engels erarbeitete Erkenntnis, daß Dia-
lektik keine rein formale und unabhän-
gige Form des Erkenntnisprozesses, son-
dern die geistige Widerspiegelung der
Realität und somit von universeller Gül-
tigkeit ist. In der Dialektik der Natur
schreibt er in Abgrenzung zu Hegel: "Die
Dialektik des Kopfs (ist] nur Wider-
schein der Bewegungsformer, der realen
Welt, der Natur wie der Geschichte."* 1
Dialektik ist nicht einfach eine Denk-
form, die aus Gründen methodischer
Zweckmäßigkeit anzuwenden ist, son-
dern bezieht sich als "Wissenschaft von
den allgemeinen Bewegungs- und Ent-
wicklungsgesetzen der Natur, der Men-
schengesellschaft und des Denkens"
auf die maiericllc Realität. Die Frankfur-
ter Schule ignoriert - wie auch in anderen
Punkten - den fundamentalen Unter-
schied zwischen der hegelschen und der
historisch-materialistischen Dialektik-
konzeption und betreibt infolgedessen
spekulative Gcschichtsphilosophic. Die
gesellschaftliche Entwicklung vollzieht
sich aus hegclianisicrender Sicht somit
unter dem Gesichtspunkt eines Subjek-
tes, dessen Bewegungsgesetz die Dialek-
tik ist, also die Entäußerung des Subjekts
und sein schlicßlicher Übergang in das
Objekt, seine Verdinglichung. Bei Fort-
setzung dieses Gedankenganges erscheint
die gesellschaftliche Wirklichkeit, der hi-
storische Prozeß als das sich objektivie-
rende Subjektive. Dies bedeutet einer-
seits eine sinnvolle Akzentuierung des
subjektiver, Faktors gegenüber dem De-
8«M.S.215
9MtWX»
!CHö?>\GWP. Um C«li!«i Sifijvl IJ68.
I1UEWJ0.47S
12UEW20.132(htr»TA d Vati
terminismus des damaligen offiziellen
Marxismus. Andererseits erscheint hier
das Konzept einer historistischen Ge-
schichtsspekulation, in deren Rahmen
"history is viewed as one all-embracing
process, in which an historical subjccl
realizes itsclf. This subicct is no longcr
Hegels Idea, but Man.*’ 3 Geschichte ist
folglich ein Prozeß der Selbstbewußt-
werdung des Menschen, in dem das ihm
inhärente Ziel realisiert wird. Aus der
Sicht der Frankfurter Schule "this goal
(nämlich das einer vernünftigen Gestal-
tung sozialer Beziehungen, d. Verf.) can-
not be realized in ths present society
which is charactcrizcd. on the contrary,
by its negation - the reification of human
relations and the alienation of Man. But
in spitc of this. human beings still main-
tain a will and a struggle for a ‘rational’
Organization of society, and it is through
this will and this struggle, inherent in
Man and human oxistencc, tliat Man can
discovcr the fact that human goals arc
negated in the prevailing conditions.
Thus a knowlegde of society becomes at
the samc time a judgement or cvaluation
of it. In this way. Man and social reality
(crcatcd by Man) rcach sclf-know-
legde.”' 4
Dieses von Hegel übernommene Dialek-
tikverständnis ist verbunden mit einer
Kritik der bestehenden Gesellschaft, die
ausgeht von den Positionen der klassi-
schen deutschen Philosophie. Unter aus-
giebiger Bezugnahme auf Kant und He-
gel wird die spätkapitalistischc Realität
dem Anspruch der ursprünglich progres-
siven bürgerlichen Ideen hinsichtlich der
Konstituierung einer vernünftigen Ord-
nung gegenübergestellt: "Der Nachweis
des Widerspruchs zwischen dem Prinzip
der bürgerlichen Gesellschaft und ihrem
Dasein bringt die einseitige Bestimmung
der Gerechtigkeit durch die Freiheit und
dieser durch bloße Negation ins Bewußt-
sein and definiert die Gerechtigkeit posi-
tiv durch den Grundriß einer vernünfti-
gen Gesellschaft.”* 3
Der Sozialismus - Wissenschaft oder
Utopie?
Im Bewußtsein der Unmöglichkeit einer
Aufhebung dieser Diskrepanz zwischen
Begriff und Gegenstand bezüglich der
bürgerlichen Gcscllschift innerhalb die-
ser selbst wandte sich Horkheimer dem
historischen Materialismus zu. Seine di-
stanzierte Parteinahme für den Sozialis-
mus beruhte auf der Hoffnung, die in der
bürgerlichen Gesellschaft ad absurdum
13 Ihotan. G : Tht Frarftturt Scfocl kt SfcOiun Jx«. G « *
W#o«mUjns« * öl ral üuötr. Ionen 1977. S 96
15 IWhfmff. K. lUIKUttmrt n) UKsp-rix »t 0*\.
TWteo*!« uvl IrtBcfi* nnof«. a s 0. S. 19
133
geführten bürgerlichen Ideale würden in
einer zukünftigen Gesellschaft realisier-
bar. Kernpunkt dieses Denkens ist in
letzter Konsequenz das Bestreben nach
Materialisierung des Ideellen respektive,
wie oben formuliert, die Objektivierung
des Subjektiven. An diesem Punkt, dem
Insistieren auf der Idee als der Substanz
des historischen Prozesses, wird der hc-
gelsche Ursprung der Dialektik Hork-
heimers - und, nuanciert, der gesamten
Frankfurter Schule - deutlich. "Zuerst
müssen wir beachten, daß unser Gegen-
stand. die Weltgeschichte, auf dem gei-
stigen Boden vorgeht. Welt begreift die
physische und psychische Natur in sich;
die physische Natur greift gleichfalls in
die Weltgeschichte ein [...]. Aber der
Geist und der Verlauf seiner Entwicklung
ist das Substantielle." 16 so Hegels Auf-
fassung von der Geschichte, der auch die
Frankfurter Schule unterschwellig ver-
haftet blieb. Horkheimers Auffassung der
Schaffung einer sozialistischen Gesell-
schaft als Realisierung bürgerlicher Idea-
le zeugt vom hegelschen Ursprung seines
Denkens. Die Erkenntnis objektiver Ge-
setzmäßigkeiten und daraus abzuleiten-
des Handeln tritt für ihn zurück hinter
dem Wunsch der Realisierung einer Idee.
Es geht also, wie oben schon erwähnt,
um die Objektivierung (Realisierung) des
Subjektiven (Idee). Mit einer solchen
Überbewertung bzw. Verabsolutierung
des Bewußtseins, des Subjektiven, haben
sich Marx und Engels intensiv in der
Deutschen Ideologie auseinandergesclzt
und fcstgestellt. daß der historische Pro-
zeß letztlich abhängig ist von den objek-
tiven Bedingungen: "Diese Vorgefunde-
nen Lebensbedingungen der verschiede-
nen Generationen entscheiden auch, ob
die periodisch in der Geschichte wieder-
kehrende revolutionäre Erschütterung
stark genug sein wird oder nicht, die Ba-
sis alles Bestehenden umzuwerfen, und
wenn diese materiellen Elemente einer
totalen Umwälzung, nämlich einerseits
die vorhandenen Produktivkräfte, andrer-
seits die Bildung einer revolutionären
Masse, die nicht nur gegen einzelne Be-
dingungen der bisherigen Gesclls:haft,
sondern gegen die bisherige
'Lebensproduktion’ selbst, die
'Gcsamttätigkcit'. worauf sic basierte, re-
volutioniert - nicht vorhanden sind, so ist
cs ganz gleichgültig für die praktische
Entwicklung, ob die Idee dieser Umwäl-
zung schon hundertmal ausgesprochen ist
- wie die Geschichte des Kommunismus
dies beweist. "17
Das dargcstcllte Konzept eines philoso-
phischen Historismus, von dem die Fran-
18 H*g»t QWF- YcrlMuifl*n rur PNoMftfM 6m C«KMeN*
SMs»ii«i.S.5H>l«fvoe iOJ
kfurter Schule ausgeht, zieht verschiede-
ne praktische Konsequenzen nach sich.
Der heute primär mit Hegel assoziierte,
aber auch in der Soziologie verwandte
Begriff der Totalität wird als philosophi-
sche Kategorie auf die Sczialwisscn-
schaften Übertragen. Er bezeichnet im
Rahmen der Kritischen Theorie nicht
mehr ein Netz sozialer Beziehungen,
dessen einzelne Teile in Wechselwirkung
zueinander stehen. Vielmehr steht Totali-
tät nun für die Gesamtheit gesellschaftli-
cher Phänomene als Ausdruck eines ih-
nen gemeinsam zugrundeliegenden Prin-
zips. Dieses ist grundsätzlich die inhalts-
leere Abstraktion, daß die gesellschaftli-
che Realität Produkt menschlichen Han-
delns ist: "There ist no room in the histo-
ricist conception of history fer social to-
talities as structures of irreducible com-
plcxity. or for a discontinuous develop-
ment of those complex structures.
Society is ilways reduciblc to its ercator-
subjcct, and history is the continuous un-
folding of this subject. At every given
point in time, society is a unique mani-
fcstation cf man. This mcans that the
concept of a mode of producion, which
in any classical reading of Marx is the
central concept of historical mateiialism.
plays at most a quilc subordinatc rolc.
Capitalism is not sccn as one mode of
production among others, but as a com-
pletcly unique moment in the history (...)
of Man."**
Historistisch interpretiert ändert sich
auch der Charakter des historischen Ma-
terialismus. der ursprünglich als Wissen-
schaft entstanden war und nicht als phi-
losophische Spekulation Uber die Be-
stimmung des menschlichen Seins. Im
Rahmen der Kritischen Theorie “the
scientific «pecifity of Marx's critique of
political economy disappears That criti-
que is citbcr rcgarded as philosophical
critique (Horkheimer), or as an examina-
tion of political economy from the stand-
poinl of the totality of social being
(Marcuse), but not as a scientific Opera-
tion. This is quitc clcarly different from
Marx's own conception of his work and
cpistemology in general." ***
Der junge Marx -
das einzig Wahre
Das Festhalten der Frankfurter Schule an
einer hcgcbchen Konzeption der Dialek-
tik korrespondiert mit einer Marx-Rczcp-
tion, die sich vornehmlich auf die Werke
des sogenannten 'jungen Marx' konzen-
triert. 20 Also auf die Phase des theoreti-
18 rhwtwT. Q - TM Frtmfurt Sctooi. i • 0 . S P.
i»«J.S.»
20 Zu inoirflicr Rtlmrj Om nautfan atfa
Oaorun, HO» jungt' Um kn tttottgscran Km& Om
scheu Schaffens von Marx, in der dieser
selbst noch deutlich unter dem Einfluß
Hegels stand, und in der er sich intensiv
mit der Kategorie der Entfremdung be-
faßte. In der Deutschen Ideologie wird
dieses Phänomen erläutert: “Die soziale
Macht, d.h. die vervielfachte Produkti-
onskraft. die durch das in der Teilung der
Arbeit bedingte Zusammenwirken der
verschiedenen Individuen entsteht, er-
scheint diesen Individuen, weil das Zu-
sammenwirken nicht freiwillig, sondern
naturwüchsig ist, nicht als ihre eigne,
vereinte Macht, sondern als eine fremde,
außer ihnen stehende Gewalt, von der sic
nicht wissen woher und wohin, die sie
also nicht mehr beherrschen können, die
im Gegenteil nun eine eigentümliche,
vom Wollen und Laufen der Menschen
unabhängige, ja dies Wollen und Laufen
erst dirigierende Reihenfolge von Phasen
und Entwicklungsstufen durchläuft.” 21
Nach Marx bedeutet Entfremdung also
eine spezifische, sich unter den Bedin-
gungen der kapitalistischen Produkti-
onsweise vollziehende Form der Verge-
genständlichung, die jedoch aufhebbar ist
im Zuge der Konstitution einer Gesell-
schaft, in der "die Gesetze ihres eignen
gesellschaftlichen Tuns, die ihnen bisher
als fremde, sic beherrschende Naturge-
setze gegenübe rstanden, (...) dann von
den Menschen mit voller Sachkenntnis
angewandt und damit beherrscht
(werden)." 22 Die Theoretiker der Fran-
kfurt Schule bctrachicn nun fälschli-
cherweise die Bezeichnung ■entfremdet'
als Synonym für 'materiell'. So gehl
Adorno geht in seinem 1966 erschienen
Werk Neguüve Dlutekuk davon aus. daß
Marx, wenn er von Naturgesetzen der
Gesellschaft spricht, damit nicht den ob-
jektiven Charakter dieser Gesetze als ma-
terielle Zusammenhänge gemeint habe,
sondern die Verdinglichung der kapitali-
stischen Produktionsweise. 23 Materiell
und verdingliche wird von Adorno syn-
onym aufgefaßt. Marx dagegen unter-
schied schon in den Ökonomisch-philo-
sophischen Manuskripten- 4 deutlich
zwischen beiden Begriffen und wies
auch in einem Brief an einen russischen
Bekannten darauf hin, daß "jede neue
Generation die von der alten Generation
erworbenen Produktivkräfte vorfin-
det"“ 3 , und diese deshalb als materiell zu
bezeichnen seien.
Der ungerechtfertigten Ineinssetzung von
materiellen und verdinglichten, also ent-
fremdeten Verhältnissen entspricht auf
einer anderen Ebene die Identifikation
ZI Mc A3. 34
22MEW18.228.
aAttro.mw MegiUraDUlÄHFiKfcVlM 19W.S J47
24 MEV, 1.4«*.
JSMFA2? 4MUS1
134
von Arbeit mit warenproduzierender Ar-
beit. Die Tatsache, daß Arbeit als
"Aneignung des Natürlichen für mensch-
liche Bedürfnisse, allgemeine Bedingung
des Stoffwechsels zwischen Mensch und
Natur, ewige Naturbedingung des
menschlichen Lebens und daher unab-
hängig von jeder Form dieses Lebens,
vielmehr allen seinen Gesellschaftsfor-
men gleich gemeinsam" 2 *’ ist, wird ins-
besondere von Herbert Marcusc überse-
hen. Er betrachtet die Arbeit allein unter
dem Aspekt der Erzeugung einer Herr-
schaft der Dinge über die Menschen - al-
so Entfremdung - und setzt sic in einen
konstruierten undialektischen Gegensatz
zur menschlichen Freiheit. Diese - in ei-
ner derartigen Abstraktion falsche - Ent-
gegensetzung von Produzieren und Frei-
heit läßt Befreiung sowohl im histori-
schen als auch im logischen Sinn unmög-
lich erscheinen. Die hier zugrunde lie-
gende Entleerung des Arbeitsbegriffs be-
dingt eine ungesellschaftliche Auffas-
sung der Produktivkraftentwicklung, die
letztlich in einen - durchaus als reaktio-
när zu bezeichnenden - Technikskepti-
zismus mündet. Formalistisch wird bei
Betrachtung der Produktivkraftentwick-
lung von deren sozialem Gehalt abstra-
hiert. so daß nicht die Handhabung von
Technik innerhalb einer spezifischen
Epoche, sondern die Technik an sich als
negativ, ja gefährlich erscheint. Nach
Horkheimer und Adorno "involviert An-
passung an die Macht des Fortschritts
den Fortschritt der Macht, jedes Mal aufs
neue jene Rückbildungen, die nicht den
mißlungenen sondern gerade den gelun-
genen Fortschritt seines eigenen Gegen
teils überführen. Cter Fluch des unauf-
haltsamen Fortschritts ist die unaufhalt-
same Regression.' 27 Die durch die tech-
nische Entwicklung ermöglichte und
weiter zunehmende Beherrschung der
Natur determiniert, nach Ansicht der
Frankfurter Schule, aufgrund der so er
zeugten sachlichen Zwänge, einen Pro-
zeß zunehmender Entfremdung. Die
"Kritik (der Frankfurter Schule, d. Vcrf.)
an der Gesellschaft, die ein sich von Ent-
fremdung emanzipierendes Bewußtsein
anzielt, geht folglich von einer deutlichen
Voraussetzung aus: von der Charakteri-
stik der gesellschaftlichen Produktion als
eines unhistorischen, naturhaften Prozes-
ses. der zu wachsender Herrschaft der
Sachwelt über die Menschenwclt führt.
D. h„ die eigentliche Ursache der Ent-
fremdung. die Produktionsverhältnisse,
genauer, die Funktionsweise der kapitali-
stischen Produktionsverhältnisse, werden
»UEW23(Ka*UBdn.l9e
2/ IWm«. M . Th W DMMUk OB MMftwg: * I 0 .
S *2
I
ausgcklammert." 28 Mit dieser Akzent-
verschiebung von der Dialektik von Pro-
duktivkraftentwicklung und Produkti-
onsverhältnissen hin zur Gegenüberstel-
lung von Tcchnikcntwicklung und
Mensch hat die Frankfurter Schule den
Boden des historischen Materialismus
hinter sich gelassen. Resultat ist die all-
seits bekannte Kritik an
Tcchnikgläubigkcit', die angesichts von
Rüstungspolitik und Umweltzerstörung
auch in linken Kreisen eine gewisse Re-
levanz besaß und besitzt. Noch 1933
hatte Horkheimer formuliert: "Der Mate-
rialismus fordert die Vereinigung von
Philosophie und Wissenschaft." 29 Mit
zunehmendem Alter vertrat er immer
stärker idealistisch: Positionen 3 ** und
konstruierte von dort aus den Gegensatz
zwischen Wissenschaft und Philosphie,
wobei er letzterer einen größeren Er-
kenntniswert zusprach. Bei Horkheimer
erscheint diese Kritik an der als affirma-
tiv aufgefaßten Wissenschaft als eine
Kritik am streng rationalen Positivismus:
"Die positivistische Philosophie, die das
Werkzeug 'Wissenschaft' als den automa-
tischen Verfechter des Fortschritts an-
sieht. ist so irreführend wie andere Glori-
fikationen der Technik. Die ökonomische
Technokrate erwartet alles von der
Emanzipation der materiellen Produkti-
onsmittel. Platon wollte die Philosophen
zu den Herren machen; die Technokraten
wollen die Ingenieure zum Aufsichtsrat
der Gesellschaft machen. Positivismus ist
philosophische Technokrate."^ * Eine
derart generalisierende Kritik an Wissen-
schaft und Technik verunmöglicht eine
wirkliche Auseinandersetzung mit dem
von der Frankfurter Schule als Positivis-
mus bczeichncicn Denken.-* 2 Hier wer-
den die Stärken einer wissenschaftlichen
Vorgehensweise aufgegeben zugunsten
von Hermeneutik und Moral
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Uolmö*i PMüMuna-Krfck. PmOMiilsch. ThltaKfMi dm
WbMnKMT kn Lkm dm WUuiuchtfl. FtvWuVU 1972
Die 'Ergänzung' des historischen Ma-
terialismus durch Freud
Fine zentrale Kategorie der Kritischen
Theorie ist die Entfremdung. Zur Ana-
lyse dieses Phänomens bediente sich -
neben allen anderen Theoretikern - vor
allem Erich Fromm der von Sigmund
Freud entwickelten Psychoanalyse. Ohne
hier im einzelnen auf die sich daraus er-
gebenen Konsequenzen cingchcn zu
können, sei angemerkt, daß der im Rah-
men der Psychoanalyse entwickelte Be-
griff des Menschen und seiner Trieb-
struktur durchaus problematisch ist. Den
Ausgangspunkt individueller Entwick-
lung bildet eine anthropologische Kon-
stante. die von Freud als TEs' bezeichnet
wird: "Die älteste dieser psychischen
Provinzen oder Instanzen nennen wir das
Es; sein Inhalt ist alles, was ererbt, bei
Geburt mitgebracht, konstitutionell fest-
gelcgt ist, vor allem also die aus der Kör-
perorganisation stammenden Triebe, die
hier einen ersten uns in seinen Formen
unbekannten psychischen Ausdruck lin-
den.’’ (In der zugehörigen Fußnote heißt
cs: “Dieser älteste Teil des psychischen
Apparates bleibt durchs ganze Leben der
wichtigste." 3 -*) Diese Konstruktion eines
'menschlichen Wesens', die sich in ge-
wisser Weise auch d:e Frankfurter Schule
zu eigen macht, bedeutet einen Rück-
schritt hinter die von Marx in der sech-
sten Feuerbachthesc formulierte Er-
kenntnis, daß "das menschliche Wesen
[...] kein dem einzelnen Individuum in-
newohnendes Abstraktum", sondern “in
seiner Wirklichkeit (...) das Ensemble der
gesellschaftlichen Verhältnisse" 34 ist.
Eine solche 'Ergänzung' von Marx durch
Freud 35 bedeutet, daß die Gcscllschafts-
analysen der Frankfurter Schule die
Auswirkungen der kapitalistischen Pro-
duktionsweise auf die gegebene mensch-
liche Triebstniktur thematisieren. Nach
dieser Sicht wird 'der Mensch’ in jeder
bestimmten Epoche den objektiven Be-
dingungen entsprechend modifiziert und
nicht jeweils neu geschaffen. Eine spezi-
fische Produktionsweise und die aus ihr
resultierende Gesellschaftsformation
kann somit dem menschlichen Wesen
33 Frwl S ttrt» 0« Pnehwnrt**. FrariJurtU 1972. S. 9
34MEW3.6
35 Om ahrtriwn • inrcfcn • C*iucf«. ntttt Mwi ttayKüft
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W'«it«1n 1963. S M« Zun MgKnMW dH “mW
MW* ScWrtiM. H UlnilUKivMnMritJcFM ThwM 0«
uxJ FVmMcm: Bim I960
135
adäquat sein oder ihm widersprechen.
Diese Auffassung des Menschen korre-
spondiert im übrigen hervorragend mit
der schon oben erwähnten Rezeption der
marxschen Frühschriften. Der bis Anfang
der 1840er Jahre von der Anthropologie
Feuerbachs beeinflußte Marx stellte da-
mals ebenfalls noch ein 'natürliches'
menschliches Wesen den gesellschaftli-
chen Verhältnissen gegenüber.- 56 Er be-
schrieb "die Entfremdung als die
■Entmenschung' der menschlichen Ver-
hältnisse, als nicht der menschlichen Na-
tur entsprechende Form der gesellschaft-
lichen Verhältnisse, in der 'das menschli-
che Wesen sich unmenschlich [...] verge-
genständlicht."' 37
Eine Affinität zwischen Psychoanalyse
und Frankfurter Schule besteht auch hin-
sichtlich der Auffassung von Gesell-
schafts- bzw. Kulturentwicklung. Der
schon erwähnte, sich vor allem im Tech-
nikskeptizismus äußernde Geschichts-
pessimismus Horkheimers und Adornos
steht in enger Beziehung zur von Freud
formulierten These der auf Triebsubli-
micrung und -verzieht beruhenden Kul-
turentwicklung: "Die Tricbsublimicrung
ist ein besonders hervorstechender Zug
der Kulturentwicklung, sic macht es
möglich, daß höhere psychische Tätigkei-
ten, wissenschaftliche, künstlerische,
ideologische, eine so bedeutsame Rolle
im Kulturleben spielen. [...) Drittens end-
lich, und das scheint das Wichtigste, ist
cs unmöglich zu übersehen, in welchem
Ausmaß die Kultur auf Triebverzicht
aufgebaut ist, wie sehr sic gerade die
Nichtbefriedigung (Unterdrückung, Ver-
drängung oder sonst etwas ?) von mäch-
tigen Trieben zur Voraussetzung hat.
Diese Kulturversagung beherrscht das
große Gebiet der sozialen Beziehungen
der Menschen; wir wissen bereits, sie ist
die Ursache der Feindseligkeit, gegen die
alle Kulturen zu kämpfen haben." 3 * Aus
dem hier Dorgelcgtcn wird ersichtlich,
daß Psychoanalyse und Frankfurter Sch-
ule ein gewisses konservatives Moment
bezüglich des Menschenbildes und der
Einschätzung der gesellschaftlichen Ent-
wicklung gemeinsam ist. "Gerade die
Bezugnahme auf Freuds metapsychologi-
sche Theorie weist aus. daß die 'kritische
TTieorie' den Ansatz zur Gesellschaftskri-
tik festlegt, indem sie zunächst gesell-
schaftliche Fragen biologisicrt, durch die
Konzentration auf die Freudsche Lehre
von der Triebstruktur des Menschen psy-
36 Mt* Ottno>r>*clv?titoteptilKt« lUnalr». MOV. tB l.
•656. D«n Oxi n/ao» uwnvn Datnrmn ven mmxMcJnn Wss*n
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37 OWRian. II: 0* IW **«» »n UKtogtscf« Kns* d*r
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38 fiwd S_- Du U-t*h*j«n In <Mr «u«ur * 0*1 «xfl »i
PrjOcavfyie a a 0 . S 91
chologisicn und anschließend mit Be-
zugnahme auf das menschliche Wesen
gesellschaftliche Fragen individualisiert.
Erst hier erfolgt ein Umschlag, der nun
aus der psyehologisierenden Sicht auf die
gesellschaftlichen Zusammenhänge zu-
rückwirkt. In der Folge wird die gesell-
schaftliche Emanzipation als eine sozio-
psychologischc Emanzipation ausgewie-
sen.' 39
Die Resultate - kritische Kontempla-
tion und Resignation
Die weiter oben schon kurz angedeutete
partielle Konvergenz von Positionen der
Frankfurter Schule und der Junghegelia-
ner der 1830er Jahre war latent immer
vorhanden, trat aber erst in der Spätphase
der Frankfurter Schule besonders deut-
lich zutage. Die geschichtspcssimisrischc
Auffassung der bestehenden Gesellschaft
als eine industrielle, im wesentlichen un-
aufhebbar entfremdete, ließ etwaige Vcr-
ändcrungsversuchc als unsinnig erschei-
nen: "Freilich, suspekt ist nicht die Dar-
stellung der Wirklichkeit als Hölle, son-
dern die routinierte Aufforderung, aus ihr
auszubrechen." 4 ® Dabei ermangelt die
theoretisch: Entwicklung der Frankfurter
Schule nicht einer gewissen Ironie. Aus-
gehend von einer kritischen, jedoch idea-
listischen Position erfolgt eine Rezeption
des marxschen Werkes. Im Mittelpunkt
steht 'der junge Marx’, da sich in dessen
Schriften noch deutliche Reminiszenzen
an Hegel finden lassen. Dies bedeutet
ein Pars pro loto und eine Uminterpreta-
tion zentraler Kategorien des historischen
Materialismus. Mit einer derart licgclia-
nisierten Theorie, in der die Totalität ei-
ner manipulierten Konsumgesellschaft
eine differenzierte Analyse antagonisti-
scher Verhältnisse ersetzt, mußte die Ret-
tung im individuellen Rückzug auf eine
Position der kritischen Kaitemplation
liegen. Nach Horkhcimcr und Adorno ist
gesamtgesellschaftliche Befreiung illuso-
risch, einzig und allein der kritische
Intellekt vermag sich über das Beste-
hende zu erheben und somit seine Frei-
heit zu realisieren: "Das Bestehende
zwingt die Menschen nicht bloß durch
physische Gewalt und materielle Interes-
sen sondern durch übermächtige Sugge-
stion. Philosophie ist J...| die Anstren-
gung, der Suggestion zu widerstehen, die
Entschlossenheit zur intellektuellen und
wirklichen Freiheit." 4 ' Diese individua-
listische Tendenz findet sich bei Hork-
heimer schon 1937, hier allerdings in ei-
ner Formulierung, der für sich genom-
3?B**m*«\R WtttS* d« inpuwng B a 0.
S 46
40 MxVfw-». M. Adsns ThW.: OlaMUk d* »utUlrur* llO.
S37J
I1W.S »0
men umstandlos zuzustimmen wäre:
"Der Intellektuelle, der nur in aufblik-
kender Verehrung die Schöpferkraft des
Proldnrials verkündigt und sein Genüge
darin findet, sich ihm auzupassen und es
zu verklären, übersieht, daß jedes Aus-
weichen vor theoretischen Anstrengung,
die er in der Passivität seines Denkens
sich erspart, sowie vor einem zeitweili-
gen Gegensatz zu den Massen, in den ei-
genes Denken ihn bringen könnte, diese
Massen blinder und schwächer macht, als
sie sein müssen. Sein eigenes Denken
gehört als kritisches, vorwärtstreibendes
Element mit zu ihrer Entwicklung." 42 Im
Kontext der weiteren Arbeiten Horkhei-
mers erscheint diese Aussage nicht als
eine berechtigte Kritik am Prolet- und
Massenkult der damaligen kommunisti-
schen Bewegung, sondern als Versuch,
aus der Not eine Tugend zu machen und
intellektuelle Isolierung zum Resultat
geistiger Unabhängigkeit zu stilisieren.
Hier erscheint die Konstruktion des Ge-
gensatzes von kritischem Geist und trä-
ger Masse. Diese elitäre Vorstellung von
der Rolle der 'kritischen Kritik' der Iniel-
Ickturilcn als Triebkraft gesellschaftli-
cher Entwicklung wurde von Marx und
Engels in ihrer ersten gemeinsamen Ar-
beit {Die heilige Familie oder Kritik der
kritischen Kritik) ausdrücklich zurück-
gewiesen. 43 Sic gehen dort ein auf eine
bestimmte Sorte von Intellektuellen, die,
über die Masse des Volkes schreibend,
sich von diesem distanzieren und sich
über es erheben: "Die kritische Kritik, so
erhaben sic sich Uber die Masse weiß,
fühlt doch ein unendliches F.rbarmen für
dieselbe. (...] Es verstellt sich, und die
Geschichte, die alles beweist, was sich
von selbst versteht, beweist auch dies,
daß die Kritik nicht Masse wird, um
Masse zu bleiben, sondern um die Masse
von ihrer massenhaften Massenhaftigkeit
zu erlösen, also die populäre Redeweise
der Masse in die kritische Sprache der kr
irischen Kritik aufzuheben." 44
Die sich in der Spätphasc der Frankfurter
Schule immer deutlicher abzeichnende
Nähe zum junghcgclianischcn Denken
wurde letztlich auch von den Theoreti-
kern selbst erkannt. Adorno bemerkte
dazu: "Die gesellschaftliche Realität hat
sich in einer Weise verändert, daß man
fast zwangsläufig auf den von Marx und
Engels so höhnisch kritisierten Stand-
punkt des Linkshegclianismus zurückge-
drängt wird: einfach deshalb nämlich,
|...I weil der Gedanke, daß man durch die
Theorie und durch das Aussprechen der
Theorie unmittelbar die Menschen ergrei-
fen und zu einer Aktion veranlassen
4? U xtftWB •». M TridMy*M and tatücl* Tt*ort*. ftrt WUO.
FrvtaU 19». S 931
43 MC« 1 Z 31t
44eM.s.am
136
kann, doppelt unmöglich geworden ist
durch die Verfassung der Menschen."^
Ihre Denunzienmg der Wissenschaft und
ihr Beharren auf idealistischen Positio-
nen geben der Kritischen Theorie bezüg-
lich politischer HandlungmöglicHccitcn
einen reaktionären Zug. Die Unfähigkeit
hinter der Totalität der Verdinglichung'
Widersprüche und emanzipatcrische
Kräfte wahrzunehmen, führt zu der An-
nahme manipulierter Massen, aus denen
sich kraft eines kritischen Verstandes das
einzelne Individuum erheben kann. Da
die Perspektive kollektiver Befreiung im
Diskurs der Frankfurter Schule als un-
wahrscheinlich sich darstellt, bleibt als
letzte Rettung der subjektive Sprung, der
zudem ein primär intellektueller Vorgang
ist. "Thus criticil thcory's conccption of
politics [...] ends in a paradox. On the
onc hand. it presents itsclf as a mere
component of a political praxis; on the
other. it lacks any specific political an-
chorage."**^
ÜZtr, Baiarrsn R. WaU *. HO CUM» der A «pm*. i
> 0 . S K A*r-o rorrt he Miug aJ 4* Ptortrq ton Mi M.
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Kitt » rat «Kn. da *»*•**« Of»*« r*e gm ära
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<M> Htgtttctan RtcMapNkaopNa. ElnMtufij MEiVI.ÄS;
46naHw0:1hafrmttrtSchx(.a.«0. S. 91.
Galvano della Volpe
i
Zur Frankfurter Schule
KRITIK EINES SPÄTROMANTI-
SCHEN PARADOXES
(Über die "Dialektik der Aufklärung"
von Max Horkheimer und Theodor W.
Adorno)
Das Paradox ist mit einfachen Worten
folgendes: Insofern Aufklärung auf den
wissenschaftlichen Kalkül des Nützli-
chen und damit auf die genaue Einschät-
zung der einem Zweck angemessenen
Mittel reduzierter ist. verkehrt sie sich
(das ist die "Dialektik") in ihr Gegenteil,
in Technik der Herrschaft und Unter-
drückung mit ihren modernen, alten und
neuen, funktionalen Mythen. "Als ...
bloße Konstruktion von Mitteln ist Auf-
klärung so destruktiv, wie ihre romanti-
schen Feirde es ihr nachsagen ... . Auf-
klärung vollendet sich und hebt sich auf
..." ( 1 ), so lautet die (zumindest in der
Form hcgclianisicrcndc) Schlußfolgerung
des ersten, dem "Begriff der Aufklärung"
gewidmeten Teils. Und dcch hindert
diese These von (wie wir sehen werden)
ziemlich brüchiger Konsistenz die Auto-
ren nicht an der festen Überzeugung, daß
"die Aufklärung ... sich auf sich selbst
besinnen (muß), wenn die Menschen
nicht vollends verraten werten sollen",
und daß "an Aufklärung geübte Kritik ...
einen positiven Begriff von ihr vorberei-
ten (soll), der sic aus ihrer Verstrickung
in blinder Herrschaft löst." (2) (Hier und
im ganzen Buch, das zuerst 1944 heraus-
gegeben wurde, halten die Autoren vor
allem das "monstrum horrendum" des
Nazismus gegenwärtig.) Es ist jedoch ei-
ne Überzeugung oder Hoffnung, die, so
edel sic ist, kein Fundament hat, wenn
dieses in der oben ausgesprochenen ex-
travaganten These bestehen soll. Der als
Prämisse genommene Begriff der Auf-
klärung ist nämlich zu einseitig und arm.
Wahr ist: das Kriterium der Berechnung
des menschlichen und gesellschaftlichen
Nutzens ist sicherlich eine Komponente
dieser Ideologie, welche jegliches Prinzip
dogmatischer Autorität, beginnend mit
dem der religiös-kirchlichen Autorität,
kritisiert und zurückweist und deshalb
dem Individuum sagt (um die klassischen
kantischen Formulierungen zu gebrau-
chen): Sapere aude! oder "Habe Mut,
dich deines eigenen Verstandes zu be-
dienen". um dadurch aus dem Zustand
der Unmündigkeit herauszutreten, usw.
usw.; dies ist jedoch nicht die einzige
Komponente; für sich oder abstrakt ge-
nommen, ibstrahierend, und zwar von
der weltlichen Pflichtcnlchrc. die sie be-
gleitet, oder auch von der "Toleranz“, der
"Achtung" des menschlichen Individu-
umsais Zweck und niemals Mittel, usw.,
ist jener Begriff selbst deformiert oder
verstümmelt.
Mit anderen Worten, man wird der Auf-
klärung weder historisch noch philoso-
phisch gerecht, wenn man den Bacon-
schen und szientivischcn Beitrag überbe-
tont, der demnach darin besteht, die auf-
geklärte Vernunft auf eine bloß
"kalkulierende Vernunft" und auf die mit
ihr mehr oder weniger synonyme
"formalistische Vernunft",
"Naturwissenschaft", "Technik",
"statistische Erhebung" (beispielsweise
von bei einem Pogrom Ermordeten) und
so weiter zu
reduzieren. Es ist aber evident, daß eine
solche Verarmung des Begriffs der Auf
klärung sich der (unglaublich) extremen
Allgemeinheil seiner Bedeutung ver-
dankt. für die die Aufklärung geradezu
mit 'List" des Odysseus beginnt ("Wie
die Erzählung von den Sirenen die Ver-
schränktheit von Mythos und rationaler
Arbeit in sich beschließt, so legt die
Odyssee insgesamt Zeugnis ab von der
Dialektik der Aufklärung": siehe "Exkurs
1, Odysseus oder Mythos und Aufklä-
rung' (3)] und - über Bacon und das Auf-
kommen der experimentellen Wissen-
schaft - mit Sade und Nietzsche endet:
"Das Wert; Sades, wie dasjenige Nietz-
sches ... steigert das s/.ientivischc Prinzip
ins Vernichtende" (4) (siehe "Exkurs 1 1 .
Juliette oder Aufklärung und Moral").
Der alte Hegel jedoch (der Schutzheilige
unserer Autoren) hatte (abgesehen auch
von der historischen Unzweideutigkeit
der “Phänomenologie" in dem Abschnitt
über die kamischc "Moralität", in wel-
cher sich für ihn das aufklärerische Be-
wußtsein einer unmittelbaren Freiheit
auflött) auf die historische Substanz der
Aufklärung weder in den "Vorlesungen
über die Geschichte der Philosophie"
Verzicht getan, in denen es beispielswei-
se heiß«: "Was daher in den französi-
schen philosophischen Schriften ... be-
wunderungswürdig ist. ist die erstaunli-
che Energie und Kraft des Begriffs gegen
die Existenz, gegen den Glauben, gegen
alle Macht der Autorität seit Jahrtausen-
den" (5), noch in den "Vorlesungen über
die Philosophie der Geschichte", in de-
nen sich die berühmten Seiten über die
"Tugend" Robespierrcs usw. finden. So
viel steht fest: die "Dialektik" unserer
gebildeten Autoren schwebt über der Ge-
schichte. schwebt. Das Ende ihres Flu-
ges, wenn wir so sagen wollen, wäre die
Überschreitung der bürgerlichen (mit der
Aufklärung geborenen) Zivilisation oder
auch ihre ideologische Widerlegung, aus
Gründen, die jetzt nicht mehr schwer zu
erraten sind: "Aufklärung hatte als bür-
gerliche längst vor Turgot und
d'Alctnbcit sich an ihr positivistisches
137
[szientivisches] Moment verloren. Sic
war vor der Verwechslung der Freiheit
mit dem Betrieb der Sclbstcrhaltung
(oder der Anwendung der Kategorie des
Nützlichen ) nie gefcit".(6) "Je weiter aber
der Prozess der Selbsterhaltung durch die
bürgerliche Arbeitsteilung geleistet wird,
um so mehr erzwingt er die Sclbstcntäu-
ßcning der Individuen, die sich an Leib
und Seele nach der technischen Appara-
tur zu formen haben“ (6a) ... . So bliebe
das Verhältnis der Notwendigkeit zum
Reich der Freiheit bloß quantitativ, me-
chanisch, und Natur, ... wurde Totalität
und absorbierte die Freiheit ... Mit der
Preisgabe des Denkens [Selbstrcflcxion
oder Selbstbewußten], das in seiner
verdinglichten Gestalt als Mathematik.
Maschine, Organisation an den seiner
vergessenden Menschen sich rächt, hat
Aufklärung ihrer eigenen Verwirklichung
entsagt.” (7) Wie man sicht, handelt cs
sich um die soundsovielte spiritualisti-
sche. im Grunde romantische, Reaktion
gegen die Technik und die moderne ge-
sellschaftliche Organisation. Worum es
diesen romantischen und folglich der
bürgerlichen Welt, die sie aufs Korn neh-
men. verhafteten Kritikern geht, ist tat-
sächlich die Versachlichung und Ver-
dinglichung nicht so sehr des menschli-
chen Wesens, des wirklichen menschli-
chen Individuums, sondern eher des Den-
kens. des Sclbstbewußtseins oder des
Geistes: "Aufklärung", wiederholen sic
Schopenhauer, "hat die klassische Forde-
rung. das Denken zu denken ... beiseite-
geschoben. weil sie vom Gebot, der Pra-
xis zu gebieten, ablenke ... ” (8) Und:
'Ule Verweisung des Denkens aus der
(modernen symbolischen] Logik ratifi-
ziert im Hörsaal die Versachlichung des
Menschen in Fabrik und Büro” (9) - hier
wird der Romantizismus konfus und ver-
fährt kontaminierend. Die Verdingli-
chung des realen Individuums, des Men-
schen ln der Fabrik und Im Büro, laßt
sich durchaus nicht mit der Dekadenz des
Kultes von Geist und Innerlichkeit erklä-
ren, sondern, nach Marx, durch die Öko-
nomie und die Ethik der bürgerlichen
Klasse, wobei die letztgenannte gerade
durch die platonisiercndc oder idealisti-
sche und spiritualisiischc Auffassung des
menschlichen Wesens konstituiert wurde,
in deren Schutz der bürgerliche Besitzin-
dividualismus und das Ideal seiner
“heiligen Persönlichkeit" und die daraus
folgende wirklichs Entäußerung des
Menschen sich verbirgt. Es ist also alles
genau umgekehrt: die bürgerliche
ökonomische Struktur mit ihrem spiri-
tualistischcn aristokratischen kulturellen
Überbau erklärt die Versachlichung des
Menschen in Fabrik und Büro usw. und
seine Entäußerung: jene Entäußerung,
welche das "sich verhärtende" oder "sich
versachlichende" selbstbewußte Denken
(oder Geist) als "Mathematik. Maschine"
usw. usw*. nicht zu erklären vermag, ab-
gesehen von der voraussehbaren Tatsa-
che, daß die Wissenschaft und ihre An-
wendungen (Früchte der angeblichen
"Verhärtung” des Geistes) einen Teil
dessen ausmachen werden, was das Po-
sitivere des bürgerlichen Vermächtnisses
an die zukünftige Zivilisation sein wird.
Denn nicht die Maschine, die Technik an
sich, bedroht die Autonomie des
menschlichen Individuums, sondern (und
hier kommen wir auf den wichtigeren
Punkt, der deutlicher hervortreten sollte)
der Gebrauch, den die Menschen in ihren
gesellschaftlichen Verhältnissen einer die
andere ausbeutenden und unterdrücken-
den Klasse davon machen. Die Technik
ist in sich selbst optimal, insofern sie ein
unerläßliches Instrument des fortgeschrit-
tenen menschlichen Lebens ist, sie ist je-
doch wesentlich ein gesellschaftliches
Instrument und ihre größere oder gerin-
gere menschlich-erzieherische Wirksam-
keit hängt letztlich von der größeren oder
geringeren Menschlichkeit der Gesell-
schaft ab, welche sie anwendet. Und hier
bietet sich die einzige Möglichkeit der
dialektischen Entwicklung und der Ver-
wirklichung des historischen moralischen
Gehalts der Aufklärung (der "Achtung"
vor dem realen menschlichen Indivi-
duum), über den unsere Autoren hinweg-
gegangen sind. Obwohl sie sich davon
unterscheiden wollen, reihen sie sich in
eben jene Schar von "Kritikern der Zivi-
lisation" ein, zu denen Huizingo, Ortega
y Gasset und Jasp:rs gehören, um die
bedeutenderen zu nennen. Ihnen allen
gemeinsam ist nämlich ein gewisses ari-
stokratisches Nicht-Ertragcn können
nicht nur der Technik, sondern auch
(natürlich) der "Massen" (im allgemei-
nen) und ihrer "barbarischen" Kultur, die
hinter der Technik der mass-media
drängt.
"Die Regression der Massen heute" - so
lamentieren unsere demokratischen Äs-
theten - "ist die Unfähigkeit, mit eigenen
Ohren Ungehörtes hören. Unergriffenes
mit eigenen Händen fassen zu können,
die neue Gestalt der Verblendung, die je-
de besiegle mythische ablöst." (9a)
Unvermeidlich sind diese Kritiker dieser
"Krise" oberflächlich, denn sie sind de-
ren hauptsächliche (mehr oder weniger
berühmten) Patienten. (10)
Abschließend noch eine Dctailbcobach-
tung zu einer typischen "dialektischen"
Vergewaltigung eine«: Grundgedanken«.
Spinozas: "Comntiseratio - sagen unsere
brillanten Autoren - ist Menschlichkeit in
unmittelbarer Gestalt, aber zugleich 'mala
et inutilis' [vgl. Spinoza, Ethik], nämlich
als das Gegenteil der männlichen Tüch-
tigkeit". der "römischen virtus".
"Weibisch und kindisch nennt Clairwil
(vgl. Sade] das Mitleid. "(I I)
Nun sagt Spinoza gerade an der zitierten
Stelle, im Fünfzigsten Lehrsatz, des vier-
ten Teils: "Mitleid ist bei einem Mensc-
hen. der nach der Leitung der Vernunft
lebt, an und für sich schlecht und un-
nütz”; (12) im Beweis erklärt er, daß
"Mitleid ... Unlust (ist) (also ein besonde-
rer 'Affekt' oder Passivität bzw. Irratio-
nalität] und daher an und für sich
schlecht" und "das Gute .... das aus ihm
folgt, daß wir nämlich den bemitleideten
Menschen von seinem Leid zu befreien
suchen .... suchen wir nach dem bloßen
Gebot der Vernunft zu tun ... ; und nur
von dem. was wir rach dem Gebot der
Vernunft tun, können wir gewiß wissen,
daß es gut ist ... . Daher ist Mitleid bei
einem Menschen, drr nach der Leitung
der Vernunft lebt, an und für sich
schlecht und unnütz.' Und er schließt die
Anmerkung "Denn wer weder durch die
Vernunft noch durch Mitleid bewegt
wird, anderen Hilfe zu leisten, der wird
mit Recht unmenschlich genannt, denn er
scheint ... mit einem Menschen keine
Ähnlichkeit zu haben.“ (13)
Was hat also der leilige Spinoza - für
den ebenfalls derjenige, der sich bemüht,
die anderen nach der Vernunft zu leiten,
nicht aus Affekt, sondern menschlich
und gütig handelt - mit dem römischen
virtus und - geradezu unaussprechlich
mit dem skrupellosen, verbrecherischen
Kalkül der Lehrerin und Komplizin im
Sadismus von "Julicttc" zu tun? Wie
kann man übersehen, daß Spinozas Vor-
behalte gegen das 'Mitleid" durch den
ethischen Rigorismus seines Rationalis-
mus bedingt sind, dem gegenüber das
Gefühl des Mitleids nicht bestehen kann,
es sei denn fautc-Je-mieux'! Mißgriffe
dieser Art lassen sich - in ernsthaften Un-
tersuchungen - nur mit den Flügen einer
unbefangen phantasierenden Dialektik
erklären: das bestätigt im übrigen, was
oben über das antiaufklärcrischc und an-
tirationalistische Paradox dieser beiden
spätromantischen Ideologen gesagt
wurde.
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(11) ’QaiaHfcdti AJttl'utj'.aiO. S 123
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(13) Öd. S. 313
MARCUSES MORALISMUS UND
UTOPISMUS
Da wir bei dem Thema Ideologie und
Utopie sind, wollen wir die Leser noch
auf Herbert Marcuse hinweisen. dessen
letztes Buch "Orc-dimensional Man”
(Boston 1964; Neuwied-Berlin 1967)
den naiven und verwirrenden Untertitel
"Sludics in Ihc Ideology of odvanccd in
dustrial society“ trägt. Gewiß zeigt dieses
Buch (vielleicht das beste Marcuses) eine
viel breitere und angespanntere Aufmerk-
samkeit auf die Tauachen der gegenwär-
tigen bürgerlichen amerikanischen und
amerikanisierten Kultur als das Buch von
Horkheimer und Adorno, das fast aus
schließlich auf das Phänomen der mass-
media eingeht. Das wird schon gleich in
den ersten Zeilen der Vorrede deutlich:
"Dient nicht die Bedrohung durch eine
atomare Katastrophe, die das Menschen-
geschlecht auslöschen könnte, ebenso-
sehr dazu, gerade diejenigen Kräfte zu
schützen, die diese Gefahr verewigen? ...
(wir) stehen der Taisache gegenüber, daß
die fongeschrittene Industriegesellschaft
reicher, größer und besser wird, indem
sic die Gefahr verewigt. Die Verteidi-
gungsstruktur erleichtert das Leben einer
größeren Anzahl von Menschen und er-
weitert die Herrschaft des Menschen über
die Natur. Unter diesen Umständen fällt
cs unseren Massenmedien nicht schwer,
partikulare Interessen als die aller ein-
sichtigen Leute zu verkaufen. ... Und
doch ist diese Gesellschaft als Ganzes ir-
rational. Ihre Produktivität zerstört die
freie Entwicklung der menschlichen Be-
dürfnisse und Anligen, ihr Friede wird
durch die beständige Kriegsdrohung auf-
recht erhalten, ihr Wachstum hängt ab
von der Unterdrückung der realen Mög-
lichkeiten. den Kampf ums Dasein zu be-
frieden.” (I) Und so weiter, den Haupt-
aspekten der fortgeschrittenen Indu-
stricgesellschaft folgend: von den
"neuen Formen der Kontrolle" ("Eine
komfortable, reibungslose, vernünftige
demokratische Unfreiheit herrscht in der
fortgeschrittenen industriellen Zivilisati-
on. ein Zeichen technischen Fortschritts
... (In der Übcrflußgcscllschaft) erzwin-
gen die sozialen Kontrollen das überwäl-
tigende Bedürfnis nach Produktion und
Konsumtion von unnützen Dingen; das
Bedürfnis nach abstumpfender Arbeit,
wo sie nicht mehr wirklich notwendig ist;
das Bedürfnis nach Arten der Entspan-
nung, die diese Abstumpfung mildem
und verlängern; das Bedürfnis, solche
trügerischen Freiheiten wie freien Wett-
bewerb bei vcrordnelcn Preisen zu erhal
ten. eine freie Presse, die sich selbst
zensiert, freie Auswahl zwischen gleich-
wertigen Marken und nichtigem Zube-
hör" (21) bis zur "Abriegelung des Poli-
tischen" ("Die neu: technische Arbeits-
welt erzwingt so eine Schwächung der
negativen Position der arbeitenden Klas-
se ... . Mit dem trchnischcn Fortschritt
als ... Instrument wird Unfreiheit - im
Sinne der Unterwerfung des Menschen
unter seinen Produktionsapparat - in Ge-
stalt vieler Freiheiten und Bequemlich-
keiten verewigt” (32)) und zur
"Absperrung des Universums der Re-
de" oder "gesellschaftlichen Denkge-
wohnheiten' ("Diese Art des Wohlerge-
hens ... durchdringt die 'Medien', die zwi-
schen den Herren und ihren Dienern
vermitteln. Ihre Reklameagenten modeln
das Universum der Kommunikation, in
dem das eindimensionale Verhalten sich
ausdrückt” (4)) und schließlich zum
"Triumph des positiven Denkens", al-
so des neopositivistischen, szientisti-
schen, mathematisierenden und forma-
listischen und damit antidialcktischcn
(oder dem "negativen“ Denken entgegen-
stehenden) und zugleich antihistori-
schen Denkens - kurz, der eigentlichen
Philosophie der technologischen Welt
und ihrer idealen oder vielmehr ideo-
logischen Garantie : "Aber dieses radika-
le Hinnehmen des Empirischen verletzt
das Empirische (die Wirklichkeit, die
Geschichte); denn in ihm spricht das ver-
stümmelte. 'abstrakte' Individuum sich
aus. das nur das erfährt (und ausdrückt),
was ihm (in einem wörtlichen Sinne) ge-
geben ist, das nur die Fakten und nicht
die Faktoren hat. dessen Verhalten ein-
dimensional und manipuliert ist" (5)
(worauf die Macht in der fortgeschritte-
nen IndustriegcselUchaft beruht). Wie
schon gesagt, die Fakten, die die gegen-
wärtige bürgerliche Gesellschaft konsti-
tuieren, werden dargestellt und die do-
kumentarische Analyse ist nahezu er-
schöpfend (eine Reihe von Problemen
haben wir hier auslassen müssen): und
dennoch ist .ihre Diagnose und
"therapeutische” Einschätzung verworren
und die Schlußfolgerungen vage und uto-
pisch. Nehmen wir als Beispiel das zen-
trale Phänomen der fortschreitenden
technischen Entwicklung; "Ich gab zu
verstehen, daß sich erweiternde Automa-
tion mehr ist als ein quantitatives An-
wachsen der Mechanisierung - daß sie
ein Wandel im Charakter der grundle-
genden Produktivkräfte ist. Es scheint,
daß die bis zu den Grenzen des technisch
Möglichen getriebene Automation mit
einer Gesellschaft unvereinbar ist, die auf
der privaten Ausbeutung menschlicher
Arbeitskraft im Produktionsprozeß be-
ruht. Fast ein Jahrhundert vor der Ver-
wirklichung der Automation faßte Marx
ihre sprengenden Aussichten ins Auge.”
(6) Nur läßt das von Marcuse gegebene
Zitat aus den "Gninilrissen der Kritik der
politischen Ökonomie”, das seine These
von der Automation als dem großen Ka-
talysator der fortgeschrittenen Industric-
gesellschnft" belegen soll, die folgenden
Marxschcn Texte beiseite, die unseren
Verfasser vollkommen dementieren:
"Das Kapital ist selbst der prozessierende
Widerspruch dadurch, daß es die Ar-
beitszeit auf ein Minimum [vermittels
des technologischen Fortschritts, der in
der Automation kulminiert) zu reduzie-
ren sucht*, während cs andererseits die
Arbeitszeit als einziges Maß und Quelle
des Reichtums setzt. Es vermindert die
Arbeitszeit daher in der Form der not-
wendigen, um sie za vermehren in der
Form der überflüssigen; setzt daher die
überflüssige in wachsendem Maß als
Bedingung - question de vic et de mort -
für die notwendige ... . Die Schöpfung
von viel disposablc time außer der not-
wendigen Arbeitszeit .... diese Schöpfung
von Nicht-Arbeitszeit erscheint auf dem
Standpunkt des Kapitals ... als Nicht-Ar-
beitszeit. freie Zeit (nur] Für einige ... .
(Das Kapital) ist so, malgr6 lui. instru-
mental in ercating the means of social
disposablc time, um die Arbeitszeit für
die gesamte Gesellschaft auf ein fallen-
des Minimum zu reduzieren, und so die
Zeit aller frei für ihre eigne Entwicklung
zu machen .... Je mehr dieser Wider-
spruch sich entwickelt, um so mehr stellt
sich heraus, daß das Wachstum der Pro-
duktivkräfte nicht mehr gebannt sein
kann an die Aneignung fremder surplus
labour, sondern die Arbeitermasse selbst
ihre Surplusarbeit sich aneignen muß ... .
Es ist dann keineswegs mehr die Arbeits-
zeit, sondern die disposablc time das
Maß des Reichtums." ("Grundrisse“.
Berlin 1953, S. 593, 595-596) Während
also Marcuse heute utopistisch geradezu
behauptet: "einmal zum materiellen Pro-
duktionsprozeß schlechthin geworden,
würde Automation die ganze Gesell-
schaft revolutionieren - und 'vollständige
Automation im Reich der Notwendigkeil
würde die Dimension freier Zeit als die-
jenige eröffnen, in der das private und
gesellschaftliche Sein sich ausbildcn
würde" (7), hat Marx vor fast einem Jahr-
hundert exakt vorausgcschcn, daß der
Kapitalismus, in einen neuen extrem wi-
dersprüchlichen Prozeß versenkt, zum
Zwecke des Profits • question de vie et
de mort - auch die die Produktion alles
Überflüssigen oder die Schöpfung neuer
Bedürfnisse vermittelnde Automation be-
herrschen, gleichzeitig jedoch malgrt lui
139
- in einer zukünftigen ökonomisch-jorffl-
len Revolution - Instrument der Schaf-
fung freier Zeit für alle sein würde.
Die Wahrheit ist. daß Marcuse in diesem
Duch in der Methode unentschieden
bleibt und deswegen im vorliegenden
Fall (trotz der Hinweise von Marx) die
klassenbezogene, alio materialistisch-hi-
storische, Formulierung des Problems der
kapitalistischen Produktivität nicht liefert
und so. ohne es zu wollen, durch seinen
soziologischen fideistischen und utopi-
stisclien Standpunkt gegenüber der Auto-
mation zur "Ideologie der fortgeschritte-
nen (hyperbUrgerlichcn) Industriegesell-
schaft". zu ihrer Stärkung und zur
"Abriegelung" ihres politischen Univer-
sums beiträgt. (8) Richtig ist. daß ein
solcher Standpunkt sich dann in einer
Theorie der "Neubcstimmung der Werte
[vielmehr: der "Endjrsachcn"] in techni-
schen Begriffen, als Elemente(n) des
technologischen Prozesses" entfaltet:
"die geschichtliche Leistung von Wissen-
schaft und Technik hat die Übersetzung
der Werte in technische Aufgaben er-
möglicht die Materialisierung der
Werte." (9) Zum Beispiel: "Berechenbar
ist das Minimum an Arbeit, mit dem, und
das Maß, in dem die Lebensbedürfnisse
aller Mitglieder einer Gesellschaft be-
friedigt werden könnten - vorausgesetzt.
daß die verfügbarer. Ressourcen zu die-
sem Zweck verwandt wurden, ohne
durch andere Interessen eingeschränkt zu
sein und ohne daß die Akkumulation des
Kapitals behindert würde, dessen cs zur
Entwicklung der jeweiligen Gesellschaft
bedarf. Mit anderen Worten: quaritifi-
zierbar ist der verfügbare Spielraum der
Freiheit von Mangel.'(lO) Gewiß, die
Hindernisse, die der Verwirklichung der
Werte entgegenstehen sind "bestimmbare
politische Hindernisse".(l 1) Marcuse
kann cs nicht verhehlen,' daß die Antwort
moralistisch und utopistisch ist: "... die
ehemals metaphysischen Ideen der Befre-
iung (können) zum geeigneten Gegen-
stand der Wissenschaft werden. Aber
diese Entwicklung konfrontiert die Wis-
senschaft mit der unangenehmen [sic!]
Aufgabe, politisch ni werden - das wis-
senschaftliche Bewußtsein als politisches
Bewußtsein anzuerkennen und das wis-
senschaftliche Unternehmen als politi-
sches. Denn die Überführung der Weite
in Bedürfnisse, der Endursachen in
technische Möglichkeiten ist eine neue
Stufe der Unterwerfung oppressiver. un-
bcwältigtcr Kräfte der Gesellschaft und
der Natur ... . Denn die technologische
Neubestimmung unJ die technische Mei-
sterung der Endursachen ist der Aufbau,
die Entwicklung und Anwendung der
(materiellen und geistigen) Ressourcen.
befreit von allen partikularen Interessen,
die die Befriedigung der menschlichen
Bedürfnisse und die Entfaltung der
menschlichen Anlagen behindern. Mit
anderen Worten, sic ist dis rationale Un-
ternehmen des Menschen als Menschen,
das der Menschheit. Die Technik kann so
die geschichtliche Korrektur der verfrüh-
ten Identifikation von Vernunft und Frei-
heit herbeifuhren, dcr/ufolgc der Mensch
mit dem Fortschreitcn der sich selbst per-
petuicrenden Produktivität auf der Basis
von Unterdrückung frei werden und blei-
ben könne."(l2) Und so ist "die von ih-
ren ausbeuterischen Zügen befreite
technologische Rationalität der einzige
Maßstab und Wegweiser für die Planung
und Entwicklung der verfügbaren Res-
sourcen für allc."(l3) Andererseits müsse
man zugestehen, daß "diese Korrektur
niemals das Ergebnis des technischen
Fortschritts selber sein" könne und daß
sie "eine politische Umwälzung notwen-
dig" mache. (14) Im Namen welcher Sa-
che? Der (technologischen)
"Wissenschaft" im Dienst der
"Menschengattung", der "Menschheit”,
großgeschrieben, wie sic. mutatis mut-
andis. der treuherzige' Marcuse des 19.
Jahrhunderts, Auguste Comtc. der weltli-
che Prophet und Pipst, verheißen hat?
Eine ziemlich vage politische Bedrohung
für die Machthaber in der fortgeschritte-
nen Industriegesellschaft.
Diese (heute) starke Strömung des
(überholtesten) Utopismus ist sicherlich
eine der zahllosen Bsstätigungen a contr-
ario der realistische Grundthesen des
historischen Materialismus: von der öko-
nomisch-klassenmäßigen Formulierung
des Problems der menschlichen
"Befreiung" bis zu der der historischen
"Entwicklung” des Problems selbst, die
auch wohlbekannt ist und von Marcuse
explizit widerlegt wird ("Was folgt dar-
aus? Daß 'Befreiung der inhärenten
Möglichkeiten' die geschichtliche Alter-
native nicht mehr angemessen ausdrückt”
[15]). Feststeht, daß die "Dialektik" und
die “dialektischen Begriffe" des
"negativen" Denkens, die er lebhaft ge-
gen das "positive" Denken des gegen-
wärtigen Szientismus verteidigt, noch
hegelianisch oder hegelianischen Typs
sind (und darin vor allem unterscheidet
sich der Philosoph Marcuse von dem -
positivistischen - Philosophen Comte):
"Das dialektische Denken versteht die
kritische Spannung zwischen 'ist' und
'sollte sein' zunächst als einen ontologi-
schen Sachverhalt, der der Struktur des
Seins selbst zukommt ... . Die gegebene
Wirklichkeit hat ibre eigene Wahrheit;
die Anstrengung, sie als solche zu begrei-
fen und über sie hinauszugehen. setzt ei-
ne andere Logik [die des 'sollte sein'], ei-
ne widersprechende Wahrheit voraus ... .
Als geschichtlicher Prozeß schließt der
dialektische Prozeß Bewußtsein ein: daß
die befreienden Potentialitäten erkannt
und erfaßt werden. Damit schließt er
Freiheit ein ... die Freiheit, die ein not-
wendiges Aprinri der Befreiung ist [sic].
Darin besteht Denkfreiheit in dem einzi-
gen Sinne, in dem das Denken in der
verwalteten Welt frei sein kann - als das
Bewußtsein ihrer repressiven Produktivi-
tät und als das absolute Bedürfnis . aus
diesem Ganzen auszubrechen."(16) Den-
noch besteht Marcuse entschieden (und
verdienstvollerweise) auf der histori-
schen Verantwortung der Philosophie:
jene methodische Unentschiedenheit,
von welcher oben die Rede war. enthüllt
sich schließlich als eine Un entschieden-
heit zwischen Hegel und Marx.
Und die Schlußfolgerungen? Gesetzt,
daß in die Bannfbrtnel ("die industrielle
Gesellschaft" etc.) unterschiedslos auch
die sozialistische Sowjetgesellschalt
einbezogen ist ("Die totalitäre Tendenz
dieser [technischen sozialen] Kontrollen
scheint sich ... durehmsetzen ... dadurch,
daß sic Ähnlichkeiten in der Entwicklung
von Kapitalismus und Kommunismus
hervorbringt" etc. etc.), was wird in letz-
ter Instanz dank dieser Politik der
Wissenschaft zu erlösen bleiben, wenn
nicht die, die an den äußersten, uner-
heblichsten Rändern der Geschichte
leben? Wenn die Vclkssouvcriinität eine
"Illusion" ist. weil "das 'Volk', früher das
Ferment gesellschaftlicher Veränderung,
... ’aufgestiegen' (ist), um zum Ferment
gesellschaftlichen Zusammenhalts zu
werden", bleibt jedoch "unter der konser-
vativen Volksbasis ... das Substrat der
Geächteten und Außenseiter die Ausge-
beuteten und Verfolgten anderer Rassen
....", die Subprolctaricr. die “außerhalb
des demokratischen Prozesses" existieren
(17) - oder das Lumpenproletariat
(i.O.dt.) seligen Manschen Angedenkens
. In dieser Verkleidung wäre das
"Gespenst" "wieder da", wenngleich
Marcuse nicht verbergen kann, daß die
"ökonomischen und technischen Kapazi-
täten der bestehenden Gesellschaften ...
umfassend genug (sind), um Schlichtun-
gen und Zugeständnisse an die Benach-
teiligten zu gestatten, und ihre bewaffne
ten Streitkräfte hinreichend geübt und
ausgerüstet (sind), um mit Notsituationen
fertig zu \vcrden."(l8) Und so (Marcuse
verhehlt es nicht) besitzt "die kritische
Theorie der Gesellschaft ... keine Begrif-
fe. die die Kluft zwischen dem Gegen-
wärtigen und seiner Zukunft übcrbrücken
könnten; indem sic nichts verspricht (sic)
und keinen Erfolg zeigt [sic] bleibt sie
negativ" - rein negativ. "Damit will sie
jenen die Treue halten, die ohne Hoff-
nung ihr Leben der Großen Weigerung
hingegeben haben und hingeben. "(19)
Abschließend kann man leider sagen, daß
Marcuse. sei cs mit jener utopischen
140
"Politik der Wissenschaft” (die er auf ei-
ne ferne Zukunft zu vertagen scheint), sei
es mit jener gegenwärtigen "großen Wei-
gerung". ungewollt jener Fähigkeit, die
gesellschaftliche Veränderung aufzuhal-
ten, die für Marcuse der vielleicht cha-
rakteristischste Erfolg der fortgeschritte-
nen (hyper-bürgerlichen) Industriegesell-
schaft ist, seine ideologische Unterstüt-
zung gibt. (20)
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(16) EM. S. 287-2(4
(19) EM
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<ar«rtirqd*«Hj:
Cka hat Ea^v gauraan Sukn itO «r OOpna g • i p • 1 1 1 j*4utt
O« imao H*ewih*t«X9«i aawran ^ dan Hb.
Karl Marx und Friedrich Engels
Über die revolutionäre
Rolle der Bourgeoisie
Auszug aus dem Kommunistischen
Manifest
Die Bourgeoisie hat in der Geschichte
eine hrtchs: revolutionäre Rolle gespielt.
Die Bourgeoisie, wo sic zur Herrschaft
gekommen, hat alle feudalen, patriarcha-
lischen, idyllischen Verhältnisse zerstört.
Sic hat die buntscheckigen Fsudalbande.
die den Menschen an seinen natürlichen
Vorgesetzen knüpften, unbarmherzig zer-
rissen und kein anderes Band zwischen
Mensch und Mensch übrig gelassen als
das nackte Interesse, als die gefühllose
"bare Zahlung". Sic hat den heiligen
Schauer der frommen Schwärmerei, der
ritterlichen Begeisterung, der spießbür-
gerlichen Wehmut in dem eiskalten Was-
ser egoistischer Berechnung ertränkt. Sic
hat die persönliche Würde in den
Tauschwer, aufgelöst und an die Stelle
der zahllosen verbrieften und wohler-
worbenen Freiheiten die eine gewissen-
lose Handelsfreiheit gesetzt. Sic hat, mit
einem Wort, an die Stelle der mit religiö-
sen und politischen Illusionen verhüllten
Ausbeutung die offene, unverschämte,
direkte, dürre Ausbeutung gesetzt.
Die Bourgeoisie hat alle bisher ehrwür-
digen und mit frommer Scheu betrachte-
ten Tätigkeiten ihres Heiligenscheins
entkleidet. Sic hat den Arzt, d:n Juristen,
den Pfaffen, den Poeten, den Mann der
Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnar-
beiter verwandelt. Die Bourgeoisie hat
dem Familienverhältnis seinen rührend-
sentimentalen Schleier abgerissen und cs
auf ein reines Geldverhältnis zurückge-
führt.
Die Bourgeoisie hat enthüllt, wie die bru-
tale Kraftäjßerung, die die Reaktion so
sehr am Mittelalter bewundert, in der
trägsten Bärenhäuterei ihre passende Er-
gänzung fand. Erst sic hat bewiesen, was
die Tätigkeit der Menschen zustande
bringen kann. Sie hat ganz andere Wun-
derwerke vollbracht als ägyptische Pyra-
miden, römische Wasserleitungen und
gotische Kathedralen, sic hat ganz andere
Züge ausgeführt als Völkerwanderungen
und Kreuzzüge.
Die Bourgeoisie kann nicht existieren,
ohne die Produktionsinstrumente, also
die Produktionsverhältnisse, also sämtli-
che gesellschaftlichen Verhältnisse,
fortwährenJ zu revolutionieren. Unver-
änderte Beibehaltung der alten Produkti-
onsweise war dagegen die erste Exi-
stenzbedingung der früheren industriel-
len Klassen. Die fortwährende Umwäl-
zung der Produktion, die ununterbroche-
ne Erschütterung aller gesellschaftlichen
Zustände, die ewige Unsicherheit und
Bewegung zeichnet die Bourgeosepoche
vor allen anderen aus. Alle festen, einge-
rosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge
von altchrwürdigcn Vorstellungen und
Anschauungen werden aufgelöst, alle
neugebildctcn veralten, ehe sie verknö-
chern können. Alles Ständische und Ste-
hend; verdampft, alles Heilige wird ent-
weih*. und die Menschen sind endlich
gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre ge-
genseitigen Beziehungen mit nüchternen
Augen anzusehen.
Das Bedürfnis nach einem stets ausge-
dehnteren Absatz für ihre Produkte jagt
die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel.
Überall muß sie sich einnisten, überall
anbauen, überall Verbindungen herstel-
len.
Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploita-
tion des Weltmarkts die Produktion und
Konsumtion aller Länder kosmopolitisch
gestaltet. Sie hat zum großen Bedauern
der Reaktionäre den nationalen Boden
der Industrie unter den Füßen weggezo-
gen. Die uralten nationalen Industrien
sind vernichtet worden und werden noch
täglich vernichtet. Sic werden verdrängt
durch neue Industrien, deren Einführung
eine Lebensfrage für alle zivilisierten Na-
tionen wird, durch Industrien, die nicht
mehr einheimische Rohstoffe, sondern
den entlegensten Zonen angchörige Roh-
stoffe verarbeiten und deren Fabrikate
nicht nur im Lande selbst, sondern in al-
len Weltteilen zugleich verbraucht wer-
den. An die Stelle der alten, durch Lan-
dcscizcugnissc befriedigten Bedürfnisse
treten neue, welche die Produkte der ent-
ferntesten Länder und Klimate zu ihrer
Befriedigung erheischen. An die Stelle
der alten lokalen und rationalen Selbst-
genügsamkeit und Abgeschlossenheit
tritt ein allsciligcr Verkehr, eine allscitigc
Abhängigkeit der Nationen untereinan-
der. Und wie in der materiellen, so auch
in der geistigen Produkbon. Die geistigen
Erzeugnisse der einzelnen Nationen wer-
den Gemeingut. Die nationale Einseitig-
keit und Beschränktheit wird mehr und
mehr unmöglich, und aus vielen nationa-
len und lokalen Literaturen bildet sich
eine Weltliteratur.
Die Bourgeoisie reißt durch die rasche
Verbesserung aller Produktionsinstru-
mente, durch die unendlich erleichterten
Kommunikationen alle, auch die barba-
rischsten Nationen in die Zivilisation.
Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind
die schwere Artillerie, mit der sic alle
chinesischen Mauern in den Grund
schießt, mit dem sie den hartnäckigsten
Fremdenhaß der Barbaren zur Kapitulati-
on zwingt. Sie zwingt alle Nationen, die
Produktionsweise der Bourgeoisie sich
anzueignen, wenn sie nicht zugrunde
141
gehn wollen; sie zwingt sie. die soge-
nannte Zivilisation bei sich selbst einzu-
führen, d.h. Bourgeois zu werden. Mit ei-
nem Wort, sie schafft sich eine Welt
nach ihrem eigenen Bilde.
Die Bourgeoisie hat das Land der Herr-
schaft der Stadt unterworfen. Sic hat
enorme Städte geschaffen, sie hat die
Zahl der städtischen Bevölkerung gegen-
über der ländlichen in hohem Grade ver-
mehrt und so einen bedeutenden Teil der
Bevölkerung dem Idiotismus des Landle-
bens entrissen. Wie sie das Land von der
Stadt, so hat sie die barbarischen und
halbbarbari sehen Länder von den zivili-
sierten, die Bauemvölker von den Bour
geoisvölkem. d:n Orient vom Okzident
abhängig gemacht.
Die Bourgoisie hebt mehr und mehr die
Zersplitterung d:r Produktionsmittel, des
Besitzes und der Bevölkerung auf. Sie
hat die Bevölkerung agglomeriert, die
Produktionsmittel zentralisiert und das
Eigentum in wenigen Händen konzen-
triert. Die notwendige Folge hiervon war
die politische Zentralisation. Unabhän-
gige. fast nur verbündete Provinzen mit
verschiedenen Interessen, Gesetzen, Re-
gierungen und Zöllen wurden zusam-
mengedrängt in eine Nation, eine Regie-
rung, ein Gesetz, ein nationales Klassen-
intcrcssc. eine Douancnlinic.
Die Bourgeoisie hat in ihrer kaum hun-
dertjährigen Klassenherrschaft massen-
haftere und kolossalere Produktions-
kräfte geschaffen als alle vergangenen
Generationen zusammen. Unterjochung
der Naturkräfte, Maschinerie, Anwen-
dung der Chemie auf Industrie und Ak-
kerbau. Dampfschifffahrt. Eisenbahnen,
elektrische Telegraphen, Urbarmachung
ganzer Weltteile. Schiffbarmachung der
Flüsse, ganze aus dem Boden hervorge-
stampfte Bevölkerungen - welches frü-
here Jahrhundert ahnte, daß solche Pro-
dukiionskräfte im Schoß der gesellschaft-
lichen Arbeit schlummerten.
Wir haben also gesehn: Die Produktions-
und Verkehrsmittel. auf deren Grundlage
sich die Bourgeoisie lieranbildcte, wur-
den in der feudalen Gesellschaft erzeugt.
Auf einer gewissen Stufe der Entwick-
lung dieser Produktions- und Verkehrs-
mittel entsprachen die Verhältnisse,
worin die feudale Gesellschaft produ-
zierte und austauschtc. die feudale Orga-
nisation der Agrikultur und Manufaktur,
mit einem Wort die feudalen Eigentums-
verhältnisse den schon entwickelten Pro-
duktivkräften nicht mehr. Sic hemmten
die Produktion, statt sie zu fördern. Sie
verwandelten sich in ebenso viele Fes-
seln Sic mußten gesprengt werden, sie
wurden gesprengt.
/ui OnKumon
ßt'itiitge
(ui
Weiße Flecken
otH'» dir CpuhiiHic Oei Sowjetunion
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tnduitiinlilic'urg
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Opposition umtfia/rui
UnirniJuDciuigcn
KrMqntr fcilunq
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$ D./cnBi i 1983 - 90
Gtuppe Aibritiipolitili
OM ».-
GESELLSCHAFT ZUR FORDERUNG DES STUDIUMS
DER ARBEITERBEWEGUNG e.V.
Postfach 15 0247, 2800 Bremen 15, Postscheck Hamburg Nr. 410077-205, BLZ 20010020
142
Philologischer Nachtrag
zum 'Manifest der Kom-
munistischen Partei'
Dt merta-o-a «vaiuttodx Angabe dai Ktctt» «tft dm
•Ba haf*}. Uran hm da nAcirttq CMtfgi EmöMq du
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CafttoM. ahc da Kmnetappj ven CoWmH inj up»ioi.ieh«r
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da fctoirfl ndiowiH SoinKtnfcirm watimn«
rtotgadtucn areadcn» <97>>r*i*cn dH SttM. Tn CmOiOhi
( da dH mcnrgtaan AUunnoi d Veef.) rm n vtcsNejenn
li'dtm vtivhcdent Fbftng hi inj OrrttkA da varOiaJmen
PtosHi n itwadr« FHtordAja 01J n vandiojanen
GisOnJliBxOao Nr n (n^md. du ■* dator ah Baepil rartron.
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CarxCatHda HXtejr, du POMmai birgerUPm Egons* ru
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aiftfcBarda^ MptaMsdioii SefiunlM ud stfi «tan ad cm»«
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B am« Uia toidtl aa tidi nett m aran «uamdatikfan
Oatun. vndan im Agwct. Zjn Eridanr^utapirM ?«g at nx
alam ur »Asda Wrtuig. Wim. bJ da «B napanendm Komme
ErA4 n natman Dia nandodt Dgaruiaruvj das Pötunm
Mdvg tu ttfodan Fcm>.t«nrgri in) tad-Qa da KOoa das Taeti
Oh aglM netfa OotMa ras U»rtn am *>xn noi »1 avj
M dtuni mUHOtraflcra Gcindagm vom alan AJ doi U Satan
HMBtt idi da >on Mar. aündaCt höandia Uaffoda. ml dH h
dJOi da Vr-mdrq da Pmpan oh Daiatl* ird «1 UHoiUana
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Da V-Hdnj dH Gant« vcm >»-(. nt dH Eint« dH
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d»3 da Ertmd»rg dH tijrjHWian GtMfeäu* fotmtfirWrafdg
■». im da In DjOUtx’S mlrnmOm: WdanjfCOi« »JnBttian
tm fron mm hOh» Catmthm zu gatoi. ttdiil da Emöt £03
audi da (tCQt Uran gmchcMcrim Entert! notiHl mtdan nt>
inefr cs Hdi nfcfl .-hi in da Nctiwd^a« hm CbHwndng
vtrvj Om« wn«<oöum«Pe A««c*irg ven ga»totfoWftm
Ga tMirM&Um <MM«9a mrtjChj da ladaair-j da CaoHkMa
l»atia »rB» Virt«nrig<n Zi«m
(Var*. VKfdams a ano ttn»M Uhto« iph dot*Wtn
GaKfwfmaJUiung um «Hnnttt da»" u»M m urtrtt
Oj» «n« Sdutfit. dt aanga m^pmma « w raHutu
Mtaeoma in) aiffSant CM siraatudian iom-diavp inj
arUdi in) Un TM Gxrgoua N» r« 1« M. da
Zan^PHin; du KoMamraM dai Saioei ud dH Ba^Amrg
kl S« "H d« BaiMinn; a^Cmaap. da ÄodrMfonr«: wo»
imn ml du Og-am n -an^n nmdm Mmtmitci Da
naoadge Fdge havoi m am putsaa TmHxtn ( ) CM
W«m. mm« da Sorg»*« dan FauMurui tu Boi m gtKMagan
HB. rOlan Ben (ad gapn da Bojgtotm uta " 1 * * * * * * DjOi da ROM
VaiWOrg von KWOnm iBuctiHlaaaaain^i inj FVogicaHi
i£h da ntfrftgt GaiaKCdUaitamn; otdl du Unten an«
»f«t*ne tOted» Strm>nÄ ei «WH dm ctpkl*
nUtndgm UHi^anjäH tOcgadOim GosatoO.
Bi Do-41 daiu eckotf)«" Warten CK ac« ScrtM inj Vfyt«l
da MtHCfPHUtraH» nxigu Ano» anagl m to martT« m
Unten ntfiaftr* Cm-KraJe Urganii^s« 'i*m *1 ha« ‘C«a
Beer jmo»a iaÄ <wn da nwnt Vutiauenrg a» P/odJöenMw
dnnda grm«i«de<MHim Ko«rruito«nana)e. mxt> da l®ta-
notumt Nmrm n da Zvbaeo-. » « m W imurticnahWi.
d» a^jatuna ■BVCüjartnm dm Vomu) dai Rnaomui gegen
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Hd bai gm*»> l«Bn U. daß Um Brfi to> "cWochan
GaKtraOirgm arte {MgrdtiacMn Spafa t«6«pi E) andurt.
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Augen dH Bxigcoia btncnti ”Da BcugtHtia M B dH
GaitnctM ena MB» iHoUerdt FBM gaacM** n) 'p Wh Eaur
Kjoeafitntn KiuiHnamcW i.i««.i in)
FnylMörtBdße gatenafan aH aM vugmgm
tuumra»" 8 Oaudga FocrtMnrgm Bnj MB o«cciin»i«n*i
lob. icndm" raudarm am dH «rtaarttnaJ&nai DUcrra. dB)
Di ent m EUtAauv; dH KluiarA«~v** dH Ru-aaoia an" da
rrawaim Bufc^uigm du Komxnanuj ertKMB OK Mjmdm
Ptiugm m UmAcbanmdtB da r.ünrtge IWe dai ProKuaftai
Dh BU ad dt toguvn« Gatakman art^i Nh am «Bh mtum
Pinpatis«. $«<*)« in)Dmttlipgi-«i»habmdamHiKrtcrim]
«MmrOaimCMiBH
Am untren gbntrn u GninJm dH JO WBiog m dH
uonan Sola am gMinatna Draatrg dH KcnBrtBOi »m
tGgadcnm in) votOgatcnm GatakdOMn. Da «Bt Pd an) «
■Wa““'. dH •» B».« WiWwl S»»>m Nh Old
da amddu B iv». « Bi Btg« dH *t«t«tchBm Nxnnm'
Ba« BBam Um wJti nairWi ganau. a» ara Naüm aarrort.
m) OBI Bt tcanM.il EUmm dH Wcgaidim Epxfa «
2a«rtn »«e« inj 5»taV b«D«M Um an Goganuu. ba»a
GegPt iu «uipgan bodt.lal K<airikra IBgana^M DKu-uda
augnnm bbh »Hm VotnAPg inj Pocumimn] dat Taea« B
Kai gennman. gm an Gagmaao idi JOgM U du Um agmi
neue, aotiua Tamri m Hh • m) aun an »al um Pirtdm -
StR bcp alnjngi da Fugt nen dH BUmsn vonUea m) 2-aefc
KmeuMi -Ha Un ml dem «igmera. dafl h. ortoN h Di ibH
duan CBmKH rfrsBankh Bi Mnen ■». tut dmtygicn
[•S'y-w'a ScnOa MrtHiW Ei «n*«o «n n.i
t*gHMB.e ca x* o . OTdem roc<o>ir«il cu tootnrOe
So Krtj-Ban rtimt saBm ragBABm Irpasira- Ei mtMO
Bert n»r m gnkM(dl KcgagetH-an Sfraartmm ioph !h
l»Ji entserttcbH »Ire], xrüem tcrta-rtd daum Snttu
uOBBkdg («u « talsarm bö Farn .sn rerUstfoi
BaudtOrgm -ii »1 Kr dt n» Xlge Fenertng na iivn. mna-
-»« dH jTimpv« (<yH^«fijixfi m ‘amreati Um/aB (in)
m)arm Tuim') uiOMdi iu daiim «tau VeO’lirg bt-gecrajm
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m tfrron - Um n) irgtB KBim imja lei mxra Pnoame. löi
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to*gr«HT-aß«n 'Hl atoi mumieraOenm Gomthi lubm dt
Oec/seMn Vr-fl lue EbHDJU^M at dm reem frt
IMguM gegaaCH dm (Cirgm iMsoem Wonm bt-aim.'
P«*vani*m SiOT» m) mMru EKrati dai Uwtiaui bafirdtd
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OK Gagri6art«»rg rm TvMBim - in) •Boba-af p dH «allen
Pauojt du Mm«*» dH Kenminmcftm P«th »1 iBo da
NBCrteTa BUKtAiq m) dt dH*ul «i*K<m)m IHmertade
raacrimbadm Ffobm vudtufcrtm Da» IWanchod« m) bai
«ph mBmunocnm Ba»«uig!-*M Uw dH Ka UMUUi m ai
da inemalen BaJrgrgm men MC MccHfc» C« d«
Pn»»»inHMInej« d« GnnJaga »dH GawfacnaltUmraBm
inl in) n Win Bslmi A BeracBt du gewMchUaelim Itbam
trnnm. d du K/tcnn l> du jt-algi EitoeMmguifcoiu n dH
ScBM der Piodttcn des gualadiBllöm labam aruviia)«B CMS
«t da HVliga Ulglrrtaa aBar H«altMr. Baaamng NnvMrHH
CiCHOtrgm CM Foga. ob Uautfim r.l-rann EggcHm 0 ttxTet
VüMttw edti n gdöeam Ertlm; n dH NBi> gtkO Nbm. a
im in Uittfeienng dH gAm Um 2et ItlflardkP »ewn
i»|*!vtiiai «d K< rnitrona AnUyianicrrK im:u
DK» AiVPirg dtl Nlkrteftm UBHlUmxn S -a* vhOhh m)
MSiAHt C«rt »*m «ul «Bh bHKrt9r Kr«* m denen Igocm?
gaganX« PabBitf«! in) RaaUaaia ah rafcir. egenolMgi
ga»(aermkt« Artagmorm: •WeunJent Gnntoge i r m uhtfi-
laniuLKMi OHiHu^Ua-ra»* W da WcgacKlraleriJUröiaa
FcPidvpijMmte Nun U14 u)«bipj ® dH Katfafenw irt
»ph ta»n)arm F«mi dH EriwcUnj dH PredABKiUlt injdn
Kroidaing du KUumgogmuuas rtMchm lo'mrtal in)
Kae«B(njdHdimiM<tm)anmFonaBi<ctAn;cdrannaM'UHrt
in) teacoam AiMCflaling • Hat dMn -Bj ntf* w genau
gandH) an« ge»fcenBt»i ncrtmdga tnj dort «^antcfi
Vcaa» W *' Eic-cOigmi« ad den um KempinoPM. ( )
0«i rrdTHne Gtnta an dt FcrtenroBta« dH BiNK*Ang OH
PTOU3AHM' • mtrab lu unBlHdH iHUMBBcnH
UatouBuim - b< rart zu lamm von Ghbtm m da Fcmomcn
1H dat nrannalm AiftUnnjiöligerjrs pi tcBnUm Eiroca
OitmToUcrtir banrtt r a«Wm ail dti AuKAndmnj pd
ZaiDMpf voi Pep<»«>man*l.iti p m»ftat**C«Bm
GeietuKif.m B dm Dai Krrtrmm ird a.« dH NtuergapeKcuig
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N n r ae nm UBtrotaius Zn enm ■*) r mutmenaRcn «n
ridH>g«i Waäa «p luV» ftntutl irgonmenm. in ardtfm
wn) dH *««*Jiia FccBetrtsbagH dai UmMrnus nbfKx. Um
fWiMcn*Hird sAgeUfl! \W daiem MOwtkel aa nufl dtnm
TamvotogK ah HjmiatiWetfi «»ehtBav B dH Kotohuhu a ei
NfaMgHd dm Nnwenm Unnatvi! nojn nmdan OH
UMOa Hntobuig «Bai WartMtgoi « iedxfi MB B«mb K> da
IBUugfcfM« daneOm 9 Uo> in) Ergeh amnttfan dm
SancWrnoi UnadtbiTU -M ak ap «IrmAlai rVgiu.
KPdam m WOMPKtot. m< darm Ult da RaUUI zu acUiim Bt
8 nt« ZOk UHa IHU aa« dam Vultm. \'cn PnutEm SeltMcn.
EitewftH. dmalm SB« m) dam VaWi 6>»m irw da Fifla
fwtrttgm oO Decmtai 1KJ.S2021.
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NurtgUuKftm. dV3 era irranata Kit* nOfcfi ul nah rodi
mjuunt Aspeaie n oh iranaatta IKcono ma So lubm
FarrMWrm caert ml dmi U n rnh ml da s^srnianan«
VHnacrttiBgng dei ah RegiWiüxonmSo coMOinaem
KiuUman bn. MnUim Boi «hoi ;u gti ajn rar. da
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rrulHUtafiP Aiflmrg Bl du B KZler Bnm? MUnrwdt
“raff r dH Ga«itfla dt FVoeUden ird RacrodAdem du
im U etam Irbceu (UEW 21. 27% Bada BoiMra Bthm B
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btoen B caaltH (aJxfi «Ba pehnrnta Ertöt Im lnl« dH
ErfKMmj das Uammun tm) «Ba rjulrnoda öoumanrg im
m*H0*H Baw inj fertmaetor PitdKUn nu. Do FUrthUa
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Lucio Collelli
Von Hegel zu Marcuse
1. Hegel und die Verwirklichung der
Philosophie
Hegels Philosophie basiert auf drei Be-
hauptungen. Erstens, die Philosophie ist
immer Idealismus: "Der Satz, daß das
Endliche ideell ist, macht den Idealismus
aus. Der Idealismus der Philosophie be-
steht in nichts Anderem als darin, das
Endliche rieht als ein wahrhaft Seiendes
anzuerkennen. [...] Die Philosophie ist es
so sehr als die Religion; denr die Religi-
on anerkennt die Endlichkeit ebensowe-
nig als ein wahrhaftes Sein, als ein Letz-
tes, Absolutes oder als ein Nicht-Gesetz-
tes. Unerschaffenes, Ewiges.'* Zweitens,
das Problem der Philosophie besteht
darin, das Prinzip des Idealismus zu ver-
wirklichen: "Jede Philosophie ist wesent-
lich Idealismus oder hat denselben we-
nigstens zu ihrem Prinzip, und die Frage
ist dann nur, inwiefern dasselbe wirklich
durchgcführt ist." 2 Drittens, die Verwirk-
lichung des Idealismusprinzips bezieht
die Aufhebung des Endlichen und die
Auflösung der Weh mit ein, denn: “Diese
Durchführung hängt zunächs davon ab,
ob neben dem Fürsichscin nicht noch das
endliche Dasein selbständig bestehen
bleibt." 3
Die erste Behauptung bedarf keiner Er-
klärung. Das Prinzip des Idealismus ist
die Idee, das Unendliche oder der christ-
liche Logos. Die zweite wird am Schluß
dieses Paragraphen erklärt. Schwieriger
zu verstehen ist die dritte, auf die man in
den Hegeistudicn auch äußerst selten
hingewiesen hat: (a) warum nämlich der
Idealismus, um sich zu verwirklichen,
das Endliche aufheben und die Welt auf-
löscn muß; (b) wie diese Auflösung statt-
findet.
Punkt (a) ist leicht zu beantworten. Das
Prinzip des Idealismus schließt die Auf-
hebung ilec Endlichen ein, weil, solange
das Endliche besteht, das Unendliche
nicht zu erfassen ist. "Das Unendliche so
gestellt”, sigt Hegel, "ist Eines der bei-
den; aber als nur eines der beiden ist es
selbst endlich, es ist nicht das Ganze,
sondern nur die Eine Seite; es hat an dem
Gegenüberstehenden seine Grenze; cs ist
so das endliche Unendliche. Es sind nur
zwei Endliche vorhanden." 4 In der Enzy-
kiopädie heißt es: "Der Dualismus, wel-
cher den Gegensatz von Endlichem und
Unendlichem unüberwindlich macht,
macht die einfache Betrachtung nicht,
daß auf solche Weise sogleich das Un-
endliche nur das Eine der Beiden ist. daß
es hiermit zu einem nur besonderen ge-
macht wird, wozu das Endliche das ande-
re Besondere ist. Ein solches Unendli-
ches. welches nur ein Besonderes neben
dem Endlichen ist. an diesem eben damit
seine Schranke. Grenze hat. ist nicht das.
was es sein soll, nicht das Unendliche,
sondern ist nur endlich. In einem solchen
Verhältnisse, wo das Endliche hüben, das
Unendliche drüben, das erste diesseits,
das andere jenseits gestellt ist, wird dem
Endlichen die gleiche Würde des Beste-
hens und der Selbständigkeit mit dem
Unendlichen zugeschrieben: das Sein des
Endlichen wird zu einem absoluten Sein
gemacht, cs steht in solchem Dualismus
fest für sich. Vom Unendlichen sozusa-
gen berührt, würde es vernichtigt; aber es
soll ein Abgnind, eine unübcrstcigbarc
Kluft zwischen beiden sich befinden, das
Unendliche schlechthin drüben und das
Endliche hüben verharren." 3
Damit der Leser diesen Text vollkommen
verstehe, eine kurze Erklärung. Das Un-
endliche als "Eines der Beiden", d.h. das
falsche Unendliche, ist das Unendliche
des Verstandes. Das Unendliche als Gan-
zes ist das Unendliche der "Vernunft".
"Die Hauptsache ist", behauptet Hegel,
"den wahrhaften Begriff der Unendlich-
keit von der schlechten Unendlichkeit,
das Unendliche der Vernunft von dem
Uncr.dlichcn des Verstandes zu unter-
scheiden." 6
Der 'Verstand" ist das Prinzip des Nicht-
Widerspruchs, das Prinzip der Ausschlie-
ßung oder der Trennung der Entgegenge-
setzten. Die Vernunft ist das Prinzip des
dialektischen Widerspruchs oder des Zu-
sumiucnfallciis der Eiitgcgcngc.sct/.tcn.
Ersterer ist das logische Allgemeine, des-
sen besonderer oder realer Gegenstand
außerhalb seiner selbst steht. Letztere ist
die Einheit von Endlichem und Unendli-
chem im Unendlichen, die Einheit von
Sein und Denken im Denken, d.h.
"Selbstheit" und "Andersheit", Tauto-Hc-
terologie oder Dialektik.
Die Stelle der Enzyklopädie, die wir oben
zitiert haben, zeigt auf, welche Mängel
Hegel dem “Verstand" zuschreibt: I . Er
läßt das Endliche bestehen, hebt cs nicht
auf, sondern macht es zu einem "festen
Sein'. 2. Er macht des Unendliche end-
lich. 3. Er setzt das Endliche "diesseits",
das Unendliche "jenseits", d.h. das End-
liche wird dadurch zur wirklichen oder
irdischen Existenz und das Unendliche
zu etwas Abstrakcem odir Idealem.
Der Kernpunkt ist, daß der “Verstand”
das Prinzip des Nicht-Widcrspruchs, der
gesunde Menschenverstand, der Standort
des Materialismus (Empirismus) und der
Wissinschaft ist. Alles, was die Philoso-
phie oder der Idealismus behauptet, d.h.
daß das Endliche “nicht ist" und d3s Un-
endliche "ist", wird vom Verstand umge-
kehrt dargestellt. Der Materialismus und
die Wissenschaft sind also die Unphilo-
sophic, d.h. die Antithese oder Vernei-
nung der Philosophie.
144
Und nun /.um Problem der traditionellen,
d.h. der vorkrilischcn Metaphysik
(Descartes, Leibniz. Spinoza), die eben-
falls diese Methode des Nicht-Wi.ler-
spruchs anwendet. Hegel behauptet, daß
das Prinzip dieser Philosophie das Un-
endliche. das Absolute sei; daß diese Phi-
losophie folglich wahre Philosophie oder
Idealismus sei. Ihr Fehler liege aber in
der Methode. Der Inhalt jener Metaphy-
sik sei zwar richtig, die Form jedoch
falsch.** 3 Die Substanz sei
■philosophisch”, die Methode trocken
"wissenschaftlich“. Daraus folge, daß die
Anwendung des Prinzips des Nicht-Wi-
derspruchs die herkömmliche Metaphy-
sik hindere, den Idealismus zu verwirkli-
chen.
Das Argument, aul das sich Hegel oft
bezieht, ist das Vorgehen der metaphysi-
schen Gottesbeweise. Hin gutes Beispiel
liefern die kosmologischen Gottcsbc-
weisc. Ausgangspunkt für ihre Verfech-
ter. sagt Hegel, "ist allerdings die Welt-
anschauung. auf irgendeine Weise als ein
Aggregat von Zufälligkeiten (...| be-
stimmt”^. d.h. eine Anhäufung wertloser
Sachen. Indem sie aber prinzipiell davon
ausgingen, daß die Welt nur Vergäng-
lichkeit und Unwert darstcllc. und daß
Gott. Gott allein die wahrhafte Wirklich-
keit sei. verfälsche die von ihnen ange-
wandte Methode tatsächlich den Sinn ih-
rer Beweise. Sie schlössen von der Exi-
stenz der Welt auf die Gottes und be-
haupteten, daß die Existenz des Weltalls
die seines Schöpfers beweisen könne. Sie
nähmen aber freilich nicht wahr, daß ihr
Syllogismus die Welt, die das Nichts sei.
zum Grund des Gottesbeweises und Gott,
der das Ganze sei. zu einer Folge oder
etwas Mittelbarem mache. Die Schöp-
fung, die die Nachfolge ist, stehe an er-
ster Stelle, der Schöpfer an zweiter,
lacobi habe jenen Beweisen "den gerech-
ten Vorwurf gemacht, daß damit
Bedingungen (die Welt) für das Unbe-
dingte aufgesucht werden, und das Un-
endliche (Gott) auf solche Weise als be-
gründet und abhängig vorgcstclit
werde." 8
Mit anderen Worten: "die metaphysi-
schen Beweise vom Dasein Gottes sind
darum mangelhafte Auslegungen und
Beschreibungen der Erhebung des Gei-
stes von der Welt zu Gott, weil sie das
Moment der Negation, welches in dieser
Erhebung enthalten ist, nicht ausdrückcn
oder vielmehr nicht herausheben, denn
darin, daß die Welt zufällig ist. liegt es
selbst, daß sie nur ein Fallendes, hr-
scheinctulcs, an und für sich Nichtiges
ist. Der Sinn der Erhebung des Geistes
ist. daß der Welt /.war Sein zukomme,
das aber nur Schein ist. nicht das wahr-
hafte Sein, nicht absolute Wahrheit, daß
diese vielmehr jenseits jener Erscheinung
nur in Gott ist. Gott nur das wahrhafte
Sein ist. Indem diese Erhebung Übergang
und Vermittlung ist, so ist sic ebensosehr
Aufheben cte«i Ültergangee mul der Ver-
mittlung, denn das. wodurch Gott vermit-
telt scheinen könnte, die Welt, wird viel-
mehr für das Nichtige erklärt: nur die
Nichtigkeit des Seins der Welt", so
schließt Hegel, "ist das Band der Erhe-
bung. so daß das. was als das Vermit-
telnde ist. verschwindet, und damit in
dieser Vermittlung selbst die Vermittlung
aufgehoben wird.” 9
Wie man den Ausführungen entnehmen
kann, ist der "Verstand”, das Prinzip des
Nicht-Widerspruchs derart eng mit dem
Materialismus verbunden, daß er, selbst
auf metaphysische oder idealistische
Voraussetzungen angewandt, den Sinn
der Philosophie verkehrt und sie zwingt,
das Gegenteil von dem zu behaupten,
was sic meint. Das Endliche, das das
Nichts ist. witd vom Verstand verfestigt:
wird zu einem "festen Sein" oder einem
Gegebenen. Das Unendliche, das die
wahrhafte Wirklichkeit ist, wird zu etwas
Begründetem und Abhängigem. Das
Endliche, das Negative, schlägt ins Posi-
tive. d.h. in die wahre Existenz um; das
Unendliche hingegen, die wahrhafte
Wirklichkeit, wird zu etwas Unwirkli-
chem oder Negativem, d.h zu etwas Ab-
straktem oder Gedanklichem.
Verstand und Vernunft kennzeichnen
dann zwei verschieden Logiken. "Im ge-
wöhnlichen Schließen", sagt Hegel,
"erscheint das Sein des Endlichen als
Grund des Absoluten; darum weil Endli-
ches ist. ist das Absolute. Die Wahrheit
aber ist. daß dämm, weil das Endliche
(...) nicht ist. das Absolute ist. In jenem
Sinne lautet der Salz des Schlusses so:
Das Sein des Endlichen ist das Sein des
Absoluten; in diesem Sinne aber so: Das
Nichtsein des Endlichen ist das Sein des
Absoluten.”^ Ziehen wir ein erstes
Resumö. Sämtliche wahren’ Philosophi-
en sind Idealismus oder gehen wenig-
stens von seinem Prinzip aus. Der Mate-
rialismus und die Wissenschaft sind t'n-
philosophic. Schließlich kommt es aber
darauf an. wieweit eine Philosophie die-
ses Prinzip durchführt, nämlich den Idea-
lismus verwirklicht.
Bedingung dieser Verwirklichung ist die
Aulhebung des Endlichen, die Auflösung
der Welt. (Wir werden später darlegcn.
wie Hegel dies gelingt). Mit der Autlie-
bung des Endlichen geht das Unendliche
(d.h. der Geist oder Gott), das die
"intcllckiualistische" Metaphysik ins
"Jenseits" versetzt, vom Jenseits ms
Diesseits über, es wird also existent und
wirklich. Das ist die Verwirklichung der
Philosophie. Sie bedeutet das Immanent-
werden der Transzendenz, die
"Verweltlichung des Christentums" 11 .
die Menschwerdung oder Verwirkli-
chung des göttlichen I.ngos. Mit anderen
Worten, der Unterschied zwischen alter
»ml neuer Metaphysik isl der zwischen
gemeiner und spekulativer Theologie,
zwischen Theismus und Philosophie,
zwischen vorkritischer Metaphysik und
absolutem Idealismus.
Feuerbach hat den Kern tlcs Problems er-
faßt. Die spekulative Theologie, sagt er
am Anfang seiner Vorläufigen Thesen
zur Reform der Philosophie, unterscheide
sich dadurch von der gemeinen, "daß sie
das von dieser (...) in das Jenseits ent-
fernte göttliche Wesen ins Diesseits ver-
setzt. d.h. vergegenwärtigt, bestimmt,
realisiert." 12 Und er fährt in Grundsät-
zen der Philosophie fort: "...daß sic (die
spekulative Theologie) den Gott, welcher
im Theismus nur ein Wesen der Phanta-
sie. ein ferngehaltenes, unbestimmtes,
nebulöses Wesen ist. zu einen) gegen-
wärtigen. bestimmten Wesen gemacht
(...) hat."
2. Die linkshegelianischc Schule
Die "Verwirklichung" der Philosophie
(von Hegel) ist das zentrale Problem der
Linkshegelianer (Feuerbach und Marx
ausgenommen). Entscheidend ist hier
aber, daß das Problem ein politisches
wird. Es ist das Problem der liberal-radi-
kalen Revolution in Deutschland. In He-
gels Philosophie, so erklärten die Links-
hegelianer, bestehe ein Widerspruch zwi-
schen 'Prinzipien' und 'Folgerungen*. Die
Prinzipien seien revolutionär, die Folge-
mngen aber konservativ. Dies liege
daran, daß der Höhepunkt Megelschen
Denkens mit der Rcstaurationszcii zu-
sammenficl. "So fiel er selbst seinem ei-
genen Ausspruch anheim, daß jede Phi-
losophie nur der Gedankeninhalt ihrer
Zeit ist. Andererseits wurden zwar seine
persönlichen Meinungen durch das Sy-
stem geläutert, aber nicht ohne auf die
Konsequenzen desselben zu intimeren.
So wäre die Religions- und Rechtsphilo-
sophie unbedingt gaaz. anders ausgefal-
len. wenn er mehr von den positiven
Elementen, die nach der Bildung seiner
Zeit in ihm lagen, abstrahiert und dafür
aus dem reinen Gedanken entwickelt
hätte. Hierauf lassen sich alle Inkonse-
quenzen. alle Widersprüche in Hegel re-
duzieren. Alles, was m der Keligionsphi-
losophie zu orthodox, im Staatsrecht zu
pseudohistorisch erscheint, ist unter die-
sem Gesichtspunkt /u fassen. Die Prinzi-
pien sind immer unabhängig und freisin-
nig. die Folgerungen das leugnet kein
Mensch - hier und da verhalten, in illibe-
ral." 14
Diese Stelle stammt aus der Jugend-
schrift Stitelling und die Offenbarung.
die Engels 1842 unter dem Decknamen
Oswald als Wortführer des Berliner Dok-
145
torchibs veröffentlichte. Hier sind alle
wesentlichen Züge der Hegelinterpretati-
on nachweisbar, wie sic damals bei den
L i nk sh o ge I i am* ni gängig waren: (a) die
Entdeckung eines angeblichen Wider-
spruchs bei Hegel /.wischen revolutionä-
ren Prinzipien und konservativen Folge-
rungen: <b) die These, daß alle
'Inkonsequenzen, alle 'Widersprüche' der
hegelschen Religions- und Staatsphiloso-
phic nicht in seinem Denken begründet,
sondern vielmehr der Preis seien, den er
seiner Zeit, der Restaurationsperiode, ge-
zahlt habe. d.h. das Ergebnis eines per-
sönlichen Kompromisses, mit dem Hegel
die Kluft zwischen der Kühnheit seiner
Prinzipien und der Rückständigkeit der
deutschen Lage zu Uberbrücken glaubte.
Wir können dieses Problem hier nicht
eingehender behandeln. Wesentlich an
der Interpretation der Linkshcgcliarer ist.
daß die berühmte hcgclschc Identität von
Wirklichem und Vernünftigem nicht als
Konsekration oder Bejahung einer schon
vorhandenen Situation angesehen wird,
sondern vielmehr als zu verwirklichendes
Programm. Die hegelsche Identität be-
deutet in dieser Interpretation, daß das
Vernünftige wirklich werden muß. Alles,
was ist und der Vernunft nicht entspricht,
scheint zu sein, aber im Grunde ist es
nicht: man muß es auf den Kopf stellen,
um Platz für eine neue Wirklichkeit zu
schaffen. Formal ist das Problem dassel-
be. wie bei Hegel: es geht darum, die
Philosophie zu verwirklichen, die Idee in
die Tat umzusetzen. In Wirklichkeit aber
wird alles in Begriffe der politischen Re-
volution üherflifin. Das Programm der
Verwirklichung des christlichen Logos,
der Menschwerdung Gottes, ist zum Pro-
gramm der liberal-radikalen Revolution
geworden.
Ganz kurz ein Wort zum Schicksal dieser
Auslegung. Vom jungen, noch linkslibe-
ralen Engels übernommen, wurde diese
Interpretation - mit der berühmten These
über den Widerspruch zwischen revolu-
tionärer, dialektischer Methode und idea-
listischem, konservativen System hei He-
gel - 1888 im Ludwig Feuerbach weiter-
geführt. Von Engels übernahmen sie
Plcchanov und Lenin: sic wurde dann
zuin festen Bestandteil des russischen
"dialektischen Materialismus".
Die Auslegung des Doktorclubs b/w. der
Jugendschrift Engels war zuvor aber
schon auf anderen Wegen nach Rußland
gelangt. Sie spielte eine entscheidende
Rolle im Denken der 'demokratischen
Revolutionäre" (Belinskij, Merzen und
Ccmiscvskij). deren Einfluß auf
Plcchanov und Ireni» bekannt ist. Die
oben erwähnte Stelle des jungen Engels
wurde Belinskij durch eine fast wörtliche
Abschrift seines Freundes, des Krtikci«.
Botkin. bekannt und gefiel ihm unge-
mein. 15 Herzen selbst hat die Schrift
Uber Sehe Hing und die Offenbarung im
selben Jahr 1842 kommentiert. Hegel,
schreihi Herzen, habe «las 'Heldentum
der Konsequenz“, die Fähigkeit gefehlt,
die Folgen seines Denkens, die offen-
sichtlichen Ergebnisse seiner Prinzipien
anzunehmen. Er habe darauf verzichtet,
weil er "das Bestehende lieble und ach-
tete"; "er .sah. daß er den Schlag nicht
aushnlien würde und wollte dämm nicht
selbst schlagen." Vorerst konnte cs ihm
genügen, überhaupt so weit gekommen
zu sein. Aber seine Prinzipien "waren
ihm (Hegel) treuer als er sich selbst, treu-
er ihm. dem von seiner zufälligen Person.
Epoche u. 2 . losgelösten Denker." 16
Wir werden später auf die von der links-
hegelianischen Schule abweichenden
Hegelauslcgung Feuerbachs und des jun-
gen Marx cingchcn.*^ Hier nur soviel,
daß Marx sowohl in seiner Doktorarbeit
als auch in seinen Ökonomisch-philoso-
phischen Manuskripten von 1844 den
Versuch energisch abgelehnt hat. die he-
gclsche Philosophie und ihren angebli-
chen Widerspruch zwischen 'Prinzipien'
und 'Folgerungen' als Ergebnis des Kom-
promisses zu erklären, den Hegel mit
dem preußischen Staat abgeschlossen
haben soll. "Auch in betreff Hegels ist es
bloße Ignoranz seiner Schüler", schreibt
Marx in einer Anmerkung zur Doktorar-
beit. "wenn sie diese oder jene Bestim-
mung seines Systems aus Akkomodation
und dergleichen, mit einem Worte mora-
lisch erklären. [...] Daß ein Philosoph
diese oder jene scheinbare Inkonsequenz
aus dieser oder jener scheinbaren Akko-
modation begeht, ist denkbar. Er selbst
mag dieses in seinem Bewußtsein haben.
Allein was er nicht in seinem Bewußtsein
hat. ist. daß die Möglichkeit dieser
scheinbaren Akkomodation in einer Un-
zulänglichkeit oder unzulänglichen Fas-
sung seines Prinzips selber ihre innerste
Wurzel hat. Hätte also wirklich ein Phi-
losoph sich akkomodiert, so haben seine
Schüler aus seinem inneren wesentlichen
Bewußtsein das zu erklären, was für ihn
selbst die Form eines cxoterischcn Be-
wußtseins hatte. Auf diese Weise ist. was
als Fortschritt des Gewissens erscheint,
zugleich ein Fortschritt des Wissens. Es
wird nicht das partikulare des Philoso-
phen verdächtigt, sondern seine wesent-
liche Bewtißtseinsform konstruiert, in ei-
ne bestimmte Gestalt und Bedeutung er-
hoben und damit zugleich darüber hin-
ausgegangen. 8
Der Auslegung von Feuerbach und Marx
wurde dagegen in der Hegelforschung
fast keine Bedeutung zugemessen. Selbst
Lukäcs' Monographie Der junge Hegel.
in der Fcutrbachs Schriften um 1839-43
und Marx' Manuskripte (nicht aber Kritik
des Hegelschen Staatsrechts) mehrmals
zitiert werden, nimmt ihre Auslegungen
nur auf. um sie in einem anderen Argu-
mcnlationszusammcnhang einzubringen.
Fr nimmt sie gewissermaßen nur auf. um
ihre Wirksamkeit abzuschwachcn und sic
leichter "verdauen" zu können. Außer in
der Frage der "Dialektik der Materie",
über die noch zu sprechen sein wird,
folgt Lukäcs’ Monographie der von den
Linkshcgcliancm' cingcschlagenen Rich-
tung - für I.ukäcs um so unvermeidlicher,
als diese Auslegung oder zumindest ihr
Kernpunkt (der Widetspruch zwischen
"Methode" und "System”), wie bereits er-
wähn. über Engels' Ludwig Feuerbach
ebenfalls zur Interpretationsrichtung des
"dialektischen Materialismus” geworden
war.
Sämtliche oben erwähnten Motive, ein-
schließlich des Atheismus Hegels und
der "diplomatischen" Doppeldeutigkeit
seines Denkens 19 (religiös in der
"exoterischen". atheistisch und revolu-
tionär in der "esoterischen'' Form) - ein
gängiges Motiv des Doktorcluhs. insbe-
sondere von Heine vertreten -. sind von
Lukäcs in seiner Monographie geschickt
wiederaufgenommen und verwertet wor-
den und so. mehr oder weniger, zur cotc-
rie der französischen Neu-Ilegelianer ge-
langt Bei Lukäcs wird schließlich die
Zurückgebliebenheit Deutschlands, auf
die B Bauer und Runge hingewiesen
hatten, zum Schlüssel für das Verständ-
nis des Hegelschen Welkes.
Vernunft und Revolution von Marcuse
folgt gänzlich dieser Perspektive. Hegel
ist der philosophische Gegenpol Robc-
spierrcs 20 ("Rohespiefres Vergötzung
der Vernunft zum Höchsten Wesen ist
das Gegenstück zur Glorifizierung der
Vernunft in Hegels System"). Hegels
Philosophie ist die Philosophie der Revo-
lution. denn die Identität zwischen Wirk-
lichem und Vernünftigem ist so zu ver-
stehen. daß die Vernunft sich verwirkli-
chen muß und daß "die 'unvernünftige'
Wirklichkeit so verändert werden (muß),
daß sie mit der Vernunft zur Überein-
stimmung gelangt." 21 Nach Hegel habe
die französische Revolution rtason's ulti-
matc power over reality zum Ausdruck
gebracht. "Die in dieser Feststellung ent-
haltenen Folgerungen", schreibt Marcuse.
"führen mitten ins Zentrum seiner Philo-
sophie. (...) Was die Menschen für wahr,
gerecht und gut halten, sollte in der tat-
sächlichen Organisation ihres sozialen
und individuellen Lebens verwirklicht
werden.” 22
Eine ähnliche Bedeutung hat bei
Marcuse das Argument des
Kompromisses'. Die von Hegel verkün-
dete 'Versöhnung' von Vernunft und
Wirklichkeit geht nicht aus dem Prinzip
seiner Philosophie selbst hervor, sondern
ist das Ergebnis einer subjektiven Akko-
146
modation. "Jedoch wird der radikale Sinn
der grundlegenden idealistischen Begrif-
fe allmählich aufgegeben, und sic werden
in ständig wachsendem MalJe dazu ge-
bracht. sich der herrschenden gesell-
schaftlichen Form anzupassen. [...] Die
besondere Form, die die Versöhnung von
Philosophie und Wirklichkeit in Hegels
System annahm, war jedoch bedingt
durch die reale Lage Deutschlands wäh-
rend der Periode, in der er sein System
ausarbeitete." 25
Marcusc nimmt nicht nur die Idee des
"Kompromisses" wieder auf. er weist ihr
noch größere Bedeutung zu. ohne daß sie
ihren psychologisch Charakter damit
verlöre. Der Konflikt, der Widerspruch
zwischen der "Bereitschaft, sicli mit der
gesellschaftlichen Wirklichkeit
(Deutschlands) auszusöhnen" und dem
"kritischen Rationalismus" oder dem
Drang nach Revolution, der Hegels Phi-
losophie zugrunde liegt, ist nicht mehr
nur Kennzeichen seines Denkens, son-
dern Kennzeichen des gesamten dcut
sehen Idealismus. Diese "Bereitschaft“
zur Versöhnung habe der Protestantismus
der deutschen Kultur eingeflößt. 24 So-
weit die allgemeinen Grundlinien der
Hegelauslegung von Marcusc. Hätte es
dabei sein Bewenden, so brauchten wir
uns hier nicht damit zu beschäftigen. Neu
und wichtig aber bei Marcusc ist - der
linkshcgclianischen Schule und selbst
dem "dialektischen Materialismus" gege-
nüber - die Wiederentdeckung eines
Hauptmotivs bei Hegel: die Zerstörung
des Endlichen und die Aufhebung der
Welt. Die "soziale Rolle" der Philosophie
Marcuses hat hier Wurzeln.
3. Der dialektische Materialismus und
Hegel
[..J
4. Hegel und die Dialektik der Materie
[-]
5. Vernunft und Revolution bei
Marcusc
Und nun endlich zu Marcusc. Zunächst
seien die Grundelemente seiner Hegelin-
terpretation genannt:
1. Die Auslegung der Hegelschen Ver-
nunft als subjektive raison, als Vernunft
des empirischen Individuums und nicht
als Vernunft des christlichen Logos; da-
her - wie bei der linkshcgclianischen
Schule, vor allem bei Bruno Bauer - die
Interpretation Hegels unter dem Ge-
sichtspunkt des subjektiven Idealismus
(Fichte): Die Vernunft ist das Ich; das
"Ich" und die "Masse" usw. Die Ausle-
gung der Hegelschen Verwirklichung des
christlichen Logos erscheint als politi-
sches Programm, mit dessen Hilfe
"Ideale” realisiert werden sollen bzw. al-
les, was die Vernunft den Menschen vor-
sehrcibt. (Das Grundprinzip des Hcgcl-
schen Systems liegt demnach in der Er-
kenntnis, daß das, "was die Menschen für
wahr, gerecht und gut halten, in der tat-
sächlichen Organisation ihres sozialen
und individuellen Lebens verwirklicht
werden sollte." Vgl. dagegen den Brief
von Marx an Rüge vom September 1843:
"Wir treten dann nicht der Welt doktrinär
mit einem neuen Prinzip entgegen: Hier
ist die Wahrheit, hierkniee nieder!").
2. Die Einfügung des Hegelschen Motivs
der Zerstörung des Endlichen in diesen
liberal-radikalen Begriff von Revolution
(cs wurde übrigens %on der ganzen Aus-
legungstradition, Stimcr und Bakunin
vielleicht ausgenommen, vergessen).
Während dieses Motiv aber an die Trans-
substantiation oder Immanentwerdung
Gottes gebunden ist. nimmt es allmählich
bei Marcuse. da die lheologische Bedeu-
tung entfällt, eine wörtliche bzw. säkula-
re Bedeutung an.
Daher die Antithese, die im Mittelpunkt
von Vernunft und Revolution sowie von
Der eindimensionale Mensch 45 steht:
der Gegensatz von 'positivem* und
‘negativem Denken'. Ersteres entspricht
dem 'Verstand', d.h. dem Prinzip des
Nicht-Widerspruchs als
(materialistischem) Prinzip des gesunden
Menschenverstandes und der Wissen-
schaft. Letzteres entspricht der dialekti-
schen und philosophischen 'Vernunft'.
Das 'positive' Denken ist dasjenige, das
das Dasein der Well, die Autorität und
die Realität des 'Gegebenen' anerkennt.
Das 'negative' Denken dagegen negiert
die 'Gegebenheiten'. Das Endliche außer-
halb des Unendlichen hat keine wahr-
hafte Wirklichkeit. Die Wahrheit des
Endlichen ist seine Idealität ("Der Satz,
daß das Endliche ideal ist, macht den
Idealismus aus", hatte Hegel behauptet).
Die 'Gegebenheiten', insofern sie außer-
halb des Denkens sind und sich der Ver-
nunft widersetzen, snd nicht die Wirk-
lichkeit, sondern die Unwahrheit. Die
Wahrheit ist die Verwirklichung der
Vernunft: sie ist die Idee oder Philoso-
phie. die sich in Realität verwandelt. "Für
Hegel”, schreibt Marcuse. "besitzen die
Tatsachen in sich selbst keine Autorität.
(...) Alles, was gegeben ist. muß vor der
Vernunft gerechtfertigt werden, die allein
in der Totalität der Inhalte von Natur und
Mensch besteht.” 44
Im Gegensatz zu Hegel stehen, Marcusc
zufolge. Hume und Kant: "Sollte Hume
akzeptiert werden, dann müßte der An-
spruch der Vernunft, die Wirklichkeit zu
organisieren, zurückgewiesen werden.
Denn wie wir gesehen haben, beruhte
dieser Anspruch auf der Fähigkeit der
Vernunft. Wahrheiten zu gewinnen, de-
ren Gültigkeit nicht aus Erfahrung abge-
leitet war und die in der Tat gegen die
Erfahrung stehen konnten (...). Dieses
Ergebnis der cmpiristischcn Untersu-
chungen untergrub nicht nur die Meta-
physik. Sie schränkte die Menschen auf
die Grenzen des 'Gegebenen' ein. auf die
bestehende Ordnung der Dinge und der
Ereignisse. (...) Das Resultat war nicht
nur Skeptizismus, sondern Konformis-
mus. Die empiristische Beschränkung der
menschlichen Natur auf die Erkenntnis
des 'Gegebenen' beseitigte nicht nur den
Wunsch, das Gegebene zu transzendie-
ren. sondern auch den, an ihr zu verzwei-
feln." 45
Und weiter: “Die Verwirklichung der
Vernunft ist bei Hegel keine Tatsache,
sondern eine Aufgabe. Die Form, in der
die Objekte unmitte'-bar erscheinen, ist
noch nicht ihre wahre Form. Was einfach
gegeben ist, ist zunächst negativ, ein an-
deres als seine wirklichen Möglichkeiten.
Es wird wahr nur im Prozeß der Über-
windung dieser Negativität, so daß die
Geburt der Wahrheit den Tod des gege-
benen Zustands des Seins erfordert. He-
gels Optimismus beruht auf einer de-
struktiven Auffassung des Gegebenen.
Alle Formen werden von der auflösenden
Bewegung der Vernunft ergriffen, wel-
che sie aufhebt und «rändert, bis sie ih-
rem Begriff adäquat rind." 4 ^ Hegels Phi-
losophie ist in der Tat "eine negative Phi-
losophie". "Sie ist ursprünglich durch die
Überzeugung motiviert, daß die gegebe-
nen Tatsachen, die dem gesunden Men-
schenverstand als der positive Index von
Wahrheit erscheinen, in Wirklichkeit die
Negation der Wahrheit sind, so daß die
Wahrheit nur durch deren Zerstörung
hcrgestellt werden kann.' 47
Ein glänzendes Beispiel von Inkonse-
quenz! Die alte spiritualistische Verach-
tung für das Endliche und die irdische
Welt Wiedererstehen als Philosophie der
Revolution, besser der 'Revolte'. Es wer-
den nicht etwa bestimmte historisch-gc-
scllschaftlichc Institutionen bekämpft
(wie 'Profit', 'Monopol' oder auch
'sozialistische Bürokratie'). Man be-
kämpft Gegenstände und Dinge. Wir sind
von der repressiven Gewalt der
'Gegebenheiten' belastet. Wir ersticken in
der Sklaverei, daß wir das Dasein der
'Dinge' anerkennen müssen. "Sie sind da
- grotesk, eigensinnig, riesig, und (...) ich
bin inmitten von namenlosen Dingen. Al-
lein, ohne Worte, ohne Verteidigung sind
sic rings um mich, sie sind unter mir,
hinter mir. über mir. Sic fordern nichts,
sic drängen sich nicht auf: sie sind da.' 48
Vor diesem Schauspiel der Dinge ergreift
und Entrüstung, die zum Ekel wird. Es ist
leicht zu sagen: die Wurzeln eines Bau-
mes! "Da saß ich nun. ein wenig vorn-
übergebeugt, den Kopf nach unten, allein
dieser schwarzen und knotigen Masse
147
gegenüber, die ungeschlacht war und mir
Angst einjagte.' Da ist Absurdität, die
zum Himmel nach Rache schreit: "...
monströse, weiche Masse, ungeordnet,
nackt, von einer erschreckenden und ob-
szönen Nacktheit." 49 Es ist keineswegs
absurd, daß Roquentin seine kleinbürger-
liche ddbauche durch die öffentlichen
Anlagen spazieren tragt, als Konsul oder
sogai als Laval; absurd sind die Wurzeln
eines Baumes. "Die Absurdität war nicht
eine in meinem Kopfe entsprungene
Idee, auch keine Einflüsterung - sie war
die lange tote Schlange zu meinen Füßen,
diese Schlange aus Holz. Schlange oder
Tatze oder Wurzel oder Gcicrklauc. ganz
gleich. Und ohne es klar zu formulieren,
begriff ich, daß ich den Schlüssel der
Existenz, den Schlüssel meines Ekels,
meines eigenen Lebens gefunden
hatte." 50
Das Manifest dieser Zerstörung der
Dinge - und das verstellt Marcusc unter
"Revolution' - findet er in den Schriften
Hegels. Die Befreiung von der Knecht-
schaft des 'Gegebenen' fällt mit der Nacht
und dem Nichts, von denen in Hegels Ju-
gendschrift Differenz die Rede ist, zu-
sammen. "Hier in seinen ersten philoso-
phischen Schriften”, so hebt Mircuse
hervor, "betont Hegel absichtlich de ne-
gative Funktion der Vernunft, ihre Zer-
störung der verfestigten und sicheren
Welt des gesunden Menschenverstandes.
Vom Absoluten ist die Rede als ven der
‘Nacht’ und dem 'Nichts', um es von den
klar definierten Gegenständen des All-
tagslebens abzuheben. Die Vernunft be-
deutet ein 'absolutes Negieren' der Welt
des gesunden Menschenverstandes." 51
Es handelt sich offensichtlich um alte,
romantische Motive. In der Schrift Diffe-
renz findet man überall Anklänge an
Schclling. Da Marcusc aber aus der
Schule Heideggers kommt, kann man
doch wohl annehmen, daß diese Erhe-
bung der Nacht und des Nichts (eben
dort, wo man gewöhnlich die 'Sonr.e der
Zukunft' erwartet) auch gewisse Anklän-
gc an Was ist Metaphysik? enthält. Hei-
degger ist ein Meister der Wichtung'.
Auch wenn die Wichtung' keine
'Vernichtung' und auch keine
'Verneinung' 5 * 3 ist, überrascht diese phi-
losophische 'Revolution': Sic versetzt
nicht nur die 'authentische' und nicht
mehr entfremdete Existenz in die 'helle
Nacht des Nichts", sondern, als wäre sie
unzufrieden und einer pedantischen Wut
verfallen, besteht sie auf der Feststellung,
daß "das Nichts selbst vernichtet."
6. Die idealistische Wendung gegen die
Wissenschaft
Es ist müßig, hier noch weiter zu insistie-
ren. Die Bedeutung von Marcuscs Auf-
fassung wurzelt in der sogenannten
'Kritik der Wissenschaft'. Das Entgegen-
setzen von 'positivem' und 'negativem'
Denken, von Nicht-Widerspnich und dia-
lektischem Widerspruch, ist vor allem
der Gegensatz von Wissenschaft und
Philosophie. "Für ihn (Hegel)", sagt
Marcuse, "ist die Unterscheidung zwi-
schen Verstand und Vernunft identisch
mit der zwischen gesundem Menschen-
verstand und spekulativem Denken, zwi-
schen undialektischer Reflexion und dia-
lektischer Erkenntnis. Die Operationen
des Verstandes bringen die gewöhnliche
Art von Denken hervor, die sowohl im
Alltagsdenken als auch in der Wissen-
schaft herrscht." 52
Diese romantische Hcgclschc Kritik des
"Verstandes' tauchte um die Jahrhundert-
wende mit der sogenannten
"idealistischen Wendung gegen die Wis-
senschaft" 53 wieder auf. Hinsichtlich ih-
rer kritisch-negativen Bestandteile treffen
sich, wie Crocc richtig bemerkt hat, diese
beiden Einstellungen und decken sich. In
Logica come scienza del concctto puro
schreibt er in bezug auf Bergsons Kritik
der Wissenschaft: “AHe diese kritischen
Revolten gegenüber der Wissenschaft
kommen demjenigen nicht neu vor, der
die Kritiken Jacobis. Schellings, Novalis'
und anderer Romantiker kennt, vor allem
die schöne Kritik, die Hegel am abstrak-
ten (d.h. empirischen und mathemati-
schen) Verstand übte. Alle seine Werke,
von der Phänomenologie des Geistes bis
zur Wisserschaß der Logik, durchzieht
diese Kritik, die dann anhand von Bei-
spielen in den Anmerkungen zu den Pa-
ragraphen der Naturphilosophie weiter
ausgeführt ist.” 54
Es is* nicht möglich, sich hier ausführlich
zur Tragweite dieser "idealistischen
Wendung" gegen die Wissenschaft zu
äußern. "Entsteht die Wissenschaft, ver-
geht das Denken” 55 - lassen wir Heideg-
ger seine Meinung, über ihn macht man
sich ohnehin keine Illusionen mehr. Aber
die gleiche Ware wird heute auf seiten
der Linken verkauft. Horkheimer und
Adorno: “Wissenschaft selbst hat kein
Bewußtsein von sich, sie ist ein Werk-
zeug. Aufklärung aber ist die Philoso-
phie. die Wahrheit mit wissenschaftli-
chem System gleichsetzt Der Versuch,
diese Identität zu begründen, den Kant
noch aus philosophischer Absicht unter-
nahm. führte zu Begriffen, die wissen-
schaftlich keinen Sinn ergeben [...]. Der
Begriff des Sichselbstvcrstchcns der
Wissenschaft widerstreitet dem Begriff
der Wissenschaft selbst [...]. Mit der von
Kant als Resultat vollzogenen Bestäti-
gung des wissenschaftlichen Systems als
Gestalt der Wahrheit, besiegelt der Ge-
danke seine eigene Nichtigkeit, denn
Wissenschaft ist technische Übung, von
Reflexion auf ihr eigenes Ziel so weit
entfernt, wie andere Arbeitsarten unter
dem Druck des Systems.” 56
Es muß hervorgehoben werden, daß die-
se Kritik der Wissenschaft sich auch als
Kritik der Gesellschaft versteht. Der wis-
senschaftliche Verstand ist die Denk-
weise, die sowohl in der Praxis als auch
im Alltagsleben üblich ist. Die Allge-
mcingültigkcit der Wisanschaft, d.h. die
Universalität ihrer Aussagen, fällt völlig
mit der Unpersönlichkeit und Anonymi-
tät des Lebens in der Gesellschaft zusam-
men. Alle diese Ansätze sind im Keim
schon bei Bergson zu finden. Unser In-
tellekt. sagt er in Schöpferische Entwick-
lung, ist eine "wesenilich praktische",
“mehr zu Vorstellung von Dingen und
Zuständen als von Veränderungen und
Akten gemachtc(n) Funktion". "Dinge
aber und Zustände sind bloße Ansichten,
die unser Geist vom Werden aufnimmt.
Es gibt keine Dinge, es gibt nur Hand-
lungen.” wenn ‘ein Ding das Ergebnis
einer vom Verstände vollzogenen Ver-
dichtung (ist), und (cs) nie andere Dinge
geben (kann), als die der Verstand ge-
formt hat" 57 , bedeutet daß. daß die na-
türliche Welt, die die Wissenschaft uns
als Wirklichkeit darstcllt. in der Tat nur
ein Kunstgriff ist. Die Materie ist das
Produkt des Verstandes. Die 'Dinge' sind
das Resultat unserer Neigung zum -
'Verdinglichen', d.h. die Welt zu
'befestigen', um in ihr praktisch zu han-
deln und sic zu verändern. Diese ur-
sprüngliche Zusammengehörigkeit von
Wissenschaft und Materialismus ist ge-
wissermaßen überlagert von der von Ma-
terialismus und Gesellschaft, Wissen-
schaft und zugehörigem Leben. Um auf
die Welt zu wirken, verdinglichen wir.
aber diese Verdinglichung ist zugleich
auch Mittel zur intersubjektiven Verstän-
digung. Die echte oder persönliche und
die soziale oder unpersönliche Existenz
sind auf zwei verschiedene Subjekte zu-
rückzuführen: das eine 'wesentlich', das
andere 'oberflächlich' und 'scheinbar' -
"zwei verschiedene Ichs, eines gleichsam
als nach außen gerichtete Projektion des
anderen, seine räumliche und sozusagen
soziale Repräsentation.' 58 Die Verräum-
lichung oder Material iiation der Wirk-
lichkeit, sagt Bergson, ist schon eine An-
leitung zum sozialen Leben.
"Meistenteils leben wir uns selbst gegen-
über äußerlich und gewahren nur das ent-
färbte Phantom unseres Ichs, einen
Schalten, den die reine Dauer in den ho-
mogenen Raum wirft. Unsere Existenz
spielt sich also mehr im Raum als in der
Zeit ab: wir leben mehr für die äußere
Welt als für uns." "Dies* Anschauung ei-
nes homogenen Mediums (...) erlaubt
uns, unsere Begriffe im Verhältnis zuein-
ander zu exteriorisieren und enthüllt uns
die Objektivität der Dinge, und so bedcu-
148
Ict sic durch ihre doppelte Wirksamkeit,
indem sie einerseits die Sprache begün-
stigt und andererseits uns eine von uns
selbst scharf unterschiedene Welt darbie-
tet, deren Perzeption allen Intelligenzen
gemeinsam ist. eine Ankündigung und
Vorbereitung des sozialen Lebens. ^
Alles wesentliche künftiger irrationaler
Gesellschaftskritik ist hier schon, wie er-
sichtlich, vorweggenommen: die Wissen-
schaft als Verdinglichung und die Gesell-
schaft als entfremdete Existenz.
Über die Ausarbeitung und die Entwick-
lung dieser Thesen durch die verschiede-
nen Strömungen des deutschen Irrationa-
lismus. u.a. der Lebensphilosophie zu
sprechen, ist hier nicht möglich. Es sei
lediglich auf die entscheidende 'Wende 1
hingewiesen, die Lukäcs' berühmtes
Buch von 1923 einleitete. Wie der Ver-
fasser in einer selbstkritischen Erklärung
vom September I962^ a un d dann j n
seiner Einleitung zur jüngsten italieni-
schen Ausgabe zugegeben hat, basiert
Geschichte und Klassenbewußtsein auf
der Verwechslung der Marxschen Ent-
fremdungstheorie ('Fetischismus',
'Verdinglichung') mit der Hcgelschen.
Der kapitalistische Fetischismus ist in
diesem Werk in den Termini der Hcgcl-
schen Kritik analysiert worden. Der
'Fetisch' ist nicht cas Kapital oder die
Ware, sondern der natürliche Gegen-
stand, der außerhalb des Denkens liegt.
Die vom Kapital bewirkte Trennung zwi-
schen dem Arbeiter und den objektiven
Arbeitsbedingungen wird mit der vom
'Verstand' getroffenen Unterscheidung
zwischen Subjekt und Objekt verwech-
selt. Die Folge ist, daß - wie Lukäcs
selbst dann bemerkt hat - ein historisch-
gesellschaftliches Problem in ein ontolo-
gisches verwandelt wird. Die kapitalisti-
sche 'Verdinglichung' wird auf diese
Weise zum Produkt des materialistischen
Verstandes und der Wissenschaft, deren
analytische Anschauung der Wirklichkeit
als "positivistisch und bürgerlich" ausge-
geben wird. Während das Proletariat mit
der philosophischen Vernunft gleichge-
setzt wird, die zusammenbringt bzw. wie
man heute sagt 'totalisiert', was der Ver-
stand und der gesunde Menschenverstand
Tag für Tag zu unterscheiden pflegen.
Aus dieser Verwechslung ergab sich, daß
Geschichte und Klassenbewußtsein unter
der 'revolutionären' Form einer Kritik an
der bürgerlichen Gesellschaft die ver-
schleiernden Inhalte idealistischer Wis-
senschaftskritik präsentierte. Aus der
Schule von Ricken und Lask stammend
und nicht wenig durch Simmels (des
deutschen Bergson) Philosophie des
Geldes beeinflußt, bezog Lukdcs letzten
Endes den Marxismus in den Bereich der
idealistischen Wentking gegen die Wis-
senschaft ein, die um die Jahrhundert-
wende aufkam und deren ferne Voraus-
setzungen, wie wir festgestellt haben,
eben in Hegels Kritik des 'Verstandes'
liegen.
Der 'Fetisch' ist der natürliche Gegen-
stand, den die Wissenschaft erforscht.
Die 'Verdinglichung' (oder, wie Bergson
sagt, "le chosisme ") ist dis Produkt des
wissenschaftlichen Verstandes, der die
fließende und "lebendige" Wirklichkeils-
einheit zerschneide« und zerstückelt (der
berühmte morcelage.') und sic zu
"scheinbaren" Gegenständen neu zu-
sammensetzt, die zum praktisch-techni-
schen Handeln nützen sollen. Kurzum,
die Entfremdung ist die Wissenschaft,
die Technik. Nachdem Lukdcs diese The-
sen aufgenommen hatte, vertrat er sie
seinerseits mit großer Überzeugungs-
kraft. Die alte Aversion des philosophi-
schen Spiritualismus gegenüber der Pro-
duktion. der Technik, der Wissenschaft -
in einem Wort: der Abscheu vor den Ma-
schinen - verbarg sich hinter der Anzie-
hungskraft einer Kritik der modernen
bürgerlichen Gesellschaft.
Hier liegt der Kern der Marcuscschcn
Philosophie. Die Oppression ist die Wis-
senschaft. Die Verdinglichung besteht in
der Anerkennung der Existenz von Din-
gen, die außerhalb von uns liegen. Die
Dialektik von 'hier' und 'jetzt', d.h. die
Dialektik des alten Skeptizismus, mit der
Hegel am Anfang der Phänomenologie
die sinnliche Gewißheit von der Existenz
der äußeren Gegenstände zerstört er-
scheint Marcusc als die Befreiung des
Menschen: "Die ersten drei Abschnitte
der Phänomenologie sind eine Kritik des
Positivismus und mehr noch der
'Verdinglichung*. (...) Wir entlehnen den
Begriff der 'Verdinglichung’ der Mar-
xschen Theorie, wo er die Tatsache be-
zeichnet. daß in der Welt des Kapitalis-
mus alle Beziehungen zwischen Men-
schen als Beziehungen zwischen Dingen
erscheinen. (...) Hegel stieß innerhalb der
Philosophie auf die nämliche Tatsache.
Der gesunde Menschenverstand und das
traditionelle wissenschaftliche Denken
nehmen die Welt als eine Totalität von
Dingen hin, die mehr oder weniger per se
existieren und suchen die Wahrheit in
Gegenständen, die als unabhängig vom
erkennenden Subjekt aufgefaßt werden.
Das ist nicht nur ein; crkcnntnisthcorcti-
sche Haltung, sondern geht durch die
Praxis der Menschen hindurch und führt
sie dazu, sich dem Gefühl zu überlissen,
daß sic nur dann sichergehen, wenn sie
objektive Tatsachen kennen und handha-
ben." 60
Das läuft auf eine undifferenzierte An-
klage gegen Wissenschaft und Technik
oder, um Marcuses Ausdruck zu benut-
zen. gegen die “Industricgcscllschaft"
hinaus. Dis gleiche Motiv bildet die
Grundlage von Husserls 'Krisis' (ganz zu
schweigen von Horfcheimcrs und Ador-
nos Angriffen auf Bacon und Galilei).
Von diesem Motiv hat in den letzten
Jahrzehnten die ganze Publizistik der so-
genannten 'Krisis der Kultur’ ihren Aus-
gang genommen (so u.a. Jaspers' Vom
Ursprung und Ziel der Geschichte ). Das
"Böse” ist weder eine bestimmte gesell-
schaftliche Organisation noch ein gewis-
ses System von gesellschaftlichen Bezie-
hungen, sondern die Industrie, die Tech-
nik, die Wissenschaft. Es ist nicht das
Kapital, sondern die Maschine als solche.
Marcuse - das soll niemand verletzen - ist
der Nachfahre eben derselben Denktradi-
tion, der er heute Angst einflößt.
7. Schlußfolgerung
In Marcuses Buch Der eindimensionale
Mensch gibt es eine kurze Bemerkung, in
der der Autor sich von Marx distanziert.
Damit wollen wir unsere Ausführungen
beschließen: "Die klassische Marxsche
Theorie stellt sich den Übergang vom
Kapitalismus zum Sozialismus als eine
Revolution von das Proletariat zerstört
den politischen Apparat des Kapitalis-
mus, behält aber den technischen Appa-
rat bei und unterwirft ihn der Sozialisie-
rung. In der Revolution gibt es eine Kon-
tinuität: befreit von irrationalen Schran-
ken und Zerstörungen, erhält und vollen-
det sich die technologische Rationalität
in der neuen Gesellschaft." 61
Dieser Analyse stimmt Marcusc nicht zu,
weil er nämlich der Meinung ist. daß die
Wurzeln des Bösen eben im technologi-
schen Apparat als solchem liegen. Er hat
aber sicherlich recht, wenn er in ihr das
Wesentliche der Marxschen Theorie
sieht.
Die kapitalistische Entwicklung ist die
Entwicklung der Großindustrie. Nach
Marx ist diese Entwicklung im Kapita-
lismus von einer Reihe sehr negativer Er-
scheinungen nicht zu trennen: Ausbeu-
tung, Lohnarbeit, Bildung der
"industriellen Reservearmee" usw. In
dieser Situation werden trotzdem, Marx'
Meinung nach, die Voraussetzungen für
die Befreiung des Menschen geschaffen:
riesiger Zuwachs der Arbeitsproduktivi-
tät (wenn auch in der Form der
"Intensivierung" der Ausbeulung der Ar-
beitskraft); Auflösung der lokalen und
nationalen Grenzen und Vereinheitli-
chung der Welt (wenn auch in der Form
des Wcli-"Marktes") Sozialisierung des
Menschen, d.h. Wiederherstellung der
Verbindung mit seiner Gattung (wenn
auch vorerst nur durch die Herausbildung
des Fabrikproletariais). "Die Bourgeoi-
sie". heißt cs im Manifest, "hat durch ihre
Exploitation des Weltmarktes die Pro-
duktion und Konsumtion aller Länder
kosmopolitisch gesultct. Sic hat zum
149
großen Bedauern der Reaktionäre den na-
tionalen Boden der Industrie unter den
Füßen weggezogen. (...J An die Stelle der
alten lokalen und nationalen Selbstge-
nügsamkeit tritt ein allscitigcr Verkehr,
eine abseitige Abhängigkeit der Nationen
voneinander." 63
Den Sinn dieser Theorie hat Marx in der
bekannten Formel zusammengefaßt: Wi-
derspruch zwischen modernen Produk-
tivkräften und kapitalistischen Produkti-
onsverhältnissen; zwischen dem sozialen
Charakter der industriellen Produktion
und der noch privaicn Art der kapitalisti-
schen Aneignung.
Diese Formel ist durch allzu häufigen
Gebrauch entschärft worden. Immerhin
läßt sich auch heute noch auf zwei wich-
tige Bedeutungen verweisen. Erstens, Art
und Charakter der an der Veränderung
und Befreiung der modernen Gesell-
schaft interessierten Kräfte sind bei Marx
nicht aus dem reinen 'Ideal' der philoso-
phischen Vernunft (die dann sowieso
immer die 'Vernunft' oder das 'Ideal' von
Hinz und Kunz sind) abgeleitet, sondern
entstammen einer wissenschaftlichen
Analyse der modernen Gesellschaft
selbst Sie resultieren also nicht aus ei-
nem apriorischen Ausklammcm des er-
forschten Objekts (der sogenannten
'Zerstörung' des Endlichen), sondern aus
der Erkenntnis der Rolle, die die Arbei-
terklasse im modernen Produktionspro-
zeß spielt "Wir (wollen) nicht dogma-
tisch die Welt antizipieren", schrieb
Marx an Rüge, "sondern erst aus der Kr-
itik der alten Welt die neue finden. Bis-
her hatten die Philosophen die Auflösung
aller Rätsel in ihrem Pulte liegen, und die
dumme exoterische Welt hatte nur das
Maul aufzusperren, damit ihr die gebra-
tenen Tauben der absoluten Wissenschaft
in den Mund flogen." 63 Das heißt, daß
die Lösung nicht von irgendeinem außer-
halb stehenden deus ex machina erwartet
sondern in den wirklichen historischen
Kräften, die in dieser Gesellschaft vor-
handen sind, aufgesucht wird. Zweitens,
eben diese Funktion im modernen Pro-
duktionsprozeß macht die Arbeiterklasse
(vom einfachen Hilfsarbeiter bis zum In-
genieur) zu dem historischen Akteur,
über den die neue Gesellschaft die alte
beerben kann: die modernen Produktiv-
kräfte, die innerhalb dieser Gesellschaft
entstanden sind, d.h. die Wissenschaft,
die Technik, die Industrie, die kritische
Denkweise und die experimentelle Le-
bensweise.
Für Marx - und da» hat Marcuse richtig
gesehen - gibt es eine Kontinuität in der
Revolution. Ich würde sagen, daß damit
der Unterschied zwischen der Revolution
als wirklichem, historischem Ereignis
und dem prometheischen Versuch der
"Großen Weigerung" gefaßt ist. Die Re-
volution ist ein konkretes Ereignis: sie
entsteht aus der Geschichte und strebt
wieder nach wirklichen, geschichtlichen
Bedingungen. Sie ist die Befreiung der
von der historischen Entwicklung akku-
mulierten Kräfte. Sie ist, auf höherer
Ebene, die Wiedergewinnung all dessen,
was die Menschheit im Laufe ihrer Ge-
schichte erreicht hat, abgerungen der Na-
tur und den irrationalen Einreden des
Mythos.
Die "Große Weigerung" Marcuscs hin-
gegen ist eben durch ihre Ungeschick-
lichkeit gekennzeichnet. Sic ist eine tota-
le Verneinung des Bestehenden. Da
Marcuse diagnostiziert hat, daß die Tech-
nologie das entscheidende Medium der
Verdinglichung ist. kann er die Befreiung
nur vor oder nach der Geschichte suchen.
In beiden Fällen außerhalb des gesunden
Menschenverstandes.
"... daß Schrecken und Zivilisation un-
trennbar sind" - "Im Zeichen des Henkers
vollzog sich die Entwicklung der Kultur"
- "Man kann nicht den Schrecken ab-
schaffen und Zivilisation übrigbehal-
ten" 6 ^ - solche Aphorismen Horkheimers
und Adornos machen die "Große Weige-
rung“ Marcuses begreiflich. Sogar ein
kaum kultivierter Geschmack könnte die-
se Sätze anders verstehen. Ein Leser, der
sich auskennt, entdeckt bald ihren Hci-
deggerschen Ursprung ("Der Mensch irrt.
Die Irre, durch die der Mensch geht, ist
nichts..." 65 ). Man sollte sic mit Nach-
sicht betrachten. Es sind die letzten
"Blumen des Bösen", jenes alten Spiri-
tualismus. der die Dinge zu zerstören
strebte. Es ist der Schwanengesang zwei-
er alter Herren, die etwas nihilistisch und
altmodisch mit der Geschichte streiten.
Aus Om |j*ravf«r ven U» Rn«
«Wmgn
I.GWF.Hpg*(>«Wssa'3rt*dPlo*.GBc»JiPXrtg»«. 1BJ6.
S 181
2 «M.3 161.
3 «M.S 18»
4 «M.S 16«.
5. GW.F Mp* Eri*«** Mi WUrcdufto
Harrtwg 1959. S. 113
6. G.W.F. Mp* O* Wsrffltf dp lo* ** 0 . S. 1 W.
6a. «M S. 317-318, An <fep l*IMu>pw*n *1*1 Mp*
Bai LMppMM rmWi JKDta Jd UrU «.-Tt: an OP vott*©*»
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7 G.W.F. Mp* ErayU***«. uO.S?S.
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21. «M.S. •»
22 «M. 3. 1»
23. «M.S 23
24 «M.S 24t.
II
«3 H Upcum Dp «nfenpuaa« Manvti WoM Bafel 1967.
Kap VirtVI
*4 H Uartu» Vpixrt irrt Breiten. uO. S 35
4$. «M.S 28-29
«6. «M.S. 3*.
47. «M.S 34.
«8 JP. Soü* D« (XU Umipf «I H WjBwh Rtnu* 1963. S
133 8.
«9. «M.S 1». 136
10 «M.S 137.
51. H Uaoiw VpnaVl ml RneUCn. »*0. S. S3
51a. M H*d«g*. Was Ol UPi*r»*? FiaMlrt 1949. S. 31.
52 H. uaoj». Vimurt u>3 Rmun a»0 . S <9 50
53 Oiasp Aiaiixi -o» incnfgfcp n (cUvai Snrx *nur<
Ei rnr» Oir «n F. Londant • n Sn» im rtgtssMn RKno-
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F*iru1967.
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55 U. Hpdp»p'. ÜtP *n Mimroma. FnrtAjd 19*9, S 39.
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57. H. Btnpai: Sth&PBOia Enwttoj Ltoiuai «an G Kxnoo-
■a Jena 1971. S 252. 253
56. H Bpgion M Ort Fn9n« fopstui von P. Ft*. U«eaW«pi
19*9. S. 191. 194.
59 «M .S 191.19*
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60 H Um Vmrt ux) (MJkrx ». 0, S 106
61. K Uooa« Dp *«xfe»nMnM Manien. **0 . S «2
62 KMan.MfGA.Bd IV. Boln t»4. S. 4M
63 K Ua« Bi*« *a Or OPA»n FiKj6*Oipi UE-
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6« U. Mylfornp. IhW «m OOWk dp AMtonrg. a»0 . S
227.
«5 M Hong*: Von W««n dp WaMat FrrtJjd 1949. S 22. V{«
m PXl\ <U AuRusuvg dp G«a«K« als 'Uitan*.
150
Friedrich Engels
Ein gerechter Tagelohn
für ein gerechtes Tage-
werk
("The Labour Standard" Nr. I vom 7.
Mai 1881, Leitartikel)
Das ist nun während der letzten fünfzig
Jahre der Wahlspruch der englischen Ar-
beiteibewegung gewesen. Er leistete gute
Dienste zur Zeit des Aufstiegs der Tradc-
Unions nach Aufhebung der schändli-
chen Antikoalitionsgesetze von 1824;
noch bessere Dienste leistete er zur Zeit
der ruhmreichen Chartistcnbcwcgung, als
die englischen Arbeiter an der Spitze der
europäischen Arbeiterklasse marschier-
ten. Aber die Zeit bleibt nicht stehen, und
gar viele Dinge, die vor fünfzig und
selbst noch vor dreißig Jahren wün-
schenswert und notwendig waren, sind
nun veraltet und würden völlig fehl am
Platze sein. Gehört das altehrwtlrdige
Losungswort auch zu diesen Dingen?
Ein gerechter Tagclohn für ein gerechtes
Tagewerk? Aber was ist ein gerechter
Tagclohn. und was ist ein gerechtes Ta-
gewerk? Wie werden sie bestimmt durch
die Gesetze, unter denen die medeme
Gesellschaft existiert und sich entwik-
kclt? Um hierauf eine Antwort zu finden,
dürfen wir uns weder auf die Wissen-
schaft von der Moral oder von Recht und
Billigkeit berufen, noch auf irgendwel-
che sentimentalen Gefühle von Humani-
tät. Gerechtigkeit oder gar Barmherzig-
keit. Was moralisch gerecht ist, ja selbst
was dem Gesetz nach gerecht ist, kann
weit davon entfernt sein, sozial gerecht
zu sein. Über soziale Gerechtigkeit oder
Ungerechtigkeit wird durch eine einzige
Wissenschaft entschieden - durch die
Wissenschaft, die sich mit den materiel-
len Tatsachen von Produktion und Aus-
tausch befaßt, die Wissenschaft von der
politischen Ökonomie.
Was wird nun na:h der politischen Öko-
nomie ein gerechier Tagclohn und ein ge-
rechtes Tagewerk genannt? Einfach die
Lohnhöhe und die Dauer und Intensität
einer Tagcsarbeit die durch die Konkur-
renz des Unternehmers und des Arbeiters
auf dem freien Markt bestimmt werden.
Und was sind sie. wenn sie derart be-
stimmt werden?
Ein gerechter Tagelohn ist unter norma-
len Bedingungen, die Summe, die erfor-
derlich ist. dem Arbeiter die Existen/.mit-
tcl zu verschaffen, die er entsprechend
dem Lebensstandard seiner Stellung und
seines Landes benötigt, um sich arbeits-
fähig zu erhalten und sein Geschlecht
fortzupflan/.cn. Die wirkliche Lohnhöhe
mag. je nach den Schwankungen des Ge-
schäftsganges manchmal über, manchmal
unter diesjm Satze liegen; enter norma-
len Bedingungen sollte dieser Satz je-
doch den Durchschnitt aller Lohn-
schwankungcn bilden.
Ein gerechtes Tagewerk ist diejenige
Dauer des Arbeitstages und diejenige In-
tensität der tatsächlichen Arbeit, bei de-
nen ein Arbeiter die volle Arbeitskraft
eines Tages verausgabt, ohre seine Fä-
higkeit zu beeinträchtigen, am nächsten
Tag und an den folgenden Tagen diesel-
be Arbeitsmenge zu leisten.
Der Vorgang kann demnach folgender-
maßen beschrieben werden: Der Arbeiter
gibt dem Kapitalisten die volle Arbeits-
kraft eines Tages, das heißt, so viel er
geben kann, ohne die ununterbrochene
Wiederholung des Vorgangs unmöglich
zu machen. Im Austausch erhält er gera-
de so viel und nicht mehr an Existenzmit-
ten, wie nötig sind, um die Wiederholung
desselben Geschäfts jeden Tag zu ermög-
lichen. Der Arbeiter gibt so viel, und der
Kapitalist so wenig, wie es die Natur der
Übereinkunft zuläßt. Das ist eine sehr
sonderbare Sorte von Gerecht gkeiL
Wir wollen aber etwas tiefer in die Sache
eindringen. Da nach den politischen
Ökonomen Lohn und Arbeitszeit durch
die Konkurrenz bestimmt werden,
scheint es die Gerechtigkeit zu verlangen,
daß beide Seiten zu den gleichen Bedin-
gungen denselben gerechten Ausgangs-
punkt haben. Aber das ist nicht der Fall.
Wenn der Kapitalist mit dem Arbeiter
nicht einig werden kann, kann er es sich
leisten, zu warten, und von seinem Kapi-
tal zu leben. Der Arbeiter kam das nicht.
Er hat nur seinen Lohn zum Leben und
muß daher Arbeit annchmcn, wann, wo
und zu welchen Bedingungen er sie be-
kommen kann. Der Arbeiter hat keinen
gerechten Ausgangspunkt. Durch den
Hunger ist er außerordentlich benachtei-
ligt. Und dennoch ist das nach der politi-
schen Ökonomie der Kapitalistcnklassc
der Gipfel der Gerechtigkeit.
Aber das ist noch das wenigsie. Die An-
wendung von mechanischer Kraft und
Maschinerie in neuen Gewerben und die
Ausbreitung und Vervollkommnung der
Maschinerie in Gewerben, in denen sie
sich bereits durchgesetzt hat, verdrängen
immer mehr “Hände" von ihrem Arbeits-
platz; und das geschieht in weil schnelle-
rem Tempo, als die überflüssig geworde-
nen "Hände" von den Fabriken des Lan-
des aufgesogen und beschäftigt werden
können. Diese überflüssigen "Hände"
stellen dein Kapital eine richtige indu-
strielle Reservearmee zur Verfügung. Bei
schlechtem Geschäftsausgang mögen sic
hungern, betteln, stehlen oder ins Arbe-
itshaus gehen; bei gutem Geschäftsgang
sind zur Hand für die Ausdehnung der
Produktion; und solange nicht auch der
allerletzte Mann, die letzte Frau und das
letzte Kind Arbeit gefunden haben soll-
ten - was nur in Zeiten stürmischer Über-
produktion der Fall ist-, solange wird die
Konkurrenz dieser Reservearmee die
Löhne niedrig halten und durch ihre
bloße Existenz die Macht des Kapitals in
seinem Kampf gegen die Arbeiter ver-
stärken. In dem Wcttlauf mit dem Kapital
sind die Arbeiter nicht nur benachteiligt,
sie haben eine ans Bein geschmiedete
Kanonenkugel mitzuschleppen. Aber das
ist nach der kapitalistischen politischen
Ökonomie Gerechtigkeit.
Nun wollen wir untersuchen, aus wel-
chem Fonds das Kapital diese so überaus
gerechten Löhne zahlt. Aus dem Kapital
natürlich. Aber Kapital produziert keine
Werte. Arbeit ist, abgesehen vom Grund
und Boden, die einzige Quelle des Reich-
tums; Kapital ist nichts weiter als aufge-
häuftes Arbeitsprodukt. Hieraus folgt,
daß der Arbeitslohn aus der Arbeit ge-
zahlt wird und daß der Arbeiter aus sei-
nem eigenen Arbeitsprodukt entlohnt
wird, Entsprechend dem, was man ge-
wöhnlich Gerechtigkeit nennt, müßte der
Lohn des Arbeiters aus dem Produkt sei-
ner Arbeit bestehen. Aber das würde
nach der politischen Ökonomie nicht ge-
recht sein. Im Gegenteil, das Arbeitspro-
dukt des Arbeiters geht an den Kapitali-
sten, und der Arbeiter erhält davon nicht
mehr als die bloßen Existenzmittel. Und
das Ende dieses ungewöhnlich
"gerechten" Wettlaufs der Konkurrenz ist
somit, daß das Arbeitsprodukt derer, die
arbeiten, unvermeidlich in den Händen
derer angchäuft wird, die nicht arbeiten,
und in ihren Händen zu dem mächtigsten
Mittel wird, eben die Menschen zu ver-
sklaven, die cs hervorgebracht haben.
Ein gerechter Tagelohn für ein gerechtes
Tagewerk! Mancherlei wäre auch über
das gerechte Tagewerk zu sagen, dessen
Gerechtigkeit auf genau der gleichen
Höhe steht wie die Löhne. Aber das müs-
sen wir uns für eine andere Gelegenheit
aufsparen. Aus dem Dargclcgtcn geht
ganz klar hervor, daß sich das alte Lo-
sungswort überlebt hat und heutzutage
kaum noch Stich hält. Die Gerechtigkeit
der politischen Ökonomie, wie sie in
Wirklichkeit die Gesetze fixiert, die die
bestellende Gesellschaft beherrschen,
diese Gerechtigkeit ist ganz auf der einen
Seite -auf der des Kapitals. Begrabt
darum den alten Wahlspruch für immer,
und ersetzt ihn durch einen anderen:
Besitzer der Arbeitsmittel - der Roh-
stoffe, Fabriken und Maschinen - soll
das arbeitende Volk selbst sein.
151
Friedrich Engels
Das Lohnsystem
( "The Labour Standard" Nr. 3 vom 21.
Mai 188!, Leitartikel)
In einem früheren Artikel untersuchten
wir den altehrwürdigen Wahlspruch "Ein
gerechter Tagelohn für ein gerechtes Ta-
gewerk!" mit dem Ergebnis, daß der ge-
rechteste Tagclohn unter den gegenwärti-
gen gesellschaftlichen Verhältnissen un-
vermeidlich gleichbedeutend ist mit der
allcrungcrechtesten Teilung des von Ar-
beiter geschaffenen Produkts, da der grö-
ßere Teil dieses Produkts in die Tasche
der Kapitalisten fließt, während der Ar-
beiter gerade mit soviel vorliebnehmen
muß, wie er berötigt. sich arbeitsfähig zu
erhalten und sein Geschlecht fortzu-
pflanzen.
Das ist ein GcKtz der politischen Öko-
nomie oder, mit anderen Worten, cm Ge-
setz der gegenwärtigen ökonomischen
Organisation de: Gesellschaft, das mäch-
tiger ist als alle ungeschriebenen und ge-
schriebenen Gesetze Englands zusamme-
n, das Kanzleigericht eingeschlossen. So-
lange die Gesellschaft in zwei feindliche
Klassen geteilt ist: auf der einen Seite die
Kapitalisten, die die Gesamtheit der Pro-
duktionsmittel - Grund und Boden, Roh-
stoffe, Maschinen - monopolisieren; auf
der anderen Seite die Arbeiter, die arbei-
tende Bevölkerung, die jeglichen Eigen-
tums an den Produktionsmitteln beraubt
sind und nichts anderes besitzen als die
eigene Arbeitskraft - solange diese ge-
sellschaftliche Organisation besteht, wird
das Lohngesetz allmächtig bleiben und'
jeden Tag auf*; neue die Ketten schmie-
den, die den Arbeiter zum Sklaven seines
eigenen vom Kapitalisten monopolisier-
ten Produkts machen.
Kar! Marx
Auszug aus der Kritik des
Gothaer Programms
3. "Die Befreiung der Arbeit erfordert die
Erhebung der Arbeitsmittel zu Gemein-
gut der Gesellschaft und die genossen-
schaftliche Regelung der Gesamtarbeit
mit gerechter Verteilung des Arbeitser-
trags”.
""Erhebung der Arbeitsmittel zu Gemein-
gut"! Soll wohl heißen ihre
"Verwandlung in Gemeingut"". Doch dies
nur nebenbei.
Was ist "Arbeitsertrag'? Das Produkt der
Arbeit oder sein Wert? Und im letzteren
Fall, der Gesamtwert des Produkts oder
nur der Wertteil, den die Arbeit dem
Wert der lufgezehrten Produktionsmittel
neu zugesetzt hat?
'Arbeitserjag" ist eine lose Vorstellung
die Lassalle an die Stelle bestimmter
ökonomischer Begriffe gesetzt haL
Was ist “gerechte" Verteilung?
Behaupten die Bourgeois nicht, daß die
heutige Verteilung "gerecht" ist? Und ist
sie in der Tat nicht die einzige “gerechte"
Verteilung auf Grundlage der heutigen
Produktionsweise? Werden die ökonomi-
schen Verhältnisse durch Rechtsbegriffe
geregelt, cxlcr entspringen nicht umgeke-
hrt die Rechtsverhältnisse aus dem öko-
nomischen? Haben nicht auch die sozia-
listische» Sektierer die verschiedensten
Vorstellungen über "gerectoe" Vertei-
lung?
Um zu wissen, was man sich bei dieser
Gelegenheit unter der Phrase “gerechte
Verteilung" vorzustcllcn hat, müssen wir
den ersten Paragraphen mit diesem Zu-
sammenhalten. Letzterer unterstellt eine
Gesellschaft, worin "die Arbeitsmittel
Gemeingut sind und die Gesamtarbeit
genossenschaftlich geregelt ist", und aus
dem ersten Paragraphen ersehen wir. daß
“der Ertrag der Arbeit unverkürzt, nach
gleichem Rechte, allen Gcsellschafts-
glicdcm gehört".
"Allen Gesellschaftsgliedcm"? Auch den
nicht arbeitenden? Wo bleibt da "der un-
verkürzte Arbeitsertrag’? Nur den arbei-
tenden Gescllschaftsgliedem? Wo bleibt
da "das gleiche Recht" aller Gcscll-
schaftsglicdcr?
Doch “alle Gesellschaftsgliedcr" und
"das gleiche Recht" sind offenbar nur
Redensarten. Der Kern besteh: darin, daß
in dieser kommunistischen Gesellschaft
jeder Arbeiter seinen "unverkürzten"
Lasalleschen "Arbeitsertrag" erhalten
muß.
Nehmen wir zunächst das Wort
“Arbeitsertrag“ im Sinne des Produkts
der Arbeit, so ist der genossenschaftliche
Arbeitsertrag das gesellschaftliche Ge-
samtprodukt.
Davon ist nun abzuzichen:
Erstens: Deckung zum Ersatz der ver-
brauchten Produktionsmittel.
Zweitens: zusätzlicher Teil fllr Ausdeh-
nung der Produktion.
Drittens: Reserve- oder Assekuranzfonds
gegen Mißfalle, Störungen durch Natur-
ereignisse cic.
Diese Abzüge vom "unverkürzten Ar-
beitsertrag" sind eine ökonomische Not-
wendigkeit, und ihre Größe ist zu bestim-
men nach vorhandenen Mitteln und Kräf-
ten. zum Teil durch Wahrscheinlichkeits-
rechnung. aber sic sind in keiner Weise
aus der Gerechtigkeit kalkulierbar.
Bleibt der andere Teil des Gesamtpro-
dukts, bestimmt, als Konsumtionsmittcl
zu dienen.
Bevor cs zur individuellen Teilung
kommt, geht hiervon wieder ab:
Erstens: die allgemeinen, nicht direkt zur
Produktion gehörigen Verwallungsko-
sten.
Dieser Teil wird von vornherein aufs be-
deutendste beschränkt im Vergleich zur
jetzigen Gesellschaft und vermindert sich
im selben Maß. wie die neue Gesell-
schaft sich entwickelt.
Zweitens: was zur gemeinschaftlichen
Befriedigung von Bedürfnissen bestimmt
ist, wie Schulen. Gesundheitsvorrichtun-
gen etc.
Dieser Teil wächst von vornherein be-
deutend im Vergleich zur jetzigen Ge-
sellschaft und nimmt im selben Maß zu,
wie die neue Gesellschaft sich entwik-
kelL
Drittens: Fonds für Arbeitsunfähige etc.,
kurz, für, was heute zur sog. offiziellen
Armenpflege gehört.
Erst jetzt kommen wir zu der
"Verteilung", die das Programm, unter
Lassalleschcn Einfluß, bomierterweise
allein ins Auge faßt, nämlich an den Teil
der Konsumtionsmittel, der unter die in-
dividiellen Produzenten der Genossen-
schaft verteilt wird.
Der 'unverkürzte Arbeitsertrag“ hat sich
unterderhand bereits in den “verkürzten""
verwandelt, obgleich, was dem Produ-
zenten in seiner Eigenschaft als Privatin-
dividuum entgeht, ihm direkt oder indi-
rekt in seiner Eigenschaft als Gcscll-
schaftsglicd zugut kommt.
Wie die Phrase des "unverkürzten Ar-
beitsertrags“ verschwunden ist, ver-
schwindet jetzt die Phrase des
"Arbeitsertrags" überhaupt.
Innerhalb der genossenschaftlichen, auf
Gemeingut an den Produktionsmitteln
gegründeten Gesellschaft tauschen die
Produzenten ihre Produkte nicht aus;
ebensowenig erscheint hier die auf Pro-
dukte verwandte Arbeit als Wert dieser
Produkte, als eine von ihnen besessene
152
sachliche Eigenschaft, da jetzt, im Ge-
gensatz zur kapitalistischen Gesellschaft,
die individuellen Aibcilcn nicht mehr auf
einem Umweg, sondern unmittelbar als
Bestandteile der Gcsamtarbeit existieren.
Das Wort "Arbeitsertrag", auch heutzu-
tage wegen seiner Zweideutigkeit ver-
werflich, verliert so allen Sinn.
Womit wir es hier zu tun haben, ist eine
kommunistische Gesellschaft, nicht wie
sie sich auf ihrer eigenen Grundlage ent-
wickelt hat. sondern umgekehrt, wie sie
eben aus der kapitalistischen Gesellschaft
hervorgeht, also in jeder Beziehung, öko-
nomisch, sittlich, geistig, noch behaftet
ist mit den Muttermalen der alten Gesell-
schaft, aus deren Schoß sic herkommt.
Demgemäß erhält der einzelne Produzent
- nach den Abzügen - exakt zurück, was
er ihr gibt. Was er ihr gegeben hat. ist
sein individuelles Arbeitsquantum. Z.B.
der gesellschaftlich: Arbeitstag besteht
aus der Summe der individuellen Ar-
beitsstunden. Die individuelle Arbeitszeit
des einzelnen Produzenten ist der von
ihm gelieferte Teil des gesellschaftlichen
Arbeitstags, sein Anteil daran. Er erhält
von der Gesellschaft einen Schein, daß er
soundsoviel Arbeit gelieren (nach Abzug
seiner Arbeit für die gemeinschaftlichen
Fonds), und zieht mit diesem Schein aus
dem gesellschaftlichen Vorrat an Kon-
sumtionsmitteln soviel heraus, als gleich
viel Arbeit kostet. Dasselbe Quantum Ar-
beit. das er der Gesellschaft in einer
Form gegeben hat. erhält er in der andern
zurück.
Es herrscht hier offenbar dasselbe Prin-
zip, das den Warenaustausch regelt, so-
weit er Austausch Gleichwertiger ist. In-
halt und Form sind verändert, weil unter
den veränderten Umstanden niemand et-
was geben kann außer seiner Arbeit und
weil andrerseits nichts in das Eigentum
der einzelnen übergehn kann außer ind-
ividuellen Konsumtionsmitteln. Was aber
die Verteilung der letzteren unter die ein-
zelnen Produzenten betrifft, herrscht das-
selbe Prinzip wie beim Austausch von
Warenäquivalenten, es wird gleich viel
Arbeit in einer Form gegen gleich viel
Arbeit in einer andern ausgetauscht.
Das gleiche Recht ist hier daher immer
noch - dem Prinzip nach - das bürgerli-
che Recht, obgleich Prinzip und Praxis
sich nicht mehr in den Haaren liegen,
während der Austausch von Äquivalen-
ten beim Warentausch nur im Durch-
schnitt, nicht für den einzelnen Fall exi-
stiert.
Trotz dieses Fortschritts ist dieses gleiche
Recht stets noch mit einer bürgerlichen
Schranke behaftet. Das Recht der Produ-
zenten ist ihren Aibcitslieferungen pro-
portioneli, die Gleichheit besteht darin,
daß an gleichem Maßstab, der Arbeit, ge-
messen wird. Der eine ist aber physisch
oder geistig dem andern überlegen, lie-
fert also in derselben Zeit mehr Arbeit
oder kann während mehr Zeit arbeiten;
und die Arbeit, um als Maß zu dienen,
muß der Ausdehnung oder der Intensität
nach bestimmt werden, sonst hörte sic
auf, Maßstab zu sein. Dies gleiche Recht
ist ungleiches Recht für ungleiche Arbeit.
Es erkennt keine Klassenunterschiede an,
weil jeder nur Arbeiter ist wie der andre;
aber es erkennt stillschweigend die un-
gleiche individuelle Begabung und daher
Leistungsfähigkeit der Arbeiter als natür-
liche Privilegien an. Es ist daher ein
Recht der Ungleichheit, seinem Inhalt
nach, wie alles Recht. Das Recht kann
seiner Natur nach nur in Anwendung von
gleichem Maßstab bestehn; aber die un-
gleichen Individuen (und sie wären nicht
verschiednc Individuen, wenn sie nicht
ungleiche wären) sind nur an gleichem
Maßstab meßbar, soweit man sie unter
einen gleichen Gesichtspunkt bringt, sic
nur von einer bestimmten Seite faßt, z.B.
im gegebnen Fall sic nur als Arbeiter be-
trachtet und weiter nichts in ihnen sicht,
von allem andern absiehL Femen Ein
Arbeiter ist verheiratet, der andre nicht;
einer hat mehr Kinder als der andre
etc.etc. Bei gleicher Arbeitsleistung und
daher gleichem Anteil an dem gesell-
schaftlichen Konsumtionsfonds erhält al-
so der eine faktisch mehr als der andre
etc. Um alle diese Mißstände zu vermei-
den. müßte das Recht, statt gleich, viel-
mehr ungleich sein.
Aber diese Mißständc sind unvermeidbar
in der ersten Phase der kommunistischen
Gesellschaft, wie sie eben aus der kapita-
listischen Gesellschaft nach langen Ge-
burtswehen hervorgegangen ist. Das
Recht kann nie hoher sein also die öko-
nomische Gestaltung und dadurch be-
dingte Kulturcntwicklung der Gesell-
schaft.
In einer höheren Phase der kommunisti-
schen Gesellschaft, nachdem die knech-
tende Unterordnung der Individuen unter
die Teilung der Arbeit, damit auch der
Gegensatz geistiger und körperlicher Ar-
beit verschwunden ist; nachdem die Ar-
beit nicht nur Mittel zum Leben, sondern
selbst das erste Lebensbedürfnis gewor-
den; nachdem mit der allscitigcn Ent-
wicklung der Individuen auch ihre Pro-
duktivkräfte gewachsen und alle Spring-
quellen des genossenschaftlichen Reich-
tums voller fließen - erst dann kann der
enge bürgerliche Rechtshorizont ganz
überschritten werden und die Gesell-
schaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder
nach seinen Fähigkeiten, jedem nach sei-
nen Bedürfnissen!
Ich bin weitliufiger auf den
"unverkürzten Arbeitsertrag" einerseits,
"das gleiche Recht“, die "gerechte Vertei-
lung" andrerseits eingegangen, um zu
zeigen, wie sehr man frevelt, wenn man
einerseits Vorstellungen, die zu einer ge-
wissen Zeit einen Sinn hatten, jetzt aber
zu veraltetem Phrasenkram geworden,
unsrer Partei wieder als Dogmen auf-
drängen will, andrerseits aber die realisti-
sche Auffassung, die der Partei so müh-
voll beigebracht worden, aber Wurzeln in
ihr geschlagen, wieder durch ideologi-
sche Rechts- und andre, den Demokraten
und französischen Sozialisten so geläu-
fige Flausen verdreht.
Abgesehen von dem bisher Entwickelten
war es überhaupt fehlerhaft, von der sog.
Verteilung Wesens zu machen und den
Hauptakzent auf sie zu legen.
Die jedesmalige Verteilung der Konsum-
tionsmittcl ist nur Folge der Verteilung
der Produktionsbedingungen selbst; letz-
tere Verteilung aber ist ein Charakter der
Produktionsweise selbst. Die kapitalisti-
sche Produktionsweise z.B. beruht dar-
auf, daß die sachlichen Produktionsbe-
dingungen Nichtarbiitem zugeteilt sind
unter der Form von Kapitaleigentum und
Grundeigentum, während die Masse nur
Eigentümer der persönlichen Produkti-
onsbedingung, der Arbeitskraft, sind.
Sind dio Elemente der Produktion derart
verteilt, so ergibt sich von selbst die heu-
tige Verteilung der Konsumtionsmittel.
Sind die sachlichen Produktionsbedin-
gungen genossenschaftliches Eigentum
der Arbeiter selbst, so ergibt sich ebenso
eine von der heutigen verschiedne Ver-
teilung der Konsumiionsmittcl. Der Vul-
gärsozialismus (und von ihm wieder ein
Teil der Demokratie) hat es von den bür-
gerlichen Ökonomen übernommen, die
Distribution als von der Produktionswei-
se unabhängig zu txtrachten und zu be-
handeln, daher den Sozialismus haupt-
sächlich als um die Distribution sich dre-
hend darzustcllcn. Nachdem das wirkli-
che Verhältnis längst klargelegt, warum
wieder rückwärtsgehn?
153
Rolf Nemitz
Ideologie als "notwendig
falsches Bewußtsein" bei
Lukäcs und der Kriti-
schen Theorie*
1. Entstehungsbedingungen von
"Geschichte und Klasscnbewußtscin"
Auch wenn man bezweifeln wollte, 'daß
Lukäcs neben Lenin und
Gr.imsci der hervorragendste Philosoph
war, der in unserem Jahrhundert aufgc-
treien ist" (Sienek 1977, 59) - zu den
einflußreichsten gehört er ganz gewiß.
Sone Studien Uber “Geschichte und
Kliissenbcwußtsein” aus dem Jahre 1923
"sind der locus classicus vieler Themen,
die bei der seit dem Verfall der Zweiten
Internationale andauernden Debatte Uber
das Wesen des Marxismus im Zentrum
stehen" (McDorvough 1977, 33).
Für den "linken Radikalismus" ist
"Geschichte und Klassenbewußtsein" bis
heute der klassische Text. Lukäcs’ Ein-
fluß auf die beiden hierzulande wirksam-
sten marxistischen Strömungen, die
"Frankfurter Schule" und den in den so-
zialistischen Lindem vorherrschenden
Marxismus, dürfte schwerlich zu über-
schätzen sein. Adorno spricht von
"Geschichte und Klasscnbewußtscin" als
dem Wert:, in dem Lukäcs "als dialekti-
scher Materialist die Kategorie der Ver-
dinglichung" - ein Zentralbegriff der Kri-
tischen Theorie • "erstmals auf die philo-
sophische Problematik prinzipiell an-
wandte" (Adorno 1961, 152); Alfred
Schmidt beruft sich bei seiner Krfcik an
Engels' Auffassung der Naturdialektik
ausdrücklich auf dieses Buch (Schmidt
1971, 57; vgl. auch 66); Helmut Reichert
erwähnt zwar in seiner Untersuchung des
Kapitalbegriffs bei Karl Marx (Reichert
1970) Lukäcs mit keinem Wort, seine
Auffassung des Marxismus als 'Methode
auf Widerrur, seine Interpretation des
"Kapital” als einer Dialektik von Subjekt
und Objekt sind jedoch, wie die ganze
hegelianisiercnde Marx-Interpretation der
"Frankfurter Schule", nichts weiter als
Aufnahme und Ausführung der wichtig-
sten Theoreme aus "Geschichte und
Klasscnbewußtscin". Obwohl Lukäcs.
"der zweifellos berühmteste aller marxi-
stischen Theoretiker nach Lenin, ... von
den Theoretikern des 'offiziellen' Mar-
xismus unermüdlich kritisiert, angegrif-
fen und verstoßen wurde" (de la Vcga
1977, 121), ist dieser "offizielle Marxis-
mus". zumindest in der DDR. ohne den
Einfluß des späten Lukäcs kaum zu den-
ken. In der sowjetischen Besatzungszone
erlangte er "auf litcraturthcoretischem
und philosophischem Gebiet eine Gel-
tung. wie sie kaum jemals ein Literatur-
wissenschaftler zuvor besessen hatte."
(Mittenzwei 1975. 86). Doch auch der
frühe Lukäcs ist hier nicht ohne Wirkung
geblieben. Dies betrifft nicht zuletzt
seine Idcologicthcoric. Wcrei beispiels-
weise Richard Sorg (1976) den Warenfe-
tischismus als Grundlage der Idcologie-
theorie von Marx und Engels ansieht und
sich dabei auf die führenden DDR-Philo-
sophen Wolfgang Eichhorn I und Erich
Hahn berufen kann (Eichhorn/Hahn
1967/68), so steht dies, obwohl er den
Namen nicht nennt, unübersehbar in der
Tradition von "Geschichte und Klassen-
bewußtsein".
Auf die meisten heutigen Leser wird
"Geschichte und Klassenbewußtsein" den
Eindmck einer abstrakt-philosophischen
Abhandlung machen. Für Lukäcs und
seine Zeitgenossen war das Buch, ge-
schrieben kurz nach dem Sieg der Rätcrc-
volution in Rußland und ihrer verheeren-
den Niederlage in Westeuropa, eine Ver-
arbeitung der Erfahrungen der Revoluti-
onsjahre. Geboren 1885 in Budapest als
Sohn eines geadelten Bankdirektors.
Schüler Simmels, Mitglied des "Max-
Webcr-Kreises", international angesehe-
ner Autor auf dem Gebiet der Philoso-
phie und Ästhetik, führenden verschiede-
nen Zirkeln der oppositionellen ungari-
schen Intelligenz, tritt er Ende 1918 der
eben gegründeten winzigen KP Ungarns
bei, wird ins ZK kooptiert, nach der ver-
hängnisvollen Vereinigung der Partei mit
der Sozialdemokratie und dem Sieg der
Revolution im März 1919 Volkskommis-
sar für das Unterrichtswesen und nach
Kontroversen über seine Kulturpolitik als
politischer Kommissar zur Armee ver-
setzt. Nach dem Sturz der Räteregierung
im August 1919 versucht er mit einem
Genossen, die illegale Arbeit in Budapest
aufzubaucn, muß vor dem gegenrevolu-
tionären Terror nach Wien fliehen, wird
dort aufgrund eines Auslicfciungsbcgch-
rcns verhaftet und kommt, nach einer
Protestkampagne prominenter deutscher
Intellektueller (darunter Richard Dehmel,
Paul Emst, Bruno Frank. Alfred Kerr.
Heinrich und Thomas Mann. Emst
Bloch) Ende 1919 wieder frei. In Wien
wird er führendes Mitglied der "mühsam
um ... die Überwindung des Status eines
bloßen Emigrationsclubs ringenden klei-
nen KPU" (Kammler 1974. 142). In den
erbitterten Fraktionskämpfen lehnt er, als
einer der Exponenten der Landler-Frakti-
on. "die auf einen baldigen erneuten Re-
volutionsversuch in Ungarn gerichtete
Perspektive des Sinowjcw-Schützlings
Bela Kun entschieden" ab (ebd.). Er ar-
beitet maßgeblich mit in der von Gerhard
Eisler (dein Bruder des Komponisten)
geleiteten Zeitschrift "Kommunismus.
Zeitschrift der Kommunistischen Interna-
tionale für die Länder Südosieuropas"
und ist hier 'zuvörderst an dem Versuch
beteiligt, eine theoretische Plattform für
die starke linkskommiinistische Strö-
mung der Komintern zu schaffen. ... Da-
mit gerät er ... in Gegensatz zur Politik
der Komintern, die vor allem nach der
fehlgeschlagenen 'März-Aktion' in
Deutschland 1921 entschieden gegen die
linkskommunistischen Elemente in der 3.
Internationale vorging, und die sich im
Fraktionskampf der KPU letzten Endes ...
entschieden hinter Bela Kun stellte”
(ebd. 1420- “Das harte Eingreifen des
EKKI ( = Exekutivkomitee der Kommu-
nistischen Internationale) in den Frakti-
onskampf der KPU seit dem Sommer
1921, das die Auflösung der Publikati-
onsorgane der Partei und zugleich der ei-
ner linkssckticrerischen Linie bezichtig-
ten Zeitschrift 'Kommunismus' impli-
zierte und das Wiener Emigrationszen-
trum der ungarischen KP praktisch liqui-
dierte, bedeutet für Lukäcs de facto den
Abschluß einer Phase der theoretisch-
praktischen Aktivität, deren Credo und
Fazit er in 'Geschichte und Klassenbe-
wußtsein' vorlegte" (ebd. 143). "Das
Werl löst sogleich eine lebhafte Diskus-
sion aus. In der Ungarischen KP kommt
es zu heftigen Debatten, in deren Folge
sich namhafte Angehörige der Landler-
Fraktion in einem Brief an die Komintern
von dem Buch distanzieren, weil die
Fraktion ein öffentliches Auftreten gegen
Lukäcs untersagt hatte ... 'Geschichte und
Klastenbewußtsein' wird zu einem der
zentralen Angriffspunkte in den Ausein-
andersetzungen innerhalb der Kommuni-
stischen Internationale um revisionisti-
sche Tendenzen in der kommunistischen
Weltbewegung.” (Rosenberg 1975,
405f). Auf dem V. Weltkongreß der
Kommunistischen Internationale Mitte
1924 wird Lukäcs' Position heftig kriti-
siert. Deborin veröffentlicht eine Kritik
an "Geschichte und Klassenbewußtsein"
(Deborin 1969).
Politische Brisanz gewannen Lukäcs'
Ansichten durch die Kritik am Lenin-
schen Parteikonzept, an der Mitarbeit in
Parlamenten und Gewerkschaften und an
der Kooperation mit dem linken Flügel
der "zentristischen" Arteiterparteien (wie
USPD), womit er in den Auseinanderset-
zungen der Dritten Internationale mitten
im Lager des "Links"-Kommunismus
stand. Es ist interessant daß Lenin in ei-
ner Kritik am "linken Radikalismus" der
Zeitschrift "Kommunismus" Lukäcs aus-
gerechnet seiner Methode wegen kriti-
sierte - einen Autor, der mit der Behaup-
tung, "Orthodoxie in Fragen des Marxis-
mus bezieht sich ... ausschließlich auf die
Methode" (171), berühmt geworden ist:
"Der Artikel von G.L. ist ein sehr radika-
ler und sehr schlechter Artikel. Der Mar-
154
xismus darin ist ein Marxismus der blo-
ßen Worte ... Es fehlt eine konkrete Ana-
lyse ganz bestimmter historischer Situa-
tionen. Das Wesentlichste (die Notwen-
digkeit, alle Arbeitsgebiete und Einrich-
tungen, durch welche die Bourgeoisie ih-
ren Einfluß auf die Massen ausübt usw.,
zu erobern und erobern zu lernen) bleibt
unberücksichtigt.“ (LW 31, I53f) Im sel-
ben Artikel kritisiert er Lukäcs' Gegner
Bela Kun mit ähnlicher Argumentation:
"Gen. B.K. übt Kritik auf Grund von Zi-
taten aus Marx, die sich auf eine der jet-
zigen ganz unähnliche Situation beziehen
... Er umgeht das, worin das innerste We-
sen. die lebendige Seele des Marxismus
besteht: die konkrete Analyse einer kon-
kreten Situation.“ (LW 31, 154). Über-
haupt erscheint der “linke Radikalismus"
in l^nins Darstellung weniger als eine
bestimmte politische Position als viel-
mehr als Effekt der Übertragung einer
theoretischen Arbeitsweise mit begrenz-
ter Leistungsfähigkeit auf eine Situation,
in der etwas anderes gebraucht wird: statt
der Verteidigung allgemeiner Wahrheiten
des Marxismus (die zuweilen nötig sein
kann) die konkrete Analyse. Die Not-
wendigkeit, den "linken Radikalismus"
.zu bekämpfen, folgt aus seinem
"operativen Ideologiebegriff' (s. Kapitel
2 dieses Bandes; gemeint ist der Band,
dem wir diesen Aufsatz entnommen ha-
ben. Anm. d. Hg.). Seine These, in unse-
rer Sprache: Der 'linke Radikalismus’
verhindert den Bruch mit der ideell ver-
mittelten Vergesellschaftung von oben
und die Herausbildung einer horizontalen
Vergesellschaftung in der Perspektive
des Abbaus aller ideologischen Mächte.
"Solange cs sich darum handelte (und in-
soweit es sich noch darum handelt), die
Avantgarde des Proletariats für den
Kommunismus zu gewinnen, solange
und insoweit tritt d:e Propaganda an die
erste Stelle; sogar Zirkel mit allen dem
Zirkelwesen eigenen Schwächen sind
hier nützlich und zeitigen fruchtbare Er-
gebnisse. Wenn es sich um die praktische
Aktion der Massen, um die Verteilung ...
von Millionenarmeen, um die Gruppie-
rung uller Klasscnkiäftc einer gegebenen
Gesellschaft zum letzten und entschei-
denden Kampf handelt, so kann man al-
lein mit propagandistischer Gewandtheit,
allein mit der Wiederholung der Wahr-
heiten des 'reinen’ Kommunismus nichts
mehr ausrichten." (LW 31, 81) "Mit der
Avantgarde allein kann man nicht siegen
... Damit ... wirklich die ganze Klasse,
damit wirklich die breiten Massen der
Werktätigen und vom Kapital Unter-
drückten zu dieser Position gelangen, da-
zu ist Propaganda allein, Agitation allein
zuwenig. Dazu bedarf es der eigenen po-
litischen Erfahrung dieser Massen. Das
ist das grundlegende Gesetz aller großen
Revolutionen ... Konnte die erste histo-
rische Aufgabe (die Gewinnung der klas-
senbewußten Vorhut des Proletariats für
die Sowjetmacht und die Diktatur der
Arbeiterklasse) nicht ohne den vollen
ideologischen und politischen Sieg über
den Opportunismus und Sozialchauvi-
nismus gelöst werden, so kann die zweite
Aufgabe, die nun zur nächsten wird und
die in der Fähigkeit besteht, die Massen
heranzuführen an die neue Position, die
den Sieg der Vorhut in der Revolution zu
sichern vermag - so kann diese nächste
Aufgabe nicht erfüllt werden, ohne daß
man mit dem linken Doktrinarismus auf-
räumt" (LW 3 1 , 80f).
2. Kern des Ideologischen: das ver-
dinglichte Bewußtsein
Im Zentrum von Lukäcs' Überlegungen
über die Möglichkeiten der Revolution
nach ihrem Scheitern stehen die
"Idcologicnprobleme des Kapitalismus"
(258). Mit einer Reihe anderer kommuni-
stischer Theoretiker war er - in Reaktion
auf den Ökonomismus der Zweiten In-
ternationale - zu der Auffassung gelangt,
daß hier die Ursachen für die unerwartete
Stabilität des westlichen Kapitalismus zu
suchen seien. Eugen Varga, führender
Wirtschaftspolitiker und Ökonom der
ungarischen Räterepublik (später der
Kommunistischen Internationale): "Bei
der unvoreingenommenen geistigen
Durchdringung des Verlaufes der ungari-
schen RHtediktalur ergab es sich im all-
gemeinen, daß der Ideologie in revolu-
tionären Zeitläufen eine viel größere Be-
deutung zugestanden werden muß, als
ein großer Teil der Marxisten glaubt."
(z.n. Kammlcr 1974, 148). Anton Panne-
kock, Revolutionstheoretiker der Frakti-
on des "linken Radikalismus", leitete die
Notwendigkeit der "radikalen“ Taktik für
Westeuropa "in erster Linie aus der spe-
zifischen ideologischen Struktur des
westeuropäischen Proletariats“ ab: “die
langandauemde, intensive Vorherrschaft
einer hochentwickelten und differenzier-
ten bürgerlichen Kultur habe im Gegen-
satz zu Rußland - zu einer schwer zu
Überwindenden Verankerung bürgcrlich-
idcologischcr Strukturen im Bewußtsein
des Proletariats geführt." (Kammlcr
1974, 164). In Deutschland befaßten sich
Rosa Luxemburg und Karl Korsch mit
dem Problem. In Italien war Gramsci zu
vergleichbaren Überlegungen gekommen
(s. Kapitel 4 dieses Bandes; gemeint ist
der Band, dem wir diesen Aufsatz ent-
nommen haben, Anm. d. Hg.). Lukäcs
sicht die Ursache für die Schwierigkeiten
der Revolution darin, daß großen Teilen
der arbeitenden Klassen der Kapitalismus
als naturgegeben unveränderlich er-
scheint; sic erkennen nicht dessen
"historischen, d.h. transitorischen, vor-
übergehenden Charakter" (186). Im
Kampf gegen diese "Verewigung des
Kapitalismus" (183) besteht für Lukäcs
die Aufgabe revolutionärer Theorie im
•Zerreißen der EwigkeitshUlle“ (187). In
den Begriffen von Roland Barthes (1964)
könnte man dies so ausdrücken: Der be-
ständigen “Denomination",
"Entncnnung" des Kapitalismus hat der
Theoretiker das fortwährende Benennen
entgegenzusetzen. Bei Lukäcs’ Analyse
des "Entnennungs“-Vorgangs spielt der
Ideologie-Begriff allerdings keine beson-
dere Rolle. Er hat, überwiegend in adjek-
tivischen Wendungen wie "ideologische
Gebilde" (183), “ideologische Fragen"
(254) usw. verwandt, verschiedene Be-
deutungen, die Lukäcs vermutlich im da-
maligen internationalen Marxismus vor-
gefunden hat. Man kann drei Verwen-
dungsweisen unterscheiden.
Lukäcs redet von "einem ideologischen
Kampfe um das Bewußtsein, um Verhül-
lung oder Aufdeckung des Klassencha-
rakters der Gesellschaft" (233). Ideologie
ist hier die zwischen den Klassen um-
kämpfte Art und Weise, in der die Pro-
duktionsverhältnisse gedacht werden.
Die "ideologische Geschichte der Bour-
geoisie ist ... nichts anderes, als ein ver-
zweifelter Kampf gegen die Einsicht in
das wahre Wesen der von ihr geschaffe-
nen Gesellschaft, gegen das wirkliche
Bewußtsein ihrer Klassenlage." (241) Sie
habe ein "ideologisches Bedürfnis"
(182). ihre eigene 'Produktionsordnung
... so aufzufassen, als wäre sie von zeitlos
geltenden Kategorien geformt" (182),
und verwende hierzu das
"Erkenntnisidcal der Naturwissenschaf-
ten" als "ideologisches Kampfmittel“
(182). Durch Theorie und Praxis des Pro-
letariats werde die Bourgeoisie
"ideologisch in eine bewußte Defensive
gedrängt. Der dialektische Widerspruch
im 'falschen' Bewußtsein der Bourgeoisie
verschärft sich, das falsche' Bewußtsein
wird zu einer Falschheit des Bewußt-
seins." (240) Da “das Schicksal der Re-
volution ... von der ideologischen Reife
des Proletariats, von seinem Klassenbe-
wußtscin" abhängc (245), gehe es, in ei-
ner "ideologischen Krise" um "die ideo-
logische Überwindung des Kapitalismus”
(255) . Ideologische Reife" wird hier mit
"Klassenbewußtsein' gleichgesetzt. Ist
demnach Klasscnbcwußtscin eine Ideo-
logie? Lukäcs schließt sich dem bei Le-
nin beobachteten Sprachgebrauch an,
wenn auch, wie die Anführungszeichen
signalisieren, mit Vorbehalten: "Für das
Proletariat ist seine 'Ideologie' keine
Flagge, unter der cs kämpft, kein Deck-
mantel der eigentlichen Zielsetzungen,
sondern die Zielsetzung und die Waffe
selbst." (245).
155
Der ideologische Kamp!" um das Be-
wußtem von den Produktionsvcrhiltnis-
sen hat verschiedene Orte. "Jedoch ob
diese Verewigung des Kapitalismus von
der ökonomischen Basis oder von den
ideologischen Gebilden aus ... geschieht,
läuft im Wesen der Sache auf dasselbe
hinaus." (183) Hier finden wir. mit dem
Hinweis auf die 'ideologischen Gebilde",
einen zweiten Idcologic-Bcgrii'f, der in
seinem Gegensaz zur “Basis” anschei-
nend den "Überbau" meint und hier vor
allem, wie aus anderen Stellen hervor-
geht. Oie Bereiche von Wissenschaft und
Kultur: so spricht er vom "theoretischen
und praktischen Verhalten des Proleta- ‘
riats zu rein ideologischen Fragen, zu den
Fragen der Kultur" (254). Auch hier ist
der Rückgriff auf den Sprachgebrauch
unschlüssig. An einer Stelle hält eres für
nötig, die Anführungszeichen durch das
distanzierende "sogenannt“ zu ergänzen:
die Vulgarükonomie erweise sich als un-
fähig. “den Zusammenhang der soge-
nannten ‘ideologischen’ Formen der Ge-
sellschaft mit ihrer ökonomischen
Grundlage... zu begreifen" (207).
Schließlich gibt es eine Reihe von For-
mulierungen. in denen die distanzierende
Verwendung eines neutralen Ideologie-
Begriffs in eine rein pejorative Um-
schlag!, so wenn er davon sprich;, daß
die Hcgcl-Epigcncn die geschichtlichen
Ereignisse "mit ihren rein ideologischen
Konstitutionen“ (207) nicht treffen kön-
nen. Auch hier sichert er sich Häufig
durch Anführungszeichen und Adjektive
ab. Über das Kleinbürgertum heißt es:
"Seine eigenen Ziele, die eben aus-
schließlich in seinem Bewußtsein existie-
ren, müssen ... immer ausgehöhltcrc,
vom gesellschaftlichen Handeln immer
losgelöstere, rein 'ideologische' Formen
werden." (234). Und über das Proletariat:
"Jede unprinzipielle oder prinzipienlose
Taktik des Proletariats erniedrigt den hi-
storischen Materialismus zur bloßen
Ideologie"' (245). Die Frage nach dem
Zusammenhang zwischen diesen Ver-
wendungsweisen des Ideologie-Begriffs
wird von Lukäcs nicht gestellt. Seine
Kritik erschöpft sich in distanzierendem
Signalement. Auf diesem Wege werden
wir also keine Einsicht in seine Theorie
des Ideologischen bekommen. Wir müs-
sen uns seiner Hauptkategorie zuwenden,
in der er das Ideologische theoretisch
faßt: cs ist dies das "ideologische Phä-
nomen der Verdinglichung" (269).
Ausgehend von der Problembestimmung.
' daß das Bewußtsein des Proletariats der
Verdinglichung vorläufig noch erlegen
ist" (252). entwickelt Lukäcs seine Ana-
lyse <lcs Ideologischen als Theorie der
Verdinglichung. Das Kernstück dieser
Theorie stellt er als einfaches Referat der
Marxschcn Untersuchung des Fetisch-
charakters der Ware dar. Mit seiner Ein-
schätzung. daß es "kein Problem dieser
Entwicklungsstufe der Menschheit" gebe,
"dessen Lösung nicht in der Lösung des
Rätsels der Warenstruktur gesucht wer-
den müßte' (257), steht er am Beginn je-
ner Tradition in der Marx-Rezeption,
wonach in diesem Kapitel und vor allem
im letzten Abschnitt über den
"Fctischcluraktcr der Wuic und sein Ge-
heimnis” 'die ausdrücklichste und ge-
naueste Formulierung des theoretischen
und gcsclichtlichen Standpunktes der
ganzen materialistischen Gcscllschafts-
lehrc” (Korsch 1969. 101) gesehen wer-
den muß.
Lukäcs will auf die Probleme hinweisen,
"die sich aus dem Fetischcharakter der
Ware, als Gegenständlichkeitsform einer-
seits und aus dem ihr zugeordneten Sub-
jektverhalten andererseits ergeben; deren
Verständnis uns erst einen klaren Blick
in die Idcologicnproblcmc d:s Kapitali-
smus und seines Untergangs ermöglicht.“
(258) Das "Wesen der Warenstruktur"
beruhe darauf, "daß ein Verhältnis, eine
Beziehung zwischen Personen den Cha-
rakter einer Dinghaftigkeit" erhält (257).
Damit erscheinen die gesellschaftlichen
Verhältnisse als natürlich und unverän-
derbar. In diesem von Marx analysierten
Vorgang sicht Lukäcs den Grund für die
"Verewigung des Kapitalismus" (183).
Was dies für die Tätigkeit der Menschen
in der Prixis des Täuschers. Kaufens
und Vcrkcutcns bedeutet, wird von Lu-
käcs nicht näher untersucht, ihn interes-
sieren vor allem die Auswitkungen auf
den Arbeitsprozeß. An der Ware selbst
interessiert ihn vor allem, daß sic zur
"Univcrsalkategorie des gesamten gesell-
schaftlichen Seins” (260) geworden sei.
Zunächst fällt hierbei eine Totalisierung
des Erklätungsanspruchs der Warenana-
lyse auf. wie sic bei Marx nirgends zu
finden ist. Dort hatte es noch bescheiden
geheißen, das "Rätsel des Warcnfctischs"
sei der Zugang zum "Rätsel des Geldfe-
lischs“ (MEW 23. 108); bei Lukdcs gibt
cs überhaupt kein Problem dieser Gesell-
schaftsformation, das nicht letzten Endes
durch Bezug auf die Ware gelöst werden
könnte, das "Rätsel des Warcnfctischs"
wird zum Wclträtscl. Von der Koexistenz
kapitalistischer und vorkapitolistischcr
Formen ist keine Rede; die vielfältigen
Zusammenhänge, in denen die Menschen
sich, auch im Kapitalismus, nicht als Wa-
renbesitzer gegenübertreten, in Kirche,
Familie, Schule. Vereinen uiw.. werden
keines Gedankens für wert befunden. Die
Fiktion eines Kapitalismus mit einer
"einheitlichen Wirtschaftsstruktur", die
"eine - formell - einheitliche Bcwußt-
scinsstrukiur" für die Gesamtheit der Ge-
sellschaft hervorgebracht (275) habe, die
Unterstellung, die theoretischen Abstrak-
tionen im "Kapital" erfaßten vollständig
die empirische Wirklichkeit, muß für die
Analyse des Alltagsbewußtseins gravie-
rende Folgen haben. Die Frage nach des-
sen Heterogenität und Widersprüchlich-
keit (der Gramsci besondere Aufmerk-
samkeit widmete, s. Kapitel 4 dieses
Bandes; gemeint ist der Band, dem wir
diesen Aufsatz entnommen haben. Anm.
d. Hg.), kann im Rahmen von Lukdcs'
"Kapital"-Interprctation. die die durch
theoretische Anstrengung gewonnenen
Wirklichkeitsaspekte zur Fülle des wirk-
lichen Lebens verabsolutiert, nicht ein-
mal gestellt werden.
Methodisch schlägt Lukäcs einen der
Marxschen Analyse ganz entgegenge-
setzten Weg ein. Marx konzentriert seine
analytischen Anstrengungen auf die
"einfache, einzelne oder zufällige Wert-
form' (MEW 23. 63); auf das "Element"
und den "Keim" (MEW 23. 85) der ent-
wickelteren Formen. Wenn Lukäcs sagt,
daß die Ware "nur als Lnivcrsalkategorie
des gesamten gesellschaftlichen Seins (...
) in ihrer unverfälschten Wesensart be-
greifbar" sei (260), behauptet er damit,
daß erst die Untersuchung der durchge-
setzten Form zum Kern des Problems
vorstoßen könne. Das Problem, was das
"Unzulängliche" (MEW 23, 76) und die
"Mängel" (MEW 23. "8) der einfachen
Formen sind, die zur Produktion der
komplizierteren Formen drängen, liegt
außerhalb seines Gesichtskreises. Ihn in-
teressiert das "verdinglichte Bewußtsein”
(268) nur als Resultat, nicht in seinem
notwendigen Gewordensein. Was bedeu-
tet das für eine Theorie des Alltagsbc-
wußiseins? Daß nicht nur die Wider-
sprüchlichkeiten im Bewußtsein, die
durch die Koexistenz und Überlagerung
sehr unterschiedlicher Lebenspraxen ent-
stehen. nicht erfaßt werden können, son-
dern genausowenig die Widersprüche im
gewissermaßen reinen Wertform-Be-
wußtsein.
Im Lichte von Lukäcs’ Marx-Lektüre
stellt sich die Entwicklung des Arbeits-
prozesses dar als Zerreißen einer unmit-
telbaren Einheit von Subjekt und Objekt
des Arbeitsprozesses.
"Du Umach tna+n »»dB ctyttiv roSt t< i#n»m VutuKtn am Ai<
sh dMion «ijtrtkn«* Ititp. tenMm u -wl ai ir*M-
nwiw rn h k> mctereet*i SrU«i k** i*. du •> itflfl u«J n
»zi hn ArMimmaj d»uan G*m-
miMi «Mm oi Ilgen tat Dea iMqtn iC*
rxcP dx»jr3\. «ß ml uiitmröH Prtoiteumvj utj Uetfunsi*-
nrfl Ob MMCproecai da T 4 «»ol des Malm ime« SW*> t*
rtn TU^ucsttmHB urtefl ird oj trai tawpHMn Hihng
•WpBJl
Wem man sich den taylorisierten Ar-
beitsprozeß. den Lukäcs vor Augen hatte,
konkret vorstellt. wirkt diese Behauptung
zynisch, bestenfalls weltfremd. Die Be-
hauptung vom "kontcmplativc(n) Verhal-
ten einem mechanisch-gesetzmäßigen
Prozeß gegenüber, der sich unabhängig
vom Bewußtsein, unbeeinflußbar von ei-
156
ner menschlichen Tätigkeit abspieli. sich
also als fertiges geschlossenes System of-
fenbart" (264), wird durch jeden Streik,
ja, jede Streikdrohung widerlegt. Wie
kommt er darauf?
Lukäcs stellt die Arbeiter in der kapitali-
stischen Produktion dar wie die ven der
materiellen Produktion des Lebens abge-
trennten Intellektuellen mit ihrem an-
schauenden Denken (s. Kapitel I dieses
Bandes; gemeint ist der Band, den wir
diesen Aufsatz entnommen haben, Anm.
d. Hg.). Die erste Feuerbachthcsc, mit der
sich Marx gegen die Kopfprodukte bür-
gerlicher Intellektueller wie Feuerbach
wandte - “Der Hauptmangel olles bishe-
rigen Materialismus ... ist, daß der Ge-
genstand. die Wirklichkeit, Sinnlichkeit
nur unter der Form des Objekts oder der
Anschauung gefaßt wird; nicht aber als
sinnlich menschliche Tätigkeit. Praxis;
nicht subjektiv" (MEW 3. 5) - wird von
Lukäcs anscheinend auf "die' Menschen
in der kapitalistischen Gesellschaft, vor
allem die Arbeiter bezogen. Für ihn ist
das anschauende Denken der Intellektu-
ellen und das Für-Ewig-Haltcn des Kapi-
talismus durch die Arbeiter ein und das-
selbe verdinglichte Bewußtsein. Eine
spezielle Problematik des von der mate-
riellen Produktion abgetrennten Denkens
gibt es hier nicht, weil auch die Arbeiter
als von dieser Produktion abgetrennt ge-
dacht werden.
Der Kem dieses Problems liegt in Lu-
käcs' Gegenüberstellung der Ware "als
Gegenständlichkeitsform einerseits und
... dem ihr zugeordneten Subjektsverhal-
ten andererseits" (258). Damit ver-
schwindet aus der Marxschcn Wertfor-
manalysc. daß diese Form" sozialer Pra-
xis, Praxisfonn" (Haug 1976a, 159) ist.
Wieder betrachtet Lukäcs die Sache vom
Effekt her, der Ware auf der einen, dem
Warenbesitzer auf der anderen Seile. Er
verfehlt systematisch den Kem, nämlich
die starre und selbständige Form, die die
Tätigkeit hier gegenüber den Individuen
annimmt, ohne doch etwas anderes zu
sein als Tätigkeit Praxis. Also nicht Ge-
genstand ("Objekt") auf der einen,
"Subjekt" auf der anderen Seite, sondern
eine den "Subjekten" fix und fertig ge-
gcnübcrstchcndc Zwangsform, in der sie
ihre Praxis zu organisieren haben. In die-
ser starren Form verhalten sich die Indi-
viduen keineswegs kontemplativ, ja. die
Entwicklung dieser Form bedeutet gera-
dezu eine Explosion von Subjektivität; in
der einfachen Form des Vcrkaufcns etwa
die Künste des Beschwatzens. Überli-
stens, Sich-Einfühlens, Seincn-Vortcil-
Wahmchmcns usw. Zwischen Warenbe-
sitzer und Ware herrscht alles andere als
ein kontemplatives Verhältnis - im Ge-
genteil. sic treibt ihn um. Als natürlich
und gegeben erscheint in dieser Praxis-
form nur diese selbst; sie selbst ist nicht
Gegenstand der Tätigkeit.
Das alltägliche Bewußtsein, soweit es
durch die Warcnstniktur bestimmt ist, er-
scheint bei Lukäcs nicht als das eine be-
stimmte Tätigkeit regulierende Bewußt-
sein, als "objektive Gedankenform" einer
bestimmten Form menschlicher Praxis
(MEW 23. 90; vgl. hierzu Haug 1976a,
I74ff), sondern als Bewußtsein eines
Subjekts gegenüber einem Objekt, als
kontemplativ. Er hat freilich recht, was
das Verhältnis des Individuums zum Ge-
samtzusammenhang dieser einzelnen
Praxen betrifft; und insoweit dies in die
individuelle Praxis hincinspielt, verhält
sich das Individuum ’anschaiend". Ein
"Preisrutsch" auf dem Markt wird im
durchschnittlichen Fall eine hektische,
ganz und gar nicht kontemplative Aktivi-
tät der Käufer und Verkäufer auslösen, in
der sie versuchen, diesen Vorgang zu ih-
rem Vorteil zu kontrollieren, dies aber
eingebettet in ein kontemplatives Verhal-
ten gegenüber einem Schicksal, in das
man sich schicken muß, das man ausnut-'
zen, aber nicht beherrschen kann. Diese
Andeutungen müssen hier genügen; sie
dienen nur zur Illustration unserer Kritik
an der Methode. Der "Schein der Einer-
Iciheit" (MEW 23, 534), den sic produ-
ziert. eliminiert die Widersprüche des
Alltagsbcwußtseins, auf die es in der Per-
spektive seiner massenhaften Verwissen-
schaftlichung ankommt.
In der verdinglichten Keimform liegt für
Lukäcs schon das verdinglichte Ganze.
"Eine solche Wirkung der inneren Orga-
nisationsform des industriellen Betriebes
wäre aber ... unmöglich, wenn sich in ihr
nicht der Aufbau der ganzen kapitalisti-
schen Gesellschaft konzentriert offenba-
ren würde." (265) Man lese hierzu die
genau entgegengesetzten Darlegungen
von Marx über die Teilung der Arbeit in-
nerhalb der Fabrik und innerhalb der Ge-
sellschaft (MEW 23, 371 ff). Der Gegen-
satz zwischen planmäßiger, wenn auch
despotischer Vergesellschaftung der Ar-
beit innerhalb des kapitalistischen Unter-
nehmens und der planlosen Vergesell-
schaftung all dieser Arbeiten auf dem
Markt wird unterschlagen, damit auch
die entsprechend widersprüchlichen Be-
wußtscinsformcn. Tn seinem Vorwort zur
Neuauflage von "Geschichte und Klas-
scnbcwußtscin" im Jahre 1968 hat Lu-
käcs diesen Fehler sehr scharf kritisiert:
"Es wird zwar versucht, all: ideologi-
schen Phänomene aus ihrer ökonomi-
schen Basis verständlich zu machen, aber
die Ökonomie wird doch eingeengt, in-
dem ihre marxistische Fundamcntalkatc-
goric. die Arbeit als Vermittler des Stoff-
wechels der Gesellschaft mit der Natur
aus ihr herausfällt ... Es verschwindet
aber damit zugleich auch jene Wechsel-
wirkung, die zwischen der echt materiali-
stisch betrachteten Arbeit und der Ent-
wicklung der arbeilenden Menschen ob-
waltet." (Lukäcs 1968a, 19) Der Keim
der "forschenden, 'experimentierenden'
Erfahrungsgewinnung" im Arbeitsprozeß
(Holzkamp 1973, 130), die Entfaltung
von Kooperationsbeziehungen, all das,
worauf cs in der Perspektive eines Ab-
baus der ideologischen Mächte durch die
bewußte Selbst-Vergesellschaftung der
Produzenten ankommt. fallen in
"Geschichte und Klasscnbcwußtscin" den
falschen Abstraktionen zum Opfer.
In "Geschichte und Klassenbewußtsein"
treten an die Stelle eines gemeinschaftli-
chen Lebensprozesses die "rationell ver-
dinglichte^) Beziehungen" (266) isolier-
ter Warenbesitzer. “Freilich ist die so
entstehende Isolierung und Atomisierung
ein bloßer Schein.“ (266) Was ist damit
gemeint?
"D» (Mf *i» «n Uutli _ ntfl ab Grindig* 0 k Katu-
bten ctimg' G*wOltf*»4 alas GuMm wua Ott* Aa>
riMang <M «O'JW'H * «so rw <W tM-vawnwrMftg« DAi
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Oou ran. mwi WMKMpoam vittoMtl (MC du
SOWku i*ir GMv du GataBUun vm MVaOctin Gantrm t*-
GW)
Um herauszufinden, was cs mit dem
"bloßen Schein" der verdinglichten Be-
ziehungen auf sich hat, ist es nützlich,
von den falschen Verabsolutierungen
und Widerspruchseliminierungen einmal
abzusehen. (Wieso setzt Kalkulation eine
strenge Gesetzlichkeit allen Geschehens
voraus? Warum scheitern Kalkulationen
so oft, wo sic sich doch angeblich auf ei-
ne strenge Gesetzlichkeit beziehen?
Wies) haben die "Naturgesetze" der ka-
pitalistischen Produktion sämtliche Le-
bcnsiußcnmgcn erfaßt? Wieso ist "das”
Individuum atomisiert - was ist mit den
Mitgliedern einer Familie, eines Vereins,
einer Gewerkschaft usw.?) Wenn wir
auch noch die unerklärte Merkwürdigkeit
übergehen, daß der "bcwußtscinsmäßigc
Reflex" eines Vorgangs genau dessen
Gegenteil enthalten soll, so läßt sich als
Behauptung festhaltcn, daß die Isolie-
rung "des“ Individuums (also der Indivi-
duen, soweit sie sich zueinander als Wa-
renbesitzer verhalten) deswegen ein
"bloßer Schein" sein soll, weil in Wirk-
lichkeit alle Individuen von einheitlichen
Gesetzen bewegt werden. Aber ist die
Form, in der sich diese einheitlichen Ge-
setze (gemeint ist hier wahrscheinlich das
Wertgesetz) durchsetzen, nicht gerade
die des Austauschs zwischen Privatleu-
ten. wenn man so will von isolierten und
atomisierten Individuen? Ist dieser Aus-
tausch ein "bloßer Schein”,
"bewußtseinsmäßiger Reflex"? Lukäcs
versucht, die Frage mit dem Hinweis auf
die Notwendigkeit "bloßen Scheins" zu
beantworten:
157
•Aft* <Mm> Stf*r <9 U Stf-n n*«o<t 9 dh
W«M « 9»0r**J* Acs^arÄn»inr«j toi MrWra M
0» G«M&rfuft. tot jmcojoi» '^IWa' inj R«^d*l«y «i l*
tara _ um 1O1 ru n dm Fom du «ly«»*' irt ad*"w
Selbst wenn man von dem Irrtum absicht,
daß die Produktion des Lebens sich nicht
nur in Tausch-, sondern zumindest auch
in Produktions- und Konsumtions vorgan-
gen abspielt, bleibt die Frage, wie Lukäcs
seine Behauptung vom Scheincharakter
dieser Atomisierung zwischen den Wa-
renbesitzem aufrechterhalten und zu-
gleich von der Realität dieser Atomisic-
mng reden kann. Das geht eigentlich nur,
wenn man davon ausgeht, daß das Leben
der Warenbesitzer für sic nur etwas Pri-
vates und ihre Gesellschaftlichkeit etwas
ihren Handlungen notwendig Äußerli-
ches ist, und daß die Privatheit ihrer
Handlungen zwar notwendig, aber weni-
ger real ist als deren Gesellschaftlichkeit.
Darin wird verkannt, daß die Beziehun-
gen der Privatleute, die ja keine Robin-
sons sind, sowohl privat als auch gesell-
schaftlich sind (worin der Grundwider-
spnich dieser Produktionsweise besteht),
daß diese Privatheit etwas der Gesell-
schaftlichkeit nicht Äußerliches ist, son-
dern die reale Form ihrer Durchsetzung.
In «er Wendung vom "notwendig fal-
schen Bewußtsein" kaschiert der Verweis
auf die Notwendigkeit die Objektivität
des Privaten und damit die Richtigkeit
des mtsprechenden Bewußtseins; es ist
nicht "notwendig falsches“, sondern ein
“pral lisch richtiges Bewußtsein“. Zu-
gleica enthebt er der Mühe, zu bestim-
men. in welcher Hinsicht dieses Bewußt-
sein falsch ist. Lukäcs verabsolutiert da-
mit diese Hinsicht nämlich das Begrei-
fen des gesellschaftlichen Gesamtzusam-
menhangs - zur einzigen Realität, der ge-
genüber alles andere bloßer Schein und
Bewußtseinsreflex ist. Der Fetischcha-
rakter der Ware wird so primär als Vor-
gang der Bewußtseinsverfälschung, als
das Nicht-Durchschauen des gesell-
schaftlichen Charakters der Warenform
begriffen, statt als wirkliches Beherrscht-
werden der Warenproduzenten durch die
Dinge, die sie selbst gemacht haben. Ja,
das ganze "Kapital" von Marx wird gele-
sen als eine Theorie über die Entstehung
von falschem Bewußtsein, nicht als
Theorie über die Bewegungsgesetze des
praktisch-tätigen Lebens im Kapitalis-
mus, es wird umskzentuiert von einer
Theorie über die Widersprüche einer
verkehrten Vergesellschaftung des Men-
schen in eine Theorie des eigentlich fal-
schen Bewußtseins von dieser Gesell-
schaft.
Dem kommt der Rückgriff auf zwei phi-
losophische Richtungen entgegen; auf
die Lebensphilosophic mit ihrem Gegcn-
satzpaar von organischem, irrationalem
Ganzem und mechanischen, rationalen
Teilen und auf die Hegelsche Philoso-
phie mit ihrer Dialektik von Subjekt und
Objekt. Die "Übersetzung" des Verhält-
nisses von Privat unJ Gesellschaftlich in
das Verhältnis von Teil und Ganzem ver-
hindert die Erkenntnis der Widersprüch-
lichkeit des Privaten (das zugleich gesell-
schaftlich ist), zugleich ermöglicht sic,
wo immer etwas zerlegt, zerteilt, geglie-
dert. analysiert wird, von der Arbeitstei-
lung in der Fabrik bis hin zur Entwick-
lung der Wissenschaften, darin die Wa-
renstruktur und Entfaltung der Privatheit
zu sehen. Die hegelianisierende Interpre-
tation der gesellschaftlichen Verhältnisse
als Subjekt-Objekt-Dialektik steht ganz
im Mittelpunkt von Lukäcs' Interesse.
Das verdinglichte Bewußtsein, der Kern
der kapitalistischen Ideologie, wird, wie
wir gesehen haben, als ein anschauendcs
Verhältnis von Subjekt und Objekt ge-
faßt, das "Kapital“ als die Theorie gele-
sen. die erklärt, daß diese Kontemplation
etwas historisch Besonderes, nichts Ewi-
ges darstellt. Die Marxsche Forderung,
von der Tätigkeit auszugehen, versucht
Lukäcs durch die Annahme einer ur-
sprünglichen Subjckt-Objekt-Einhcit cin-
zulöscn. Damit kann abgcbildet werden,
daß es ihre eigenen Bewegungen sind,
die den Menschen fetischartig, wie ein
fremdes Objekt gegenübertreten und sie
beherrschen. Zugleich aber wird die Per-
spektive. daß die Menschen nicht von ih-
ren eigenen Produktionen beherrscht
werden, verbaut. Der emphatische An-
spruch, daß alles Subjekt werden solle,
läßt alle Anstrengungen, Widerstände,
jeden Arbeitsprozeß und jede Tätigkeit,
worin man sich an einem Gegenstand ab-
arbeiten muß, als Form der Entfremdung
erscheinen, jede Vcrgcgenständlichung
als Verdinglichung (vgl. hierzu ausführ-
lich seine eigene Kritik, Lukäcs 1968a).
Immerhin erkennen wir im Mythos der
Einheit und Spaltung des Subjekt-Ob-
jekts die Perspektive des radikalen Ab-
baus der ideologischen Kontemplations-
Struktur, wenn auch in einer abstrakten,
widcrspruchsfcindlichen Form, die alle
Ansatzpunkte innerhalb der entfremdeten
Verhältnisse, dieser Verhältnisse Herr zu
werden durch Selbst-Vergesellschaftung
der Produzenten, systematisch verfehlt.
3. Durchsetzung des Ideologischen:
"expressive Totalität"
Die Analyse der Ware als “Urphänomcn
der Verdinglichung" (269) bildet nur den
Ausgangspunkt von Lukäcs' Theorie.
Sein Hauptinteresse gilt den Auswirkun-
gen dieses Prozesses. Er stellt sic dar als
"Steigerung der verdinglichten Bewußt-
seinsstniktur als Gnindkategoric für die
ganze Gesellschaft' (275), wobei sie
“immer abgeleitetere, immer verdinglich-
te Stufen" (280) erreich;. Von den unte-
ren Stufen Staat. Recht und Verwaltung
schreitet Lukäcs zur Analyse der neuzeit-
lichen Wissenschaft und Philosophie
fort: "Aus der verdinglichten Struktur des
Bewußtseins ist die moderne kritische
Philosophie entstanden." (287).
Die Beziehungen zwischen diesen Stufen
stellt Lukäcs als "strukturelle Ähnlich-
keit" (270) oder “strukturelle Analogie"
(273) dar. jede Stufe als Ausdruck der
Warenstruktur, dem “Urbild aller Gegen-
ständlichkeilsformen und aller ihnen ent-
sprechenden Formen der Subjektivität in
der bürgerlichen Gesellschaft” (257). "So
wie das kapitalistische System sich öko-
nomisch fortwährend auf erhöhter Stufe
produziert und reproduziert, so senkt sich
im Laufe der Entwicklung des Kapitalis-
mus die Verdinglichungsstruktur immer
tiefer, schicksalhafter und konstitutiver
in das Bewußtsein der Menschen hinein."
(268) Es handelt sich um eine "Potenzie-
rung der Verdinglichung" (268). Die
Analyse der Zusammenhänge zwischen
diesen Formen geht an keiner Stelle Uber
die hier zitierten Bestimmungen hinaus.
Steigerung. Ausdruck. Struklurähnlich-
keit, Stufen: das sind die Kategorien, in
denen Lukäcs den Verdinglichungspro-
zeß abbildct. Warum cs überhaupt zur
Herausbildung eigener "Stufen" (wie ei-
nes speziellen Rechts, Staats, von Philo-
sophie und Wissenschaft) kommt, wird
nicht analysiert, an tfe Stelle der Unter-
suchung des Entstehens und der Wider-
sprüche dieser Formen tritt ein quantifi-
zierendes Denkmuster. Der Verdingli-
chungsprozeß muß sich immer mehr
"steigern" (268), führt zu einer "immer
stärker" verdinglichten Behandlung aller
Fragen (274). Der "Unterschied, daß der
Arbeiter der einzelnen Maschine, der Un-
ternehmer dem gegebenen Typus der ma-
schinellen Entwicklung, der Techniker
dem Stand der Wissenschaft und der
Rentabilität ihrer technischen Anwen-
dung gegenüber so stehen muß, bedeutet
eine bloß quantitative Abstufung und
unmittelbar keinen qualitativen Unter-
schied in der Struktur des Bewußtseins."
(273) Die Verdinglichung produziert eine
"einheitliche Bewußtseinsstruktur'', die
sich darin äußert, "daß die Bewußtseins-
problemc der Lohnarbeit sich in der herr-
schenden Klasse verfeinert, vergeistigt,
aber eben darum gesteigert wiederholen.“
(275) Wir haben hier dasselbe, alle Un-
terschiede. Gegensätze und Widersprü-
che erschlagende Verfahren vor uns. das
wir schon bei der Analyse der Waren-
struktur kennen gelernt haben: das Mo-
ment des selbstverständlichen Sich-Be-
wegens in Vorgefundenen Bedingungen,
die die Menschen produziert haben, die
ihnen aber als fremde gegenübertreten,
wird zum allein Bestimmenden verabso-
lutiert und als die ganze Wirklichkeit un-
terstellt. Immer auf der Suche nach dem
158
Vcrdinglichungs- und Verewigungsef-
fekt, werden Lukdcs die konkreten Diffe-
renzen gleichgültig:
’JMxfl c<> Vtfqtl Ö*l ***>»'<.' *»> 0»
Basa odw da «JatogHtf»nG»e«»n m. tf> rai.<rt»t*T«T*i
o» CfadT-tdW^I 0 »W>«ra. m Wcs«n 6* Saf* W OHM*»
hrom'(IM)
Die relative Autonomie verschiedener In-
stanzen ist reiner (wenn auch notwendi-
ger) Schein:
*5 MSeftBi munc TatHtf*n «tat« >JUa3io»3Tt**n tut*
gtwOK iMjeP*«» (tenor* H«f* uw ). 4« *So> •> *<•> w>-
n-n*a«i CncftMv«g»toma »i «m a*J* wiu*n-
Ktunkt» ätadivg -MgV-o* «qibniMM rj vn xft»*«n*
CM *Outttfi. <M «tun MMri* irü ooMnndn Ttfocha
inj TWftKrr. 'w Jv •* UrtiM WM Ou Gaurn btlcrt*.
rnp.« -dUMT <<N>n ah mn - ikrioyi "XI dal ■JpUknul nX-
•*->) j-cdüWflcn • Seren’ (I fi).
Die Univcrsalkategurie. mit der Lukdcs
die Verbindung zwischen den isolierten
Tatsachen und so die 'konkrete Einheit
des Ganzen' oder "Totalität" zeigen will,
ist die Kategorie “Ausdruck".
Die Sozialdemokrat ist für Lukdcs
"ideologischer Ausdruck " der " kleinbür-
gerlich gewordenen A rbeiterarislokratie "
(204). "Der literarische, der wissen-
schaftliche Ausdruck eines Problems er-
scheint als Ausdruck einer gesellschaftli-
chen Ganzheit, als Ausdruck ihrer Mög-
lichkeiten. Grenzen und Probleme. "
(207) Das "ganze Dasein der bürgerli-
chen Klasse und als ihr Ausdruck die
bürgerliche Kultur " sei "in die schwerste
Krise geraten. " (242) Der Marxismus ist
"der ideologische Ausdruck der sich be-
freienden Proletarierklasse. " (435)
Die Stelle der "Ausdrucks"-Beziehungcn
kann auch durch die Widerspicgclungs-
und die Wesen-Erschcinungs-Beziehung
vertreten werden.
Besondere Aktivitäten von seiten der
herrschenden Klasse zur Integration der
Beherrschten scheinen nicht notwendig
zu sein, da die freiwillige Unterwerfung
sich als blinder Effekt, durch den
"Ausdruck" der Verdinglichung im Be-
wußtsein aller Grscllschaftsmitglicdcr
von selbst herstellt Die freiwillige Un-
terwerfung unter die Staatsmacht erklärt
Lukdcs damit, daß eine ursprüngliche ge-
sellschaftliche Funktion von Recht und
Staat
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prtDtr aß Out 0 » Ms fätmlcW» afe ncMnjg* iw-* Im
Duo* urctmai. Uusdi Hmp dmutfWg» trttnrt-
'fift’IOJ)
Diese "völlige Reduktion einer Struktur
auf eine andere, die dann als absoluter
Bezugspunkt, als der Originaltext zu
mehreren Übersetzungen erscheint"
(Althusscr/Balibar 1972. 335), hat Louis
Althusser "Theorie des Ausdrucks",
"Theorie der expressiven Totalität (in der
jeder Teil eine pars totalis ist, die das
Ganze, welches ihr persönlich inne-
wohnt, unmittelbar zum Ausdruck
bringt)" (Althusscr/Balibar 1972, 17) ge-
nannt, und den Bruch mit diesem Dcnk-
modell ins Zentrum seiner Kapital-Re-
zeption gestellt. Er bekämpft diese Kon-
zeption, weil sic unpraktisch ist, weil sic
in allen Lebensüußerungen immer nur die
eine Praxis (und die eine Verdingli-
chung) wiedererkeatt, unfähig zur kon-
kreten Analyse einer konkreten Situation.
"Es gilt zu erkennen, daß es keine Praxis
im allgemeinen, sordem nur verschiede-
ne Praxisformen gibt” (Althusscr/Balibar
1972, 76). Für eine Theorie des Alltags-
bewußtscins ist diese Tatsache funda-
mental. Die philosophische Abstraktion
■Praxis” (oder “Subjekt-Objekt") erlaubt
nicht, den Vorgang abzubildcn, daß die
Menschen keineswegs in "der" Praxis,
sondern in sehr verschiedenen Praxen le-
ben, als Käufer, Klassenkämpfer, Kon-
sumenten, Kirchgänger, und diese Praxen
zunächst durch "private Weltanschauun-
gen“ (Haug 1975, 662) integrieren. Nur
bei Unterscheidung verschiedener Praxis-
formen in verschiedenen Instanzen läßt
sich ideologische Arbeit als besondere
Tätigkeit darstellen, etwa das Aufgreifen
und Umarbeiten objektiver Gedanken-
formen zu Weltanschauungen (vgl. Ne-
mitz 1977), das Hochholen und Zurück-
senden von Elementen des Alltagsbe-
wußtscins durch die Ideologen in den
verschiedenen ideologischen Instanzen
(vgl. Elfferding 1979) usw.
Althusser verbindet seine Kritik an der
egalisierenden Praxiskonzeption mit ei-
ner des genetischen Denkens, das danach
fragt, wie die verschiedenen Praxisfor-
men auseinander hervorgegangen sind
(Althusser/Balibar 1972, 84, 87). Dieses
genetische Denken ist für ihn identisch
mit dem "Ausdruckismus", demzufolge
ein zugrundeliegendes Wesen sich in
verschiedenen Erscheinungsformen her-
umtrcibt, in denen es nichts als immer
dieses selbe Wesen zu erkennen gelte.
Wir haben allerdings gesehen, daß Lu-
käcs die Zusammenhänge zwischen den
verschiedenen Praxen alles andere als
genetisch denkt, genetisch verstanden im
strengen Sinn einer Rekonstruktion des
lebensnotwendigen Entwicklungs-
zwangs, durch den aus einer bestimmten
Praxisform aufgrund ihrer inneren Wi-
dersprüche eine neue Form hervorgehen
muß. Eine solche Fragestellung liegt völ-
lig jenseits von Lukdcs’ Horizont. An die
Stelle genetischer Rekonstruktion tritt bei
ihm ein Emanationsdenken, ein Diffusi-
onsmodcll der immer verdinglichteren
Verdinglichung, die keinerlei qualitativ
neue Praxis- und Gedankenformen her-
vorbringt, sondern bloß quantitative Ab-
stufungen immer Desselben.
4. Intellektuellentätigkeit: Ideologie-
kritik ohne Subjekt
Die Frage, wie es angesichts dieses ge-
schlossenen Universums einheitlich ver-
dinglichten Bewußtseins zur Erkenntnis
und zum befreienden Handeln kommen
kann, liegt auf der Hand. Die Antwort
von Lukdcs ist durch das Ausdrucks-Mo-
dell bestimmt: Was das politische Hand-
lungsfeld betrifft, liefert dieses Modell
einen Schlüssel zu seiner "linksradika-
Icn“ Position in der Dritten Internationa-
le. Auch die kommunistische Partei ist
für ihn Ausdruck, “der organisatorische
Ausdruck des revolutionären Willens des
Proletariats”, sie stellt "den reinen Aus-
druck des Klassenkampfes" dar (Lukäcs
1968b, 107), ist “Trägerin des Massenbe-
wußtseins des Proletariats. Gewissen,
seiner geschichtlichen Sendung" (214).
Konkrete Probleme der politischen Praxis
einer Arbeiterpartei können mit diesem
Ausdrucksmodell gar nicht untersucht
werden, es kann nur gefragt werden, ob
in einer Aktion das Klassenbewußtsein
auch unverfälscht und gewissenhaft ge-
nug zum Ausdruck kommt. Das Aus-
drucksdenken verhindert das Studium der
Schwierigkeiten dci Sich-selbstVerge-
sellschaftens der Massen auf den ver-
schiedenen Handlungscbcnen und führt
zu einer "spekulativen Harmonisierung
des revolutionären Prozesses" (Kammlcr
1974,217).
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»<a »xfi • pf#»n<a»«>ta*fi • hl» fitOM hegen.* «215»
Althusser, für den die wissenschaftliche
Revolution von Marx darin besteht, daß
er "den 'ideologischen' und universalen
Begriff der Fcucrbachschen 'Praxis' durch
eine konkrete Auffassung der spezifi-
schen Unterschiede ersetzt, die es gestat-
tet, jede besondere Praxis in den spezifi-
schen Unterschieden der sozialen Struk-
tur zu situieren" (Althusser 1968. 1780,
sicht den Skandal dieses Ausdrucksden-
kens vor allem darin, daß damit auch die
revolutionäre wissenschaftliche Tätigkeit
als eine besondere Praxisform ver-
schwindet und zum bewußtlosen Aus-
druck der historischen Entwicklung wird.
Für Lukdcs ist die marxistische Theorie
"nichts als der gedankliche Ausdruck des
revolutionären Prozesses selbst” (173).
Für den Vorgang, daß diese Theorie nicht
von "der“ Wirklichkeit einfach ausge-
schwitzt wird, auch nicht von "dem" Pro-
letariat. sondern von einzelnen Intellek-
tuellen und intellektuellengruppen in
wechselndem, oft spannungsreichem
Verhältnis zur Arbeiterbewegung erar-
beitet wurde, ist Lukdcs absolut blind.
Althusser hat die Konzeption, "welche
die Erkenntnis des Realobjekts als realen
Bestandteil dieses Realobjekts denkt"
159
(Althusscr/Balibar 1972. 47).
''Empirismus" genannt, "Historizismus"
die damit oft verbundene Vorstellung,
daß es im Laufe der Geschichte zu einem
Punkt komme, an dem Geschichte “jene
besondere und außergewöhnliche Gegen-
wart produziert habe, in der die wissen-
schaftlichen Abstraktionen bereits im Zu-
stand empirischer Realitäten und die
Wissenschaft (einschließlich der wissen-
schaftlichen Begriffe) - so wie die Wahr-
heiten aus offenem Himmel - in Form
sichtbarer Erfahrungen existieren"
(Althusser/Balifcar 1972, 165). In diesem
Sinne ist Lukäcs' Theorie-Begriff sowoh}
"empiristisch" als auch "historizistisch".
Doch bei Lukäcs ist es nicht einfach "die
Wirklichkeit", die im Laufe ihrer Ge-
schichte ihre eigene Erkenntnis gleich
mitliefert, sondern er sieht "das Proleta-
riat als Subjekt des Denkens der Gesell-
schaft" (212). Allerdings zeigt der Blick
auf die Wirklichkeit der arbeitsteiligen
Produktion von Wissenschaft sehr rasch,
daß die Rede von der Arbeiterklasse als
einem Subjekt wissenschaftlicher Er-
kenntnis eine Fiktion ist. Lukäcs versucht
diesen Widerspruch zwischen Theorie
und Wirklichkeit mit seiner berühmt ge-
wordenen Differenzierung von
"empirischem" (bzw. “psychologi-
schem") und "zugerechnetem Klassen-
bewußtsein" zu lösen. Während, das em-
pirische Klassenbewußtsein betrachtet,
"das Bewußtsein des Proletariats der
Verdinglichung vorläufig noch erlegen
ist" (252). sei cs Subjekt der Erkenntnis,
was sein "zugerechneles Klassenbewußt-
sein" betrifft Im Rückgriff auf den Max
Wcbcrschen "ldealtypus” soll
"zugerechnetes Klassenbewußtsein" die
"rationell angemessene Reaktion _.. die
... einer bestimmten typischen Lage im
Produktionsprozeß zugerechnet wird"
(223f.), bezeichnen.
•Wtm <3M BmflöMi ml Sat Gau» Om Gcotoftfi »W.
—o-' )»»• tortar CTWtaaigan uw. «tan. <*• <*• MmcMa
n Mw MflfnrMn lat»n*B?a IK« mVa*t nm Da da» Ugt.
d» i*h H fWB.1 »jsMrOao «ireuan »n h t*zij bjI Ojs
inrM«r* HaxMi m ml 6ar> - dmrni nmw gonMoi • kt
t» Om vmn OMeferhaf lokmw m «tusai trag Wr. a*
GadMan ur>. «•>. da rra oSiatdnn laga ngrrauan ml* (TS)
Gerade die äußerste Verdinglichung, in
der der Arbeiter lebt, sei es, die ihn zur
Erkenntnis des Gesamtzusammenhangs,
der "Totalität" befähige:
TM ra* «tmtta NagMü n Ou* Om HfUn « Dm ««
daot#Wrn»MJ«EiKnarirgiWmOa«Var«H(äKi>3..*y>3arn
• a6an «eh* - da fw«. w Om SJn*ax M
gaf>Mn i«wa« Wata (t*non datfftiKMn ««m «am:
osn
Zum Umschlag des vorläufig nur zuge-
rechnctcn Klassenbewußtseins ins empi-
rische komme cs in der Krise. Wenn es
bei Lukäcs etwa heißt, daß "die gegen-
wärtige Krise das richtige Handeln aus
dem Gang der Geschichte ablesbar
macht” (254), daß in der Krise die
ist hier die von Althusscr kritisierte
"historizistischc" Vorstellung vom Mo-
ment der Offenbarung am Werk, in dem
das verborgene Wesen unmittelbar in die
Erscheinung tritt, und die Wahrheiten ei-
nem zuflirgen wie die gebratenen Tau-
ben im Schlaraffenland.
Lukäcs weiß aus eigener politischer Er-
fahrung, daß Krise nicht automatisch
Klassenbewußtsein bedeutet. Er versucht
den Widerspruch zwischen
"historizistischem" Offenbaningsdcnkcn
und Revolutionserfahrungen auf folgen-
de Weise zu lösen:
'Am 6m Kn» dB Kjptakvru Um nm Oe* Biwlan 6u tVMeO-
KM (Mn /usaag »gm SWnj» «w nett 0» dL DM«
<fe Kikt itrrawt. «Mal ni Mn kAgr&f**» nric*. mlWai
0* Saaten, to n&h r*9t \x*nUf*r\ LMMn n«h ichiadAhen
Uimon 0 * Uiffiiuroiaimffl 6m vImM «n IWI
»PMIaM **»*«■] tnfetf 4» rCtangfeG»-
«*«• n d* hw» gu ca» ptMoiM m «. im. an wt is
infl. UM Um u* Nn mr g «gaMMr 6m Wal. »Opi auh
X* uh setef m IOum ■MS»\ dh 6a itimitO* ttXmnOfet
w* KUu«»n»M nm Wokn err ntiarun KBs-
urM». 0 uMttnetan.*<K 1 ).
In solchen und ähnlichen Formulierun-
gen - "das Proletariat kann sich seinem
Beruf nicht entziehen. Es handelt sich
nur darum, wieviel cs npeh zu leiden hat,
bis cs zur ideologischen Reife, zur richti-
gen Erkenntnis seiner Klassenlagc, zum
Klassenbewußtsein gelangt’ (252) -
spielt die in der Dritten Internationale
damals noch ungebrochene Hoffnung auf
die Weltrevolution (die erst Jahre später
mit der von Varga ausgearbeiteten Theo-
rie von der "relativen Stabilisierung des
Kapitalismus" zu Grabe getragen wurde)
die entscheidende Rolle.
Die konkreten, praktischen Probleme der
Entwicklung von Klassenbewußtsein fin-
den in "Geschichte und Klassenbewußt-
sein” auf keiner der 350 Seiten irgend-
eine Erwähnung. Das Proletariat er-
scheint hier in rein erkenntnistheoreti-
scher Funktion: Ausgehend von der
Frage nach der Überwindung der kon-
templativen, verdinglichten Gegenüber-
stellung von Subjekt und Objekt. Denken
und Sein. Geist und Materie usw., fun-
giert hier das Proletariat als die Klasse,
von deren Standpunkt aus das Begreifen
des gesellschaftlichen Zusammenhangs,
der "Totalität", in kommunistischer Per-
spektive möglich ist. Der Bruch zwi-
schen Marx und Hegel wird auf diesen
Standpunktwcchsel reduziert. Hegel war
es unmöglich, "das identische Subjekt-
Objekt in der Geschichte selbst aufzufin-
den und aufzuzeigen" (329), er muß des-
halb "in die kontemplative Dualität von
Subjekt und Objekt" (330) zurilckfallen,
Marx entdeckt "das methodisch gefor-
derte Subjekt-Objekt" (328) im Proleta-
riat, für Lukäcs ist deshalb die Aufhe-
bung der verdinglichten Subjekt-Objekt-
Dualitäi im Proletariat gegeben. Er ver-
wandelt die wissenschaftstheoretische
die Kritik der politischen Ökonomie"
(vgl. Haug 1972) zunächst in eine cr-
kenrtnistheoretische: statt wisscnschafts-
ihcorclisch zu analysieren, wie Mur*
seine Erkenntnisse produziert hat und
worin jeweils ihr Wissenschaftscharakter
besteht, versucht er erkenntnisthcoretisch
mit der Frage nach der "Entstehung der
Erkennbarkeit eines Gegenstandes" (185)
"von außen die Bedingungen der Mög-
lichkeit a priori zu reflektieren, die die
Möglichkeit der Erkenntnis garantieren
sollen" (Althusscr/Balibar 1972, 71). Die
erkenntnistheoretische Bestimmung des
Proletariats als Garanten eines nicht-kon-
templativen, nichtverdinglichten Den-
kens verwandelt er dann in eine politi-
sche: das Proletariat als das behauptete
wirkliche Subjekt der Erkenntnis, wenn
auch nur im Modus der "objektiven Mög-
lichkeit" (223), mit 'zugeschriebenem
Klastenbcwußtsein“.
Im Dunkeln bleibt, wer da zuschreibt: der
Intellektuelle. Der Vorgang, daß ein Phi-
losoph großbürgerlicher Herkunft sich
den revolutionären Arbeitern anschlicßt
und seine Erfahiungcn unter Hinzuzie-
hung seiner philosophischen Kenntnisse
theoretisch verarbeitet, das Produkt die-
ser Arbeit, das Buch "Geschichte und
Klassenbewußtscin", wieder in die politi-
schen Auseinandersetzungen cinspcist,
die Ablehnung auf die dieses Buch bei
den eigenen, die Zustimmung, auf die cs
bei den anderen stößt • dieser Vorgang
ist in Lukäcs Konzeption nicht denkbar.
Revolutionäre Theorie, die mit dem ver-
dinglichten Bewußtsein bricht, ist, ganz
in wisscnssoziologischer Manier (siehe
Kapitel 7 in diesem Band; gemeint ist der
Band, dem wir diesen Aufsatz entnom-
men haben, Anm. d. Hg.). Ausdruck ei-
ner Klasse, der Theoretiker ein Lautspre-
cher der Revolution. Nicht er spricht: es
spricht durch ihn hindurch. Er leiht dem
Denken des Proletariats nur seine Stim-
me. Nicht er drückt etwas aus: die Ge-
schichte drückt sich durch ihn hindurch
aus, so wie die Gottheit im Orakel aus
dem Mund des Priesters spricht. Dieses
Nicht-Denken der theoretischen Praxis
ist von unheimlicher Zweideutigkeit: In-
dem der Intellektuelle bescheiden hinter
dem Gang der Geschichte zurücktritt,
wird seine Stimme zum Organ einer un-
umstößlichen Wahrheit.
Dieses Schweigen Uber die Funktion der
Intellektuellen und ihre Praxis wird noch
vernehmbarer, wenn wir mit Lukäcs den
Gedanken vom Proletariat als dem Ga-
ranten des nicht-kontemplativen Denkens
zu Ende verfolgen: Das Denken der Tota-
lität. das Begreifen des gesellschaftlichen
Zusammenhangs ist für ihn nichts ande-
res als die Revolution selber.
■0« SMrfcrt 6» t «Mn M Wa» El «er e«M» W &
P«“**» Oh Om Ertxra* «Xrrxj MM wram*
eh*. Ytofcvfeiuv} «m hrw EAKrt-rt * 053)
“Einheit des Gesamtprozesses ... in Frage nach der "Bedeutung von Stand-
handgreifliche Nähe genickt" sei (250), punkt und sozialistischer Perspektive für
160
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BcK da W« <*> ErtsdvfcJnj (743)
Imlciu die Frage, wie man dafüi sorgen
könnte, daß die Theorie von den Massen
ergriffen wird, wie, um mit Gramsci zu
sprechen, die Arbeitenden sich als
"kollektiver Intellektueller” organisieren
können, nicht gestellt, sondern statt des-
sen die unumstöäliche Notwendigkeit
dieses Prozesses behauptet wird, wird
das Verhältnis von Theorie und Praxis
einseitig zur Theorie hin aufgelöst: das
Begreifen des Ganzen ist dann schon
seine Revolutionierung. Das Denken des
Warenfctischs scheint dann die sachliche
Gewalt, die er Über die Menschen hat.
nnfzulösen.
Aber natürlich ist Lukdcs’ Theorie eine
bestimmte theoretische Praxis eines be-
stimmten Intellektuellen, auch wenn sie
dies dementiert. Sie kann als Vorschlag
für revolutionäre theoretische Praxis ge-
lesen werden, für eine Praxis mit der Ei-
gentümlichkeit. dnß sie ihren Namen
nicht nennen darf. Lukäcs’ Ausgangs-
frage war wie kann die Ohmacht der
Theorie gegenüber der Wirklichkeit be-
seitigt werden, das kontemplative inter-
pretieren, ohne etwas zu verändern. In
der Marxschen Theorie findet er, was er
sucht: die Theorie, die anscheinend zu-
gleich Praxis ist. das Subjekt-Objekt-Pro-
letariat, das. die Wirklichkeit erkennend,
sich selbst erkennt. Aber es ist eine be-
sondere Lesart des "Kapital", eine Me-
thode. die Marx mit den Worten kritisiert
hat:
*El St n <Mr TM •*( k*ftc. Arei AniVs« 0*n rtahtn Kam dai <»•
H***r*o Dt fndax Ms tu Mn (MOTtfgiri
•Mctw U<*ntv*MtnR»- »1» «f-iTTOlm fomco m *ff»*
Uh Du «n« w 4 * UrO) rrffenfeasch« uU nah« «iinicM»
ctx Utro» * (UJW 23. 3M)
Die Ausdrucks-Kategorie organisiert, in
der Form der Selbstverleugnung, eine
theoretische Tätigkeit, die man
"identifizierenden Reduktionismus" nen-
nen könnte. Statt die "verhimmelten
Formen" aus den wirklichen Lebensver-
hältnissen, von unten nach oben, zu ent-
wickeln, werden umgekehrt die religiö-
sen. plilosophischcn. literarischen usw.
’Ncbclbildungen" auf den immerglcichen
"irdischen Kern" - die Verdinglichung,
den Warenfetisch - zurückgelührt. Das
"Kapital" wird gewissermaßen rückwärts
gelesen. Kaschiert wird dies dadurch, daß
formal von "unten" nach "oben" fortge-
schritten wird, aber, wie wir gezeigt ha-
ben. ohne daß die Notwendigkeit der
neuen Form tatsächlich rekonstruiert
wird. Daß dies Neue aus dem Alten her-
vorgegangen ist, dafür reicht der reduk-
tionistische Nachweis einer Strukturana-
logie. Es ist dieser Reduktionismus, den
Lukdcs für die Theorie hält, die zugleich
Revolution ist, indem sie die
"Ewigkeitshüllc d:r Kategorien" und
damit zugleich ihre
"Dinghaftigkeitshülle" (187) zerreißt.
Wir schlagen vor, dieses reduktionisti-
sche Herangehen an die Phänomene des
Ideologischen, das annimmt, daß die
Stabilität des Kapitalismus in seinem
Nicht-Durchschautwerdcn, die Revolu-
tion also im "Entschleiern" besteht, als
"reduktionistische Ideologiekritik" zu be-
zeichnen.
5. Ausblick auf die Ideologiekritik der
"Frankfurter Schule"
Im Zentrum der Kritischen Theorie steht
die Kritik von Ideologie. Mag die Sensi-
bilität ihrer Analysen - organisiert durch
"die geheimeren Hoffnungen" auf eine
"Resuncktion der gefallenen Natur"
(Habermas 1968, 54) - auch zuweilen in
Empfindungslosigkeit gegenüber den
Unterschieden, auf die es ankommt, Um-
schlagen, so war sic doch vor der Studen-
tenbewegung die umlberschreitbare Mög-
lichkeit, im Rahmen der postfaschisti-
schcn westdeutschen bürgerlichen Ge-
sellschaft ohne eins soziale Bewegung
den Widerstand gegen diese Gesellschaft
zu denken. Unbeirrbar lehrt sie, die For-
men der Herrschaft auch noch im Entle-
gensten zu entziffern, und ist bis heute
die wirksamste Form kritischer Denk-
und Kunstpraxis hierzulande. Dem
Reichtum vor allem ihrer ästhetischen
und philosophischen Analysen können
wir hier nicht gerecht werden, nur den
Punkt benennen, an dem die Kritik an
Lukdcs auch - und erst recht - sie treffen
muß.
Der Unterschied ist unübersehbar. Das
Versagen der Arbeiterparteien vor dem
deutschen Faschismus, dem Stalinismus,
die Massenintegraticn durch Konsum im
amerikanischen Exil und im Deutschland
der Nachkriegszeit waren ihr Beweis für
das Abdanken der Arbeiterklasse als re-
volutionärem Subjekt. (Wenn man sich
die spekulative Form der Huffnung des
frühen Lukdcs auf das Proletariat verge-
genwärtigt. nimmt dieser Umschlag in
Enttäuschung nicht wunder; hier wäre zu
fragen, wie Lukdcs unter extrem wech-
selnden politischen Bedingungen sein
Engagement hat stabilisieren können.)
Auf die erheblichen Unterschiede in äs-
thetischen und philosophischen Fragen,
vor allem zum späteren Lukdcs, kann
hier nicht cingcgangcn werden (vgl.
Adorno 1961). Jedoch kann unsere Kritik
an Lukdcs’ Methode auch Gültigkeit für
die Kritische Theorie beanspruchen.
Auch für sie ist Ideologie "notwendig fal-
sches Bewußtsein" (vgl. Institut für So-
zialforschung 1956; Schnädelbach 1969).
Sie denkt den 7us«mmenhang sozialer
Formen als Ausdracksbczichung, die
Analyse ist rcduktbnistisch. Sie kennt
den "historizistischen” Moment absoluter
Wahrheit, wo Wesen und Erscheinung
ineinanderfallen und Wissenschaft über-
flüssig wird. Sic verleugnet jedoch nie
die Tatsache, daß sie sich intellektueller
Anstrengung verdankt. Der Intellektuelle
tritt aus der Anonymität des Schweigens
über die theoretische Praxis heraus und
nimmt die leere Stelle des Proletariats
ein, wo er freilich auch bei Lukdcs längst
gewesen ist. Zur Vorstellung von Ideolo-
gie als blind sich objektivierendem Geist
tritt, unter dem Eindruck faschistischer
Propaganda und kapitalistischer Kultur-
industrie, eine Theorie der Manipulation,
ohne daß das Verhältnis zwischen beiden
theoretisch geklärt würde.
Den Bruch mit dem Modell "expressiver
Totalitär" vollzieht Habermas (vgl. Ha-
bermas 1968). Er hält an der Frage fest,
wie Herrschaft durch freiwillige Zustim-
mung stabilisiert wird, denkt jedoch die
radikale Differenz der gesellschaftlichen
Instanzen. In unersättlicher, oft gewalttä-
tiger Einverleibung der jeweils neuesten
sozialwissenschaftlichen Theorien und
der philosophischen Tradition arbeitet er
ein Gesellschaftsmodell aus, das statt von
den klassischen Kategorien Produktiv-
kräfte und Produktionsverhältnisse von
den Instanzen Arbeit und Interaktion
ausgeht (vgl. Tuschling 1979). Das wirft
tausend Probleme auf, die hier nicht dis-
kutiert werden können. In unserem Zu-
sammenhang ist wichtig, daß dies mit ei-
ner Abkehr vom Basis-Übcrbau-Model!
einhergeht. infolge der
■Dauerregulierung des Wirtschaftspro-
zesses durch staatliche Intervention"
"stehen Gesellschaft und Staat nicht län-
ger in einem Verhältnis, das die Mar-
xsche Theorie als das von Basis und
Überbau bestimmt hatte." (Habermas
1968, 75). Da Habermas sich das Ver-
hältnis von Basis und Überbau nur als
Ausdrucksverhältnis vorstellcn kann,
vollzieht er den Bruch mit der
"expressiven Totaliiat" zugleich als
Bruch mit der Basis-Überbau-Konzcp-
tion. Dabei hätte es nie einen Staat gege-
ben. wenn die Basis sich jemals
"sclbstrcgulierend” (tbd.) hätte erhalten
können. Interessant ist auf jeden Fall, daß
Habermas’ Abbildung von Gesellschaft
ab gegliedertem Ganzen von beeindruk-
kender Leistungsfähigkeit in der Erzeu-
gung ideologietheoretisch relevanter Fra-
gestellungen ist. Ein: Kritik an seinen
Erklärungen wäre nur als konkurrierende
Interpretation der vor ihm herausgestell-
ten Phänomene fruchtbar. Seine Leitvor-
161
Stellung allerdings, der "hcrrschaftsfrcic
Diskurs" kann auf dem Boden des in die-
sem Band Entwickelten thcorctisicrt
werden als Verewigung der Perspektive
ideologischer Vergesellschaftung: durch
Werte, deren Inhalt zwar zur Disposition
gestellt wird, nicht aber ihre verhimmelte
Form.
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KkusKMautttah* Oj3i orfaai» Anja« Ok SadanaN k
Siuan Hall
Ideologie und Ökonomie -
Marxismus ohne Gewähr
Vorbemerkung der Herausgeber:
Der folgende Text diskutiert folgende
Passage aus dem zweiten Abschnitt des
Ersten Bandes des Kapitals :
"Die Konsumtion der Arbeitskraft, gleich
der Konsumtion jeder andren Ware, voll-
zieht sich außerhalb des Marktes oder
Zirkulatioassphäre. Diese geräusch-
volle, auf der Oberfläche hausende und
aller Augen zugängliche Sphäre verlas-
sen wir daher, zusammen mit Geldbesit-
zer und Aibcitskraftbcsitzcr, um beiden
nachzufolgen in die verborgene Stätte
der Produktion, (...). Das Geheimnis der
Plusmachetei muß sich endlich enthül-
len." In der "Sphäre der Zirkulation oder
des Wanntauschs, innerhalb derer
Schranken der Kauf und Verkauf der Ar-
beitskraft sich bewegt.“ vollbringen alle,
"weil so jeder nur fllr sich und keiner für
den andren kehrt. infolge einer
prästabilierten Harmonie der Dinge (...),
nur das Werk ihres wffhselwillgpn Vor-
teils. des Gemeinnutzens, des Gesamtin-
teresses. Beim Scheiden von dieser Sphä-
re der einfachen Zirkulation (...) verwan-
delt sich (...) die Physiognomie unsrer
dramatis personis. Der ehemalige Geld-
besitzer schreitet voran als Kapitalist,
der Arbeitskraftbesitzer folgt ihm nach
als sein Arbeiter, der eine bedeutungsvoll
schmunzelnd und geschäftseifrig, der an-
dere scheu widerstrebsam, vie jemand
der seine eigne Haut zu Markt getragen
und nun nichts andres zu erwarten hat als
die - Gerberei." (MEW 23. 189 - 191 -
unsere Hen'orh. Zur Frage des Verhältnis
von "Oberfläche“ und 'Verborgenem'
(Wesen und Erscheinung'! bei Marx
siche außerdem: Louis Althusser / Eti-
enne Balibar, Das Kapital lesen, Reinbek
bei Hamburg. 1972, 18 - 32, 42 - 55].
Stuart Hall stellt sich nun folgende Frage,
ist die Muktideologie, die die Wider-
sprüche des Produktionsprozesses igno-
riert. eine ’Verzeming“ der Wirklichkeit
bzw. - wie Lukäcs sagt - "falsches Be-
wußtsein"? .
[-1
3. "Falsches Bewußtsein" oder Pluralität
der ökonomischen Diskurse?
Nehmen wir zum Beispiel das äußerst
heikle Gebiet der "Verzerrungen" der
Ideologie und die Frage des "falschen
Bewußtseins". [...]. Der Ausdruck
"Verzerrungen" wirft unmittelbar die
Frage auf, weshalb Leute, die ihr Ver-
hältnis zu ihren Existenzbedingungen in
den Kategorien einer verzerrten Ideologie
leben, nicht erkennen können, daß sic
verzerrt ist. während wir es mit richtig
gebildeten Begriffen können. Sind die
"Ver/crrungcn" einfach Unwahrheiten?
Sind es absichtlich geförderte Fälschun-
gen? Wenn ja. durch wen? Funktioniert
Ideologie wirklich wie bewußte Klassen-
propaganda? (...) Offensichtlich sind die
Ausdrücke, so wie sie sind, hilflos. Sic
lassen sowohl die Massen als auch die
Kapitalisten wie erklärte Deppen aussc-
hen. Sie ziehen zudem eine merkwürdige
Sichtweise der Bildung alternativer Be-
wußtseinsformen nach sich. Man muß
annehmen, daß diese dann entstehen,
wenn den Leuten die Schuppen von den
Augen fallen, oder wenn sie, wie aus ei-
nem Traum erwacht, das Licht erblicken,
das durch die Transparenz der Dinge
unmittelbar auf ihre essentielle Wahrheit,
deren verborgene strukturelle Prozesse
strahlt. Dies ist eine Darstellung der
Entwicklung des Arbciicrklosscnbcwußl-
seins, die auf dem recht wunderlichen
Modell des Heiligen Paulus und der
Straße von Damaskus beruht.
[...] ein ideologischer Vorgang (...)
"verschleiert, verbirgt, versteckt" - die
Ausdrücke kommen alle im Text vor -
ein anderes Set von Verhältnissen, die
nicht an der Oberfläche erscheinen, son-
dern die “in der verborgnen Stätte der
Produktion" (MEW 23. 189) versteckt
sind (dort, wo Besitz und Eigentum hau-
sen. wo die Ausbeutung der Arbeitskraft
und die Enicignung vcii Mehrwert vor
sich gehen). Die ideologischen Katego-
rien 'verbergen'' diese daruntcrlicgcndc
Realität (...1.
Wie steht cs nun mit den "Verzerrungen"
der bürgerlichen Politischen Ökonomie
als einer Ideologie? Eire Ixsart ist. daß
sie, da Marx die bürgerliche Politische
Ökonomie "verzerrt” nennt, "falsch” sein
muß. Diejenigen, die ihr Verhältnis zum
ökonomischen Leben ausschließlich in
deren Denk- und Erfahrungskategorien
leben, haben somit per definitionem ein
"falsches Bewußtsein". Hier müssen wir
wiederum auf der Hut sein vor zu schnel-
len Schlußfolgerungen. Zum einen macht
Marx einen wichtigen Unterschied zwi-
schen "vulgären" Versionen der Politi-
schen Ökonomie und fortgeschritteren
Versbnen wie derjenigen von Ricardo,
von der er deutlich sagt, daß sie
"wissenschaftlichen Wen" habe. Was
kann er aber nun in diesem Kontext
"falsch" und "verzerrt" meinen?
Er kann nicht meinen, daß der Markt
nicht existiere. Der ist in der Tat allzu
wirklich. In bestimmter Hinsicht ist er
gerade das Lebcnsclexier des Kapitalis-
mus. Ohne ihn hätte der Kapitalismus
niemals den Rahmen des Feudalismus
gesprengt; und ohne seine unablässige
Kontinuität würde die Zirkulation des
162
Kapitals zu einem plötzlichen und kata-
strophalen Stillstand kommen. Ich denke,
diese Worte machen nur Sinn, wenn wir
an eine Darstellung des aus einer Wech-
selbeziehung zahlreicher Momente be-
stehenden ökonomischen Kreislaufes
denken, die vom Standpunkt eines einzi-
gen dieser Momente erfolgt.
Wenn wir in unserer Erklärung mir ein
Moment liervorlieben und nicht das dif-
ferenzierte Ganze oder "Ensemble' be-
rücksichtigen. dessen Teil es ist, oder
wenn wir. um den ganzen Prozeß zu er-
klären, Dcnkkatcgoricn verwenden, die
nur einen dieser Momente zugehören,
dann riskieren wir eine "einseitige" Dar-
stellung, wie es Marx (im Anschluß an
Hegel) nennen würde.
Einseitige Erklärungen sind immer eine
Verzerrung. Nicht im Sinne einer Lüge
über das System, aber in dem Sinne, daß
eine "Halb-Wahrheit” nicht die ganze
Wahrheit von irgend etwas sein Kann.
Mit solchen Verstellungen wird man
immer nur einen Teil des Ganzen repräs-
entieren. Man wird damit eine Erklärung
produzieren, die nur teilweise adäquat -
und in diesem Sinne "falsch“ - ist. Wenn
man ferner nur Marktkalegorien und -
konzepte verwendet, um den kapitalisti-
schen Kreislauf als ganzen zu verstehen,
dann kann man viele seiner Aspekte
buchstäblich nicht sehen. In diesem
Sinne verdunkeln und mystifizieren die
Kategorien des Marktes unser Vcrsänd-
nis des kapitalistischen Prozesses: das
heißt, sie befähigen uns nicht dazu, Fra-
gen über sie zu sehen und zu forrr.ulie-
ren, denn sic machen andere Aspekte un-
sichtbar.
Hat die Arbeiterin, die ihr Verhältnis
/.um Kreislauf der kapitalistischen Pro
duktion ausschließlich in den Kategorien
eines "gerechten Preises" oder eines
"gerechten Lohnes" lebt, ein "falsches
Bewußtsein"? Ja, wenn wir damit mei-
nen, das cs in ihrer Lage etwas gibt, das
sie mit den von ihr verwendeten Kaiego-
rien nicht begreifen kann; etwas von dem
Prozeß als ganzem, das systematisch ver-
borgen bleibt, weil die verfügbaren Be-
griffe ihr nur den Zugriff zu einem winer
vielen Momente erlauben. Nein, wenn
wir damit meinen, das sie sich vollkom-
men darüber täuscht, was im Kapitalis-
mus vor sich geht.
Die Falschheit entsteht daher nicht aus
der Tatsache, daß der Markt eine Iliasion.
ein Trick, eine Taschcnspiclcrci wäre,
sondern sie besteht nur im Sinne einer
inadäquaten Erklärung des Prozesses.
Dabei wird ferner an die Stelle des gan-
zen ein Teil des Prozesses gesetzt - ein
Verfahren, das in der Linguistik als
"Metonymie” und in Jer Anthropologie.
Psychoanalyse und (in einer speziellen
Bedeutung) in Marx' Werk als Fetischis-
mus bekamt ist. Die anifcren dabei
"verlorengegangenen" Momente des
Kreislaufs jedoch sind unbewußt, nicht
im Freudschen Sinne als vom Bewußt-
sein verdrängte, sondern in dem Sinne,
daß sie unsichtbar sind bei den gegebe-
nen Begriffen und Kategorien, die wir
verwenden.
Dies ist auch hilfreich, um die sonst ex-
trem verwirrende Terminologie im Kupl-
tal zu erklären, soweit sie das betrifft,
was "an der Oberfläche erscheint“ (von
dem manchmal gesagt wird, ei sei "bloße
Erscheinung", das heißt nicht wichtig,
nicht die wirkliche Sache), und was
"darunter verborgen" und in die Struktur
eingebettet ist. weil es nicht auf der
Oberfläche liegt. Entscheidend ist je-
doch, daß - wie das Beispiel
Tausch/Produktion deutlich macht -
"Oberfläche" und "Erscheinung" nicht
falsch oder illusorisch im gewöhnlichen
wortsinn bedeutet. Der Markt ist nicht
mehr oder weniger "wirklich” als andere
Aspekte, zum Beispiel die Produktion.
Die Produktion ist in Marx' Terminologie
nur das. womit wir die Krcislaufanalysc
beginnen sollten: "... der Akt. worin der
ganze Prozeß sich wieder verläuft.”
(Grundrisse. 15). Aber die Produktion ist
vom Kreislauf nicht unabhängig, denn
die gemachten Profite und die auf dem
Markt gekaufte Arbeitskraft müssen in
die Produktion zurilckfließen. "Wirklich"
drückt deshalb nur einen gewissen theo-
retischen Primat aus. den di: marxisti-
sche Analyse der Produktion einräumt. In
jedem anderen Sinn ist der Austausch auf
dem Markt ein ebenso realer, materieller
Vorgang und absolut "wirkliches" Erfor-
dernis für das System - wie die anderen
Teile auch: alle sind "Momente des Akts"
(Grundrisse, 15).
Auch die Ausdrücke "Erscheinung" und
"Oberfläche" selbst stellen ein Problem
dar. Erscheinungen können etwas konno-
tiercn, das "falsch" ist. Oberflächenfor-
men scheinen nicht so tief zu gehen wie
"Tiefenstrukturen". Diese sprachlichen
Konnotationcn haben den unglücklichen
Effekt, daß sie uns die verschiedenen
Momente in der Form mehr/weniger real,
mehr/weniger wichtig anordnen lassen.
Aber von einem anderen Standpunkt aus
ist das. was an der Oberfläche ist, was
fortwährend erscheint, gerade dasjenige,
was wir fonwährend sehen, dem wir täg-
lich begegnen, was wir ganz selbstver-
ständlich als die offensichtliche und ma-
nifeste Form des Prozesses annchmcn. Es
ist dann nicht überraschend, daß wir
spontan das kapitalistische System den-
ken im Sinne der Teilslücke, die uns
ständig bes:häftigen und die so manifest
ihre Präsenz bekunden. Was kann die
Abpressung von "Mehrarbeit" als ein Be-
griff ausrichtcn gegen so handfeste Tat-
sachen wie die Lohntüte, die Ersparnisse
auf der Bank, die Groschen im Automa-
ten. das Geld in der Ladcnkassc? (...).
In einer Welt, die vom Geldverkehr
durchtränkt und allerorts durch Geld
vermittelt ist. ist die Erfahrung des
"Marktes" für jeden die unmittelbare, all-
tägliche und universelle Erfahrung des
ökonomischen Systems. Es ist deshalb
Dicht überraschend, daß wir den Markt
für ganz selbstverständlich nehmen, nicht
fragen, was ihn ermöglicht, worauf er
gründet oder was er voraussetzt. Es sollte
uns nicht wundem, wenn die Massen der
arbeitenden Menschen rächt über die Be-
griffe verfügen, um an einer anderen
Stelle des Prozesses einen Einschnitt zu
machen, eine andere Anordnung von
Fragen zu entwerfen, und an die Oberflä-
che zu bringen oder zu enthüllen, was die
überwältigende Faktizität des Marktes
fortwährend unsichtbar macht, f...] wir
[haben! aus diesen fundamentalen Kate-
gorien [...] alltägliche Wörter, Redewen-
dungen und idiomatische Ausdrücke im
praktischen Bewußtsein gefunden [...].
Auf diese Weise sehen wir (...) im Kon-
kurrieren um Marktvorteile die
"Repräsentation" von etwas Natürlichem,
Normalem und Universalem in der
menschlichen Natur selbst.
Ich möchte nun versuchen, einige
Schlüsse aus der "Rc-LcktUrc" der Pas-
sage von Marx zu ziehen, die ich vor
dem Hintergrund der neueren Kritiken
und der vorgebrachten neuen Theorien
angeboten habe.
Die Analyse wird nicht mehr durch die
"Unterscheidung" zwischen dem
"Wirklichen" und dem "Falschen" orga-
nisiert. Die verdunkelnden und mystifi-
zierenden Effekte einer Ideologie werden
nicht länger als das Produkt einer Täu-
schung oder einer magischen Illusion be-
trachtet, noch werden sie einfach einem
falschen Bewußtsein zugeschrieben, in
das unsere armen, umnachteten, theorie-
losen Proletarier auf ewig eingekerkert
wären. Die Verhältnisse, in denen die
Leute leben, sind immer die "wirklichen
Verhältnisse", und die Kategorien und
Begriffe, die sie verwenden, helfen ih-
nen. diese gedanklich zu erfassen und zu
artikulieren, (...). Auch haben wir die
Untcischcidung "wahr* und "falsch"
verworfen und durch andere, genauere
Ausdrücke wie "partiell', "adäquat" oder
"einseitig" und "in seiner differenzierten
Totalität" ersetzt. Zu sagen, daß ein theo-
retischer Diskurs uns ein konkretes Ver-
hältnis im Denken erfassen läßt, bedeu-
tet, daß der Diskurs uns einen vollständi-
geren Begriff liefert vor, den verschiede-
nen Beziehungen, aus denen dieses Ver-
hältnis sich zusammensetzt, und von den
vielfältigen Bestimmungen, die dessen
Existenzbedingungen bilden. Das bedeu-
163
lei, daß unser Zugriff konkret und voll-
ständig ist, statt eine dünne, einseitige
Abstraktion zu sein. Einseitige Erklärun-
gen. die partielle, den Tcil-für's-Ganze
nehmende Erklämngstypen sind, die le-
diglich erlauben, ein Element (den Markt
z.B.) zu abstrahieren und zu erklären,
sind genau auf dieser Grundlage
inadäquat: und nur insofern können sie
als "falsch" betrachtet werden. Obgleich
der Ausdruck strenggenomen irreführend
ist, wenn wir dabei so etwas wie eine
einfach Alles-oder-Nichts-Unterschci-
dung zwischen dem Wahren und dem
Falschen oder zwischen Ideologie und
Wissenschaft im Kopf haben. [. .]
Bahamas
Zirkulär der Gruppe K. ersehen! alle 2-3 Monate mit Texten und Analyien ui
Oeulsdland und der marautitchen Oitkutslon AninnUonal. antikapilai«»U»ch.
marantisch.
Ni. 12 (VMnier 1993/94)
Proletarischer Nationalismus
- "Antikapitalismus" von rechts
Schwerpunkt. Oie Schwiengkeiten der Linken mit der tonalen Frage und ihrem
Verhaitm zur Nation. Rebeltinher ■AnUkaoitali»mu»"und Antuemititmu»
■ Theeen »um Antitemrtitmu* • Rot-braun« Allianz io RuOland • liok«r Antat»
nimu* • Bedeutung der sozial«« Frage in GroOdeuuehand * Arbeiterbewegung
und Nation * linke und Nazil - Kntik an POS. 8WK. Arbeiterpotitk und
Autonomen * Mit diesem Volk?
Außerdem * Revisionismus: Oie Neue Wache * Trauer um Heitmann • Zw
Diskussen um Rassismus und Anürassiimus * Tucke zum Zweiten; 0>e
Getchlech [erfrage
SO Seiten
Nocn eirsnen Bahamas ii - Kjpnaiiuitaio Knt« • mua/iich* Intervention. Somata.
Jugouawen. Oeoaite um Cnnwofo Turo.t Ratwimui fl*u*.*mp Um BAHAMAS D
Emdprei DU 6 (mir VoraoMaitoBneftnar»*«;
A tan ne (re/it per 0Mr««twig Du (8 rur *»»•'» die, Nummern cm vo rau» oOeram tawm
BmugiemtcMiQong
Ml
HZ. Ol
M»-* MMM«* cf I <!«»" Oil r»»tu lt»en n i«. wi »u« K^^I
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te nach dem Mord an Wolf-
gang Grams; Verfolgung von
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164
Desch
Vom Protest zum Wider-
stand - aber wie?
Vorbemerkung der Hg.:
Der folgende Text irt ein für diese Veröf-
fentlichung - in den Teilen 2. und 4 leicht
sowie in den Teilen 6 bis 8. stärker -
überarbeiteter Auszug aus einem länge-
ren Papier zur Frage des Humanismus
von Anfang '92. Die neue RAF-Politik
spielt deshalb in dem Text keine Rolle.
Er geht zurück auf einen humanismus-
kritischen Artikel d;s Verfassers in der
Berliner PROWO und einer - den Huma-
nismus verteidigenden Antwort - von Ali
Jansen. Bernhard Rosenkötter und Michi
Dietiker in der Frankfurter SWING. Da
sich die drei genannten Autoren in ihrer
Antwort auf Horkheimer bezogen, ver-
sucht der Verfasser des vorliegenden
Textes, der sich seinerseits auf den An-
satz des französischen, kommunistischen
Philosophen Althusser bezieht, nachzu-
weisen, daß auf der iheoretischen Grund-
lage der Frankfurter Schule keine revolu-
tionäre Politik möglich ist. Der Verfasser
bezeichnet das folgende Zitat aus dem
Historischen Wörterbuch der Philoso-
phie als - wenn auch selbst im Rahmen
der humanistischen Ideologie formulierte
- "prägnante Zusammenfassung der Posi-
tionen der Frankfurter Schule”:
"Die Ambiguität gesellschaftlichen Fort-
schritts und nicht in erster Linie die kapi-
talistischen Umstände stehen einer wirk-
lichen Humanisierung entgegen (...). Je-
des provozierende Moment in der Frage
nach der Revolution entfällt in den späte-
ren Schriften; die Kritische Theorie hält
an den Idealen der bürgerlichen Gesell-
schaft fest, die (und da sie), obgleich von
ihr desavouiert, (noch) nicht in der mar-
xistischen Ideologie bzw. einem revolu-
tionären Ansatz aufhebbar sind." (R.
Romberg. Abschnitt "//." des Artikels
"Humanismus, Humanität " in: Joachim
Ritter (Hg.). Historisches Wörterbuch
der Philosophie. Band 3. Wissenschaftli-
che Buchgesellschaft / Schwabe & Co.:
Darmstodt/Bascl, 1974, Sp. 1219 - 1225
|S P - 1222 f.]).
"Me-ti sagte von einem Arbeiter,
den einige gut nannten: Harmlo-
sigkeit ist nicht Güte."
B. Brecht 1934 ff., 478
(Verurteilung der Ethiken)*
"Die Klassiker/nnen- stellten
keine Satzungen auf. welche das
I M-vvt, fl Vfrf
Töten verboten. Sie waren die
mitleidigsten aller Menschen,
aber sie iahen Feinde der
Menschheit 3 vor sich, die durch
Überredung nicht zu besiegen wa-
ren. Das ganze Sinnen der Klassi-
ker Innen war darauf gerichtet,
solche Verhältnisse zu schaffen,
daß das Töten niemandem//* mehr
Nutzen bringen konnte. Sie
kämpften gegen die Gewalt, die
zuschlägt, und gegen die Gewalt,
die die Bewegung hindert, sie zö-
gerten nicht, der Gewalt die Ge-
walt cntgcgcnzustcllcn.”
B. Brecht 1934 ff., 553 (Über
das Töten)
1. Antiimperialistischer Widerstand mit
Max Horkheimer
[...)
2. Kritik der Kritischen Theorie
Oinc wichtige Ausgingsthcsc der Frank-,
furter Schule ist folgende: "Eingespannt
in die herrschende Produktionsweise löst
die Aufklärung, die zur Unterminierung
der repressiv gewordenen Ordnung
strebt, sich selber auf." Die Aufklärung
schlägt also - nach Ansicht der Kriti-
schen Theorie - in ihr Gegenteil um.“*
Damit können wir schon zwei grundle-
gende Fehler erkennen: 1. Die
"herrschende Produktionsweise" ist nicht
erst im Laufe ihrer Existenz "repressiv
geworden', sondern war cs von Anfang
an. 2. Die Aufklärung strebt(e) nicht zur
"Unterminierung“ der jetzigen, sondern
der vorhergehenden Produktionsweise.
Damit erwartet die Kritische Theorie von
der Aufklärung etwas, was sie weder
wollte noch kann. Des hat zwei reaktio-
nären Folgen - eine wissenschaftsthcore-
tischc und eine politische.
Zunächst die wksenschaftstheoreti-
schc:
renn K/OkM TMcrt. fes nvt*. v*rW« m • trinOI ■ <U
A-ÄSnng repar« inj rr* h »*h tn 0 Urrt-
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2 Ol brev gtuttoi wtttc hm form n aO haijrd m M^nOai
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3 CbMm B^n Unn • M Ol atbnn ZUli ■ Mi UOi
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4 Ui, W)| Mr 1 TMofc» hXm. Oa*K* Ott j. firrUjr
an Uar.. 1978. *5 a n Sch-i* HM. 18 . Ott 6» ProUm** Stau
7Mm «zonal (i chm Arm 2 n» HtUCOcoi Oer lirthaat StfiAe)
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1975. 9. 10 a n $<n*M IS« 19. «o Kttvo SOi w«i 0«
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UftMan 0.1 O^oxhn Gas « mgmtt uö' J
Und nun die politische Konsequenz
der Haltung der Frankfurter Schule
zur Aufklärung:
Die Kritische Theorie lehnt es zwar ab,
"umstandslos (...) beim Individuum
(anzuscUcii)". 1 ' 1 ‘Mil Umstünden’ macht
sie dies umso mehr:
Zu diesem Zwecke geht sie von Freuds
problematischer 15 Schrift über das
"Unbehagen in der Kultur" aus. Dort
stellt Freud die These auf, daß Kultur-
entwicklung und Trisbsublimiemng eins
seien. Im Rahmen der "kritischen
Theorie des Subjekts' 17 wird daraus mit
erschreckender Offenheit die Meinung,
daß früher alles besser gewesen sei (eine
in der Tat sehr "kritische" Position, die
den ideologischen Konsens der BRD-Ge-
scllschaft massiv erschüttert!).
In diesem Kontext will die Kritische
Theorie die frcudschcn Psychoanalyse
nicht als Naturwissenschaft verstehen -
was umstritten ist - und macht aus ihr
stattdessen eine "Idcdogickritik" 18 - was
falsch ist 19 . (Helmut Dahmer spricht so-
gar von "Freuds naturwissenschaftlicher
Verkleidung der psychoanalytischen
2 BftM 1976. SK
8 Munrt GoUv Oiwun a n Wirt* IBM. 10 0«ai WMr 1971.
b« 16l.il. 19. 22 1. 25 I an ntnUinO Kt* am KsKuroimi
flatidi ömmco. OH) •* »Jv letd afl Sa Kitotfi* IMc« MMM)
9 SctrM« 1974. 1 22. Zim RMMw Ott UMntpf*l£cM vgl
8 l Öll«l«e»r»1»4.499
10 SlM-nv *ntt 1071 . 19 1».. lut KU ». tUl. H. 3i 37.
11 StoOrai Xoa 1971. 57.
1?ScN-«J19a.39
1JUaati»}«ll1845»4«.441l.
1t TMoW W. tOora. PtyttmnVfit mJSazctop*. n to
Ko /«ylMimr. Fortdil. 1955. II • 45 (32) a n WaTMr 1974. 22.
151, FN». 147.FN11.
15S «AiAJIvu*1«?6. 10D
16 Mamr« Final 0« mV* n Ott Xi*» (1B30J n
SM*aiaaciM. Bd 9. 191 • 270 «227) a. n BOila 19n. 390
17 Sana 1977.433
18 CBWtvm 190. 8. 12 (m CWirvtu BOu «m « Zuvmrtrt
BMU 1977.385
19 Nacti X'Mfl «n U< MM tert « M <M 9*9» 0*
PiytlvsMSt* *B Ttifaictn fla Hew«Mn Uao-ofaTM m
taraflav (». auu SOtrmS 19«. *35 - 450 (har 445 Mi FH 2| ml
MlKWI NldMtiMVt
165
Ideologiekritik". 20 ) Unter dem Stichwort
der "Verdinglichung" 21 Ubt die Frankfur-
ter Schule - hier v.a. in Person von
Marcuse, den ja manche als 'linken Flü-
gel der Kritischen Theorie betrachten, be-
handelt - dann ihre "Ideologickritik" 22 :
- Aus der freudschcn Kritik der bürgerli-
chen Subjekt-Ideologie 23 wird bei der
Frankfurter Schule das Einklagen von
Subjektivität: Dabei weilet sic die ch
schon verfehlte These, daß "die Freud-
schcn Begriffe (...) eine hinter uns lie-
gende Vergangenheit ( beschwören
[sic!))” dahingehend aus, daß dieses Be-
schwüren auch hinsichtlich "einc(r) neu
zu gewinnende(n) Zukunft” gelten
solle. 24
- Diese ” neu (meint: erneut, d. Vcrf.) zu
gewinnende", also schon einmal vorhan-
den gewesene und dann verloren gegan-
gene, "Zukunft" ist also ein Schritt zu-
rück in die Vergangenheit. Denn:
"Fortschritt" ist abiulchncii, du er "in
Wirklichkeit Repression" bedeute 25
Worin äußert sich diese “Repression”
oder - wie es an anderer Stelle 26 auch
heißt - "Regression" nun?
- Die gute, "freie Konkurrenz" sei über-
gegangen 2 ' in eine "Machtkonzentration
in den Händen einer allgegenwärtigen
technischen, kulturellen und politischen
Verwaltung, sich automatisch erwei-
ternde Massenproduktion und -konsum-
tion, Unterwerfung ehedem privater, an-
tisozialer 28 Dimensionen des Daseins
unter methodische Schule, Manipulation
und Kontrolle," 29 "totale Bürokratisie-
rung" 30 (s. dazu auch Anm. 9 und 17).
Diese äußere sich in so schrecklichen
Dingen wie der 'Antenne auf jedem
Dach, d(cm) Transistorgerät an jedem
Strand. d(er) Musikbox in jeder Bar und
jedem Restaurant” 31 . Mitfühlend klagen
» Othnt 19«. 1? - Ho**fv d V*1
21 CWi-* 1*2. 8. 13: Gftfi 1876. *73. I* «7: Um«« I«. 98
s» 10 *.
2lQUiMI9ao.il .CUI.T«, 0172
23 S 4»ft> M7u»a 1876 91 . 97 • 106
2* Uvcum lies 10S (Havert. . kn d V*t|. Vs*. «Uli Btatts
1877. 3«: OH Pi****** »Wo* "»ran Sur>; um Prot*«" da
GoOfranO«n *n S ****** MMn'. Zun vaprqarois
wiaiiai bi ktf/dafemn d* fnrtM* ScftU* t fcdiTm#
25 UaioiM I960. 85. »» 1«. Sou t, MoVie*r*'A3>ro. aaO. |FN
*|.M3SU n Stfnal 1987. 33
2SUurut«1965. 10«. I* 82
27 Won Uriii WÄ». «tMI BUbi i Kro Waxcl
,'nvtrjlaitn-n*<r* Wut« ttK i0rM * tk* Mtl tt Hut
Kcnwanren ■tngstra n»(Wi»sifcyi h öen
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Krt*\ Utoa» 1 965. «r t®. 4i ■ßf'ifonj «wn
CuolKfdMcMn* S a*hu S '55. Avo d Vari)
nicht nur Frankfurter Schulc-Profcssorcn,
sondern auch Autonome wie Detlef Hart-
mann über "einen durchorganisierten
Freizeitpark oder (...) den Flippcrsa-
lon". 32 Und auch Kanzler Kohl will be-
kanntlich nicht, daß die BRD ein
"kollektiver Frcizcilpark" ist/wird...
Ja, selbst "Ketten von Verkehrszeichen"
sind in dem WeltWW von H3rtmann
"kognitive Verstärker dieser Gewalt"
(sic!). Wef/welche so von den Verkehrs-
zeichen drangsaliert wird, dem/der macht
schon ein so ”banale(s) Ereignis" wie die
"ersten Tage auf der Wiese in den Alpen"
Angst 33
— Vor allem aber zeige sich die Regres-
sion der modernen Welt darin, daß das
“Ichidcal” durch das "Gruppenideal” er-
setzt werde. 34 Zu bedauern ist dabei ins-
besondere die "schwache (Stellung des)
Vaters" in der heutigen Familie. Die
Freiheit von der väterlichen Autorität sei
■mehr ein Preisgeben als ein Segen: das
Ich, das sich ohne viel Kampf entwickelt
hat, erscheint als eine ziemlich schwache
Wesenheit, wenig geeignet, ein Selbst
mit den anderen und gegen sie zu wer-
den. den Mächten (der Moderne, d.
Vcrf.) wirksamen Widerstand entgegen-
zustellen". 35 Dem Lob der "patriarchalen
Großfamilic” kann sich eine Vertreterin
des Bielefelder Ansatzes wie Veronika
Benholdl-Thomsen mschlicßcn: Denn in
der patriarchalen Großfamilie war wenig-
stens "klar (...) geregelt", wann "Frauen
(...) geschlagen, vergewaltigt und cinge-
sperrt (werden)". Schlimm sei erst, daß
diese Gewalt in der Moderne "regellos"
werde. Denn erst jetzt würden "Frauen
ohne sichtbaren und von ihnen nachvoll-
ziehbaren Anlaß gewalttätig (...) trak-
tiert)". 36
~ Da also die "vaterlose Gesellschaft" zu
Aggressivität führt,-’ 7 ist auch klar, was
die Ursache für den Faschismus ist: eben
die "vaterlose Gesellschaft". "Denn Ar-
beitslosigkeit. Verfall der politischen Au-
torität und eine um sich greifende Zu-
kunftsangsi aktualisicitcn das Kindheitst-
rauma der Weltkriegsgeneration (des er-
sten Weltkrieges. Anm. d. Vcrf.). Die Er-
innerung an den Verlust des realen Va-
ters setzte den Wunsch nach einer star-
ken Führcrpcrsünlichkcit frei; (...)." 38
— Optimistisch stimmt Marcuse aber, daß
"wie man allerdings auch erwarten sollte.
(...) die Frauen menschlichen Argumen-
ten im allgemeinen noch zugänglicher
32 Hamm i»9. 571.
sind als die Männer, was daran liegt, daß
die Frauen noch nicht ganz in den repres-
siven Produktionsprozeß eingespannt
sind." 39
— Zu beklagen ist ater nicht nur die ab-
nehmende Macht des Vaters, sondern
auch "der Verfall individuellen und fami-
liären Unternehmertums, traditioneller.
'ererbter 1 (sic!) Fähigkeiten und Berufe"
sowie "das Bcdürfrus nach Allgemein-
bildung" und “die immer lebenswichtiger
und umfassender werdende Funktion von
(...) Arbeitnehmerorganisationen" 40 ('die
immer wichtiger werdende Funktion der
Gewerkschaften ist zu bedauern'; schreibt
Marcuse! ls' wirklich nicht von Mülle-
mann). Adorno assistiert ihm mit dem
Wunsch, "daß das kical freien und ge-
rechten Tauschs, bis heute bloß Vor-
wand. verwirklicht" werde. 41 Demge-
genüber hat Marx "im 'Kapital' nicht zu-
letzt den Nachweis erbracht (...). daß die
gesellschaftliche Handhabung des
Tauschprinzips", wie sie real erfolgt,
"notwendig aus jenem 'Ideal freien und
gerechten Tauschs' hervorgeht und kei-
neswegs dazu im Gegensatz steht;
-- Weiter ist die "Entstehung von Mas-
sen"*-* zu beklagen. Massen werden
nicht (auch) als u.U. revolutionäre Mas-
sen betrachtet, sondern ausschließlich
anhand der Beispiele Kirche und Heer.
Deshalb bedeuten "Massen“ für die Fr-
ankfurter Schule immer "Regression zu
einer primitiven Scclcntätigkcit". 44 Nur
konsequent ist es daher, die vermeintli-
che Tatsache zu kritisieren (sic!), daß
“die Massen unausgesetzt die Politik der
Führung (bestimmen)" und "die Führung
(...) den (...) Massen willfahrt. Das Ent-
stehen und die Mobilisierung von Mas-
sen erzeugt autoritäre Herrschaft in de-
mokratischer Form." 46
Die politische Kons:qucnz dieses Welt-
bildes, in dem Veronika Marcuse-Hart-
mann vom "Transistorgcrät” total
‘verdinglicht’ und manipuliert wird, sowie
der realen Distanz V* den Massen ist klar
- da kann man/frau gar nichts machen 46 :
Denn in Anbetracht der behaupteten
"totalen, alle Beziehungen und Regun-
gen erfassenden Gesellschaft " 47 muß -
39UarciMlW7.131.
«UacuMlS65.S5
«1 «4* to. **0 (6H 5). 1*9.1» :l n. SOmd 1*0. 20.
*2 Sch-i* 18*0.201
*3 Hau» 1955. M • Hovoti i O
** Ulraa» 1955. 91
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» Wunne 1935. 92 • HarKrt». fl V*rt 0 k TfttKarsTW.6»/« «fl
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PtaltUxr-j ßtfmtl 1103. 37 i*oi. 3i oUn) fu rartnai vnx I*
mrtwiaauwgi
*7 Aa*ToHcrtf«rta. »ao fU *J. u n Scfm4 » Vtf
KTfciVBtw« 1978. 19* 2031
166
immanent gedacht - in der Tat bezweifelt
werden , daß die "Personen, die nichts
mehr sind als Bestandsstücke der Ma-
schinerie, ... überhaupt noch als Sub-
jekte 48 handeln können ", bzw. daß
"von ihrem Handeln etwas abhinge ” 49 .
Von dem, was Adorno und HorkHeimcr
den "Übergang ... zum menschlicheren
Zustand" nennen, sagen sie, dis es
"nicht geschehen (Avwi/»)“! 5 ®
Allerdings finde: die Kritische Theorie
dann doch noch einen subjcktivistisch-
individualistischcn Ausweg, indem sie in
der "Macht der Negation“ (schöne Grüße
an Trampel mann und alle anderen Ge-
nossinnen von der “Radikalen Linken“!)
die adäquate politische Strategie sieht. Es
gehe darum, “einen persönlichen, priva-
ten Bereich mit seinen eigenen individu-
ellen Bedürfnissen und Anlagen aufzu-
bauen und abzuschirmen".
In Anbetracht dieser kruden Strategie
"entbehrt (es) deshalb nicht einer gewis-
sen Komik, wenn zur Beruhigung be-
sorgter Gemüter noch eigens betont wird,
daß es 'Kritische Theorie“ keineswegs
um Revolution zu tun sei -52 . Horkhci-
mer erscheint denn auch “die fragwürdi-
ge Demokratie bei allen Mängeln immer
noch besser" als “die Diktatur, die ein
Umsturz heute bewirken muß“ 52 . Die
Kritik der Frankfurter Schule “besitzt
somit allenfalls eine moralische Dimen-
sion. welche die bestehenden Macht-
strukturen nicht in Frage zu steiler ver-
mag - ^.
Dieser moralische Protest, der bei
Marcuse durchaus auch illegal sein darf,
ist natürlich wegen der "Totalität" - im-
manent hat das alles schon seine Lcgik -
nur den “von der allgemeinen Praxis
Eximierten" 55 möglich. Luköcs konnte
diese “’absolutely’ miserable and exclu-
ded’’ 56 Stellung mit einer gewissen Plau-
sibilität noch dem Proletariat zuschrci-
bcn. 57 Aufgrund der sozialstaatlichcn In-
tegration konnte die Kritische Theorie
später die Rolle des “cxtcmal Negation
Subject" 58 n u r noch folgenden Gruppen
zu weisen:
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57 fWmO 1979. 4S. 59
M Jhtrtom 197071. 115 >9 NbtC 1979. 59
- den Kritischen Theoretikern 59 selbst
- den Privilegierten 6 ®
- den Randgruppen 61 -
und fertig ist das autonome, an. Kritische
Mondgesicht, äh, (’Revolutiom')-Theorie.
(Dieser äußere Standpunkt der
"Eximicrten“ ist aber ein rein imaginärer,
denn es gibt kein Außen 62 (s dazu auch
Anm. 10 zum subjektiven Bruch]. - Die-
se These i»t aber gerade nicht - wie hei
der Frankfurter Schule - im Sinne einer
totalen Herrschaft zu verstehen. Viel-
mehr beinhaltet meine These, daß auch
die Widenprüchc immer schon innen
sind. 65 Deshalb kann überhaupt nur die
Revolution als möglich gedacht werden:
"Da jede gesellschaftliche Entwicklung
immer schon in Konflikten verläuft, ist
eine Praxis der Veränderung nicht nur
ein voluntaristisches Ideal." 6 *)
Soweit der angcsprochcnc moralische
Protest "nicht nur als reiner Widerstand
des Denkens gemeint ist. (...) kann dies“
- wie bei Marcuse (und das trachte ihm
das erwähnte Prädikat "links” ein) - "nur
eines bedeuten: die Rechtfertigung der
spontan aufflackemden rebellischen Ak-
tion," - auf autonom-Sprech: Riot - “die
freilich auf eine genuin politische Di-
mension zu verzichten hatte, gleichsam
die Ehrenrettung des Anarchismus.“ 65
Somit erweist sich, daß die notwendige
Folge, davon
++ Protest moralisch zu formulieren
und
++ eine humanistische Kritik an der an-
geblichen totalen Verdinglichung’ der
Menschen zu vertreten,
ist, daß
++ Widerstand theoretisch unmöglich
ist 66 ,
und
- praktisch nur möglich ist, wenn mit den
eigenen theoretischen Voraussetzungen
(der These von der angeblichen Totalität
der Herrschaft) gebrochen wird.
3. Antiimperialistischer Widerstand mit
der Althtisser-Schule?
l-J-
4. Seit Ostern 1968 nichts Neues? -
Anmerkungen zur Frankfurter Armee
Fraktion
Ulrike Meinhof schrieb 1968 in der
KONKRET: "Die Grenze zwischen ver-
balem Protest und physischem Wider-
5asav*ji583.3:.
M Wirtin» 1957. US
61 Uno« 1967. 1»
63 S. «TU koKMH: ScftWaWejrto 1 991. 571
631Tuutf1973j.97.FN3.
64 St«* l»«.«*
65 ua*td Otfr-u. TS«*# tu p-m’ Kr PNto*#*» uvl
Sciorj« ThtoScf W. Atom». ft «5t* uxl «WH Itn i»
XrCdrft*n7>i«crW.Gi*Btft1975itftSdV'«>l983 39.
Cfi SJitJ 1583. 37
stand ist bei den Protesten gegen den An-
schlag auf Rudi Dutschke in den Oster-
feiertagen erstmalig massenhaft, von vie-
len, nicht nur einzelnen, Uber Tage hin,
nicht einmal, sondern vielerorts, nicht
nur in Berlin, tatsächlich, nicht nur sym-
bolisch - überschritten worden. Nach
dem 2. Juni (1967, d. Verf.) wurden
Springerzeitungen nur verbrannt, jetzt
wurde die Blockierung der Auslieferung
versucht. Am 2. Juni flogen nur Tomaten
und Eier, jetzt flogen Steine. Im Februar
(1968, d. Verf.) wurde ein mehr amüsan-
ter und lustiger Film über die Verferti-
gung von Molotowcocktails gezeigt, jetzt
hat es tatsächlich gebrannt. Die Grenze
zwischen Protest und Widerstand wurde
überschritten, dennoch nicht effektiv,
dennoch wird sich das. was
(herrschcndcrscits, Einf. d. Verf.) pas-
siert ist, wiederholen können; Machtvcr-
hältnisc sind nicht verändert worden.
Widerstand wurde geübt. Machtpositio-
nen wurden nicht besetzt.” 67 Und so ist
es die letzten 25 Jahre im Prinzip geblie-
ben - mal mehr, mal weniger, z.Z. eher
ganz wenig. Ich werde das gleich noch
genauer ausführen. Aber zunächst noch
ein weiteres Zitat von Ulrike Mcinhof:
"Das progressive Moment einer Waren-
hausbrandstiftung liegt nicht in der Ver-
nichtung von Waren, es liegt in der Kri-
minalität der Tat, im Gesetzesbruch. (...).
Hat also eine Warcnhausbrandstiftung
dies progressive Moment, (...), so bleibt
zu fragen, ob cs vermittelt werden kann,
in Aufklärung umgesetzt werden
kann. -68
Und auch diese Fragestellung ist der
BRD-Linken die letzten 25 Jahre erhalten
geblieben. Es gab immer wieder den
“progressive(n) (...) Gesetzesbruch" und
es gab immer wieder die Frage nach der
’Vcrmittclbarkcit’ (s. dazu Anm. 1 1): Mal
ließ sich der Gesetzesbruch besser
'vermitteln’ - bei Heidelberg (US-Army-
Computcr), bei Schleyer (auch bei dem
nächsten, wenn es denn der nächste ge-
wesen wäre), bei Hemhausen, bei vielen
Sachanschlägen der RZ -, mal schlechter
- bei Pimental und BraunmUhl bspw.;
mal mit Ansätzen von Machtpositionen
(vielleicht Anfang der 80er in der Haus-
bcsetzerlnnenbewegung in Westberlin),
mal weniger (bspw. nach einer staatli-
chen Doppclstrategie von Räumungen
und Teillegalisierungen).
Ich komme jetzt noch einmal auf den
Abschnitt zur Kritischen Theorie zurück
und versuche
++ eine Kontinuität 69 - milde formuliert
- unzureichender revolutionärer Politik
6?U|IM 190*1261
ö UinM 1505. 154. 155 - a Vtrf.
« C«ua (crmtiähia «8 öl r«J9 h raMoiirtf Natt aiiragn
an <M KtarTa Th*x» <M RAf WWW ra miOxn |0u
»i» MHU-flejefeduttO« ITmt). Vatmtr wiio CM Ulf. wm M
167
frankfurter Schul: - "antiautoritärcr"
APO-Flügel (Dutschkc/Krahl) - RAF>.
die mich in dieser Kapitelüberschrift zu
der Polemik von der "Frankfurter Armee
Fraktion" verleitet h»t,
und
++ eine Veränderung (Verbesserung) da-
hin. den Worten zumindest Taten folgen
zu lassen,
aufzuzeigen. Bleibt nur die - weiter unten
wieder aufzugreifende Frage oh es die
richtigen Worte waren, denen die Taten
folgten. (Die Frage "Vom Protest zum
Widerstand - aber wie?" untersuche ich
deshalb am Beispiel der RAF. weil sic
den Schritt vom Pretest zum Widerstand
in der BRD militärisch am weitesten ge-
gangen ist. Ich will untersuchen, ob die
RAF auch politisch Uber den Schritt
"vom - zum" hinausgekommen, ob sie al-
so beim Widerstand angekommen ist.
Wir erinnern uns also an Ulrike Mein-
hofs Definition: "Widerstand ist. wenn
ich dafür sorge, daß das, was mir nicht
paßt, nicht länger geschieht." 70 )
IUtcum 1M7, 128. ISO.
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len « «ora ubrekim KfmS&H rtfM UmadBunj. dom cC-
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BiKt da gau tetotl c te StBiowj djntfndtan od» «ft hr art-
ratet kfmen Ich man* aa/vujm Scfadlan Ooi Gasateftifl. dt ad
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terWan Wdaapnöt in) von dan Pro«, dan da icganan-tt Gaia»
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wbanen. a Vad.) AMManx» t* CWosten. utd t> Harte« «t
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rnxt«\ D*n abar tert^ da B«*iOrg dar Saxua» ab vte dant Arv
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dadtgattnat XBAtfmtgarba(in) ven dar Ogvcw-nj dar So»
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Bafel* ate fiar xt dan ra^UBtenn V«an a*aM vtteua vnl da
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VamBOj^an hrdute tat gqnactei S»*orTt vtn UanaMaiot dar-
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M.MdaaaaaMxtoCmararfcMqartVm d V>« ) BMfaa rteta
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dan (Oata BateMbanrtg da» Atattsna Kr nJ) irtel antrots
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Srattin) VfncftUtg dir AbtraU'. also dar Wcat Arm d VM |.
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Val| n dar AmartatterwOutg rti der teratetet Eia*il~ja*M t*
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TtcpagrtB dar SOtto»' (Ota) n dar Dl«t WM m« darft da
Aepagarte dar TM’ n dan Uetrcp»n nrvoUnlgl *»det. -afte
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Goarte Ifarvott d Vart ) « dar Ogmi*« afBOOtrr^a- «rag«
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MarrsMl dai S|tena ifar dan lrtta<ar (tnd «ai «ar icten »trter
ma dat ArBaCarrtian’ fragt d Vad) a*r«t Srtgnn*] ■ rrü
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(au. J pB i B—ML tvrr 1 an pamav Ma nart an (taaratv d Vad ) an.
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terra Migatetd votrvr tu hatte Kteatan. io daß u ltv> Ate. an
ca» IVrwx te latertrraruteftq n) teo Boapai.aiJS »dat
VtrOroten Am d Vad ) dai SyBanta Bdgand It KU tefmtA
ne lüt aos otdraa ato an A*te. tre FariarrM*. aät ga**f*iu BoJ
tert nxfi vom ahn ml .traten ttitan Daraia ater. deS
du iwohrkmin Sot^UjateR» (Harvph. d Vad). dar«* U*
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die. )er»n. OarAte IC« marviCte— ^»ga laBaoMadn^nyan • Ir, im-
tuiarten Sm. at* (nett kertea m Wtemar» «l oi dar« ken-
traten ( )-l*d*Ert*e*Ar>j»ra»*MehMKr«d«riOeil*ga
bl uf>. #• (7t) manieteieten öe* gtgar dot lactetenueh tuef.
swefte Agpam onimiaiMn. du d« kapatetsji* uacftt nar mj
nWateircpaWreftetrf ( ) W« kdman de hMouan de U*n-
«ftet gegen daie UacM Onhgeie« -arten’ (. ) McM Aigian.ing
Kette Patten teobgtrte Mo)* («n . sehen m Zarinm. vn
dart dt Mannten- (Hamrt . Am . fmge d Vad) (kkn Bit tfi »
kan "»TO in) uiw dam r u nat na i cK at Guotacmli 72 haßt
rP datfab aiOt Wu dagagoi Kar dot Zua-nteftanj rrtoia eh
leten vernähen ‘da MoraCTan* »«an *m ZarOtn* Daten bmov
C an gl a0a> -Märtet ‘arr-edtr nrrah edar ieft-an JJ • u») da
Seiraena Moneten Daiot dam gut mdtn "nt Zomutt* dar PeM*
Bia dar ZaecteDt?) Wtt -» du nxh ml den Ttf lt(n| Parten''!)
"Me-ti empfati! äußerste Vorsicht
bei der Anwendung des Begriffs
Volk. (...). Für gewöhnlich schlug
er die Bezeichnung Bevölkerung
vor. da sic nicht das künstlich
Einheitliche hat, das das Wort
Volk vortäuscht."
B. Brecht 1934 ff.. 534 (Volk) 74
UUTMNrini.32:
*Staitga dar luramot *» #t. rrtarrran rr* dam Vo* (täc* Amt d
Val) dm Pmrafl dar Mae« vor inert xu *rMm«r) (Harvte"t d Varl).
2u attnulaiin Oos fettga zu Mt Utd m in) aui dm Aü^eten
dar MartKten (Hanert d Vad) du Ba.ifltiMi Mar GaidicHp
micnt*Mi c*<tn w M»an (..) Gurte. te*«»i*ur Karpt. du «»
Ur Bi Irmar aita laMfc *n K»r*A üi da tote» Ravokrsot g»—ioi
Wrin)oamr gueteun der Kamel gen «tre«. » Roter Kd Hvga-
riß fn WKvvex (eixtook JS. 57»i) (..] h dar BnOurapA«* ga-
hot <4. iMirmMt Utean »Wi Un Irf-^hia van ianuv Sätet-
tVAldiS dV TOff »tffd, WVÖjl Ötf SlfSlQi 5Ct>f PtCitö W
«haKWtar in) da Ba-rt-ara Attot du« an UMtrtei WB - j ter«
BL an KalalyiaKr. an Eianpat, ■*) da btoantcu AMm not -ahr
Btt 'EiaTpaf gaduKl. aH Boapal. 3u aJ toitala Vara^amtnarjvj
hn korveun « icnJtm Mi da «raiagute Varaiguttnanrg «t
atdUrKh (.) Dar StD’-Ktear d« Aidun^loi) m» r«ji an
raacten d» cMWctert Malve m) laten d» GatateeteK » vat-
khfl it enem paractMiKten Raun tetet dar Guabete*. f-aeteh
SluBietrrt m) Re«)»iWilrtv»r. So voJoio* «ft dam da vom
Kocaa grctejM uonuai tro timuitg tnsorrr M dt vamap-
(xnjdu&nMan*.
autromaa ntanlafu 1990a a 1MB. 2S:
TM Varavdnj du ßagfh f FrxT. d Varl ) artig ate. io tO-
«tau. ruß u rtöi vermnteL aß n Andau Tan Igamant M da
Ajuaga von Ar»« Smarrg n aarrrrtem Arm d Var) ) ma U»
-it). vwAuCte «ft jartaate dar Frwan ytyrittrui gtiateeteK-
fcte lag» cd» Ktaun. «an u* toi MJmar in) frauu? WM
«ft dtefi da Otiarta Ajtaot r*M. Bt da KorfirrlMV, rräten
(Tor nonJrrO «uasfryt-oefi OTetenandan UrcW «lanjrrol Mi
rrpoiatOnOi tcrMTnar) in) rrtrootu dan Wometen' (nurövral
oxP Ms garte* Bara<fn«| odar »xh dar levtelordian PO Doie
Bogfa in) ßadar m) B«a«fra* für da UIVtgiM cd» dan Ur.»
tan --J AnaVM gaiatsefiaR'ifar Zuflteda (Irparotafleto) Marti
in) (gavol Uanieh m) du Gagniaupaar »Jt RaiWar» in) Mn*
cten TrM*at?|it*n: #at Y«BM«t»»r Pez ist 7-ar an* enjnate Hau-
tdrrtng (n Uten g*> icten da'tevo «entean «Wrv». auft b 0»
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72 S. bl COrijan da Mi v du« Bag-'AtetyM du rncAAbnirio
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sol W m H» r+j» A.*tjaG»r Mir«« 0 Virt 1
Die dumme und falsche Polemik der letz-
ten Frage weist uns den Weg, auf dem
wir finden können, wie cs sich
(vielleicht) tatsächlich mit der RAF ver-
halt. Die RAF ist nicht zu kritisieren,
weil sic Avantgarde sein will (wollte?),
schon gar nicht, weil sic Avantgarde ist
(diese Kritik ginge schon von einer wirk-
lichkeitswidrigen Voraussetzung aus),
sondern weil sie ihren richtigen
"Anspruch" 76 nicht hat realisieren kön-
nen - weil sie nicht Avantgarde ist.
Die RAF ist also nicht zu kritisieren, weil
ihr "Leninist/nnen mit Knarre” (was so-
wieso ein weißer Schimmel ist, denn Lc-
ninistlnnen sollten immer die Möglich-
keit haben, sich eine zu verschaffen, auch
wenn sie sic nicht immer einsetzen 77 )
angchörcn. so eine Kritik von der
"883” 78 . sondern weil sie Lenin durch
die Brille der Frankfurter Schule gelesen
hat. Lenin durch die Brille der Frankfur-
ter Schule lesen bedeutet:
- Die Verfalls- und verschwörungslheo-
rctischen Fehler (bspw. 'Fäulnis'-These)
von Lenins Imperialismus-Theorie durch
den heimlichen Leninismus, den Kultur-
pessimismus. der Kritischen Theorie
noch zu verstärken.
- Die leninistische Realpolitik aufgrund
des offenen Artft'-Leninismus der Kriti-
schen Theorie zu liquidieren und durch
Dutschke/Krahls "voluntaristischen Sub-
jektivismus (... des) organisierten Einzel-
kämpfer(s)" zu ersetzen.
Die Konsequenz: Die Herrschaft ist im
Prinzip total ("der 24-Stundcmag der
Herrschaft des Systems über den Arbei-
ter". "das Gefühl für ihre Lage als Aus-
gebeutete (...) verloren (...) haben"
(RAF)). Sie kann aber von einzelnen
bzw. von jedem/r - das läuft auf das
Gleiche hinaus -. der/die "auf der Grund-
lage ihrer spezifischen Stellung im Insti-
tutionswesen" (Dutschke/Krahl) "noch
Zugang zu den Tatsachen" (Marcuse)
hat, durchbrochen werden. Dies sind die
"revolutionäre(n) Pol(e)" (Sievering), die
durch die "irreguläre Tat"
(Dutschke/Krahl) eia "Exempel" (Täufer)
statuieren, das "Aufklärung" bewirkt
(Meinhof. Marcusc ...). Diese
"Aufklärung" bewirkt
"Bewußtseinsproze(sse)"
•w* 0- Vo-u ird M B äMlrarraJat fKkUnm*.
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1988. 13. FN 10.) Avr. 0 V*1 ]
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78 0 Val 197IB.
(Dutschke/Krahl), wirkt "mobilisierend"
(Dutschkc/Krahl), bewirkt "soziale Ver-
allgemeinerung" (Täufer). "Daraus folgt
aber, daß das revolutionäre Subjekt jede#
ist, der /die sich aus diesen Zwängen be-
freit (...)." (RAF). “Jeder kann anfangen.
Er braucht auf niemanden zu warten."' 7
- beginnend zunächst mit einem reinen
Erkenntnis- bzw. Willensakt - (s. dazu
unten Anm. 13 sowie Abschnitt 7.
e)l.und alle bzw. kcineR 86 können/kann
mitmachen. Auch hier zeigt sich wieder,
daß die Rede von “jedefl". "alle" und
"dem Menschen” politisch handlungsun-
fähig macht. Denn die These, daß eh alle
anfangen können, verhindert schon die
banale Überlegung, wie Widerstand or-
ganisiert werden muß, damit zumindest
einige tatsächlich anfangen können (s.
dazu Anm. 14 zum Verhältnis von
"klammheimlicher Freude" und realem
Widerstand).
Der Grundfehler descs Ansatzes läßt
sich vielleicht so charakterisieren: Die
Avantgarde wird nicht wie bei Lenin da-
hingehend bestimmt, daß sic den Massen
einen “ Schritt " voraus ist, sondern da-
hingehend. daß sie den Massen eine
" Erkenntnis " bzw. eine "Idee" voraus ist.
Die Konsequenz: Die Massen müssen
über diese Erkenntnis - durch spektakulä-
re Aktionen (bei Dutschke/Krahl eher
pcaccnik-mäßlg, bei der RAF militant)
aufgeklärt werden (RAF: "Die Bomben
gegen den Unterdrückungsapparat
schmeißen Bomben auch in das Bewußt-
sein der Massen.'** ’). Revolutionärer
Kampf wird als Lernprozeß konzipiert,
indem Moral verbreitet und über die
"Verbrechen des Systems" (RAF) aufge-
klärt wird. Und innerhalb dieses Ansat-
zes reduziert sich die Debatte auf die
kreisförmige Diskussion, ob denn eine
Aktion nun 'aufklärerisch' bzw.
'vermittelbar 1 war oder nicht - von Mein-
hof/Marcuse bis Lutz Täufer, der die
heute draußen bewaffnet Kämpfenden
kritisiert, weil sic ihre "Aktionen nicht
mehr" - wie in Uruguay und in den 70er
Jahren auch hier - als “Excmpcl', (...) auf
soziale Verallgemeinerung hin konzi-
pieren ...), sondern als strategische Ver-
allgemeinerung an und für sich". Mir ist
dabei allerdings nicht klar, ob von dieser
’Exempcr-Stratcgic tatsächlich abgewi-
chcn wurde. Und - und das ist das wichti-
gere - von der er selbst sagt, daß sie zu-
mindest in Uruguay "gescheitert" sei. -
79 RAF 1971.94.
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Bl RAP 1971. 112
Meine Zweifel, ob von der ursprüngli-
chen Strategie tatsächlich abgewichen
wurde, resultieren ius folgendem: Ich
habe den Eindruck, daß auch heute die
RAF ihre Aktionen, mehr darauf hin
konzipiert, die berühmte
"klammheimliche Freude" 82 zu ernten
(und nach Herrhausen hat die RAF diese
Freude zumindest bei einigen Studentin-
nen des Fachbereiches Politische Wis-
senschaft der FU Westberlin, die die völ-
lig unselbständige, untertänige Parole
"RAF. wir danken Dir" sprühten, geern-
tet) als effektiven Widerstand zu leisten
(s. dazu Anm. 14) (bei Hcrrhauscn aller-
dings fiel wohl beides zusammen 83 ).
Nun war ja aber - und das sollte viel-
leicht zu denken geben - des Göttinger
Mescalero' Buback-Nachruf entgegen al-
ler seinerzeitigen Staatsschutzpropagan-
da gar keine 'Werbung für eine terroristi-
sche Vereinigung', sondern eine Kritik an
der RAF von einem anarcho-pazifisti-
schcn Standpunkt aus. Dieser Göttinger
Mescalero trug sich bekanntlich mit dem
Problem, daß er sich über Bubacks Tod
freute, obwohl ihm sein gutes, revolutio-
näres (ha, ha: "um der Machtfrage wil-
len" schreibt er und dann setzt er hinzu:
“o Gott!” 84 ) Gewissen sagte, daß er sich
nicht freuen dürfe ('Diese Überlegungen
allein haben ausgereicht, ein inneres
HUndcrcibcn zu stoppen." 85 , denn:
"Unser Weg zum Sozialismus (wegen
min Anarchie) kann nicht mit Leichen
gepflastert sein. (...). Damit die Linken,
die so handeln, nicht die gleichen Killer-
visagen wie die Bubacks kriegen. Ein
bißchen klobig, wie? Aber ehrlich (sic!)
gemeint...” 86 - Na dann ... - wenn es ehr-
lich gemeint ist, dann ist ja gut. Dann
kann man/frau auch gar nichts gegen den
Ausgangspunkt des Textes des Mescalero
sagen: ”(...). stringente Argumentation,
Dialektik und Widerspruch - das ist mir
alles piep-egal.” Is' halt "ehrlich ge-
meint".
Nun haben wir es allerdings mit dem
Phänomen zu tun. daß trotz
"klammhcimlichc(r) Freude" die Aktio-
nen der RAF keine "Exempcl", keine
Beispiele für andere sind, sondern ver-
einzelt bleiben. Denn der moralische Re-
volutionspädagogismus kann nicht funk-
tionieren. wie ich gleich zeigen werde.
8JMmcai*o1877. 198
83 Cm Ot* («Wjrad» SartaicfcMgjnpn. U V*!) tM 1*
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Ot K 1 (Bofrw GenMtkvan 1991. 28)
84 UucMiD 1977. 171.
65U4K0MO1977.169
86U»K0*O 1977. 1701 Ami
169
5. Die RAF - eine bürgerlich-patriar-
chale Künstlerinnenvereinigung
Zunächst aber noch eine Zwischenbe-
merkung dazu, wie die RAF sich das
Massenbewußtsein in den Metropolen
vorstellig):
Auf das ihr entgegengchaltcne Mao-Zi-
tat. "Wenn das Bewußtsein der Massen
noch nicht geweckt ist. und wir dennoch
einen Angriff unternehmen. SO ist das
Abcntcurer/nncn/um,” 82 antwortete die
RAF: Maos Position habe die chinesi-
sche Situation zur Voraussetzung gehabt,
in der - nach Maos eigenen Worten - das
Bewußtsein der Massen ein "weißes
Blatt Papier" gewesen sei 88 (eine Posi-
tion. die außer acht läßt, daß die chinesi-
schen Kommunistinnen vermutlich auch
erst einen hartnäckigen ideologischen
Klassenkampf zur Veränderung des mut-
maßlich zuvor pro-feudalistischen Be-
wußtseins der Massen führen mußten). In
den imperialistischen Metropolen sei das
Bewußtsein der Massen dagegen kein
"weißes Blatt Papier". sondern
"immunisiertes Bewußtsein": "In den
Metropolen (...) haben die jahrzehntelan-
ge konterrevolutionäre Propaganda. Er-
ziehung, Wissenschaft (sic, Anm. d.
Verf.) und Kunst jeden einzelnen Satz
der marxistischen Lehre vorgenommen,
haben ihn vulgarisiert, verballhornt, ver-
logen, verzerrt und oft in sein Gegenteil
verkehrt, haben sic jeden zentralen Begr-
iff der revolutionären Theorie mit negati-
ven Affekten besetzt (Wie ist 'ihnen' das
bloß gelungen?!. Frage d. Verf.) und da-
mit für die revolutionäre Propaganda und
Agitation in den Massen unbrauchbar
gemacht, (... ctc.)." 89 Dieses
"immunisierte Bewußtsein" der Massen
in den Metropolen soll nun dadurch
"aufgebrochen werden", daß die RAF ih-
re "Bomben gegen den Unterdrückungs-
apparat" - wie schon erwähnt - auch "in
das Bewußtsein der Massen" schmeißen
will.
Dieser militärisch-ajfklärcrische Subjek-
tivismus (alle haben ein "immunisiertes
Bewußtsein", nur wir selbst nicht, und
deshalb können wir "das falsche Bewußt-
sein zur Aufrechtcrhaltung der Anpas-
sung zur Einhaltung des mühsam erwor-
benen seelischen Gleichgewichts in der
Unterdrückungssituation" 90 durch
'richtiges' Bewußtrein ersetzen) ent-
spricht fast wörtlich der u.a. von Brecht
kritisierten - subjektivistischen, bürger-
lich-patriarchalen Kunstideologic: "Das
KünstlERindividuum ist dort 'frei' und
'allmächtig': das weiße Blatt, die Lein-
wand fürs Malen, der Rim, all das wird
8» SKcWlf.HAF1971.J7.
SS Kstaw RAF 1971. 98 • fl VW
89 Ko*«öv RAF 1971. 99
90 KoHtlV RAF 1971. 11t
zur Projektionsflächi für Visionen, Bild-
findungen, die unabhängig von allen vor-
handenen Bildem-Bilddramaturgien-Lc-
bensentwürfen quasi aus der Tiefe', der
'Substanz' des 'Küistl£Rs' emporsteigt.
VorgegebenesA'orhandencs wird - wenn
überhaupt - nur als Äußerliches begrif-
fen, dem alle unterworfen sind, nur
nicht 'DER KünstlE/?' im Prozeß des
’Schüpfungsaktes'. Das KUnstlEÄindivi-
duum nimmt sozusagen eine Position au-
ßerhalb der Ideologien ein - und nur
diese." 91
Revolutionäres (Kunst)vcrständnis geht
dagegen von der "Determiniertheit der
Kunst einerseits” und andererseits von
den "Einsatzstcllcn für Subversion. Wi-
derstand und Revolte andererseits (aus.
d. Verf.), die aufgespürt werden müssen,
um so die Steine des ideologischen Ge-
bäudes gegen dieses Gebäudes selbst
richten zu können. Also: die wider-
sprüchliche Position des Innen und ten-
denziell Außen muß als Faktizität begrif-
fen werden. (...). Die Wahl zwischen
'Innen' + 'Außen' muß immer wieder neu
gewählt werden, und nur durch ein Ver-
weben dieser beiden Positionen kann ei-
ne neue 'Schrift' erustehen (...).” 92 (vgl.
dazu unten hinsichtlich revolutionärer
Politik unter 7.d) und g)J.
6. Der KJassenkampf - ein Lernpro-
zeß?
a) ( überraschende ?) Parallelen
Die in Abschnitt 4. und 5. behandelte
aufklärerische Konzeption des revolu-
tionären Kampfes (s. bes. S. 168) teilt
die RAF nicht nur mit dem
"antiautoritären'' Hügel der APO und
dieser mit der Georg Lukdcs 93 und der
Frankfurter Schule. Vielmehr wurde
diese Konzeption - mit einer unwesentli-
chen Nuance - auch vom 'autoritären'
Flügel der APO und daher der DKP/SED
geteilt.
Alldiesen Ansätzen liegt ein teleologi-
sches (von telos (gr.) = Ziel), ge-
schichtsdeterministisches Verständnis
der Entstehung von
"Klassenbewußtscin" zugrunde. Dies
soll im Folgenden vor allem anhand der
Frankfurter Schulc-Anhängcr Michael
Vcstcr 94 , Dieter Grob 95 und Dirk Bla-
91 Stfwa-Bol 1983. 37 • M«rwA fl Vof.
9?StfKW-BöH983.»
93 9* <-***»• «I b* N«ff*7 1979. »X
•mrpiutß On frAUrtstf*" KiSttRt-wKU»™ -
irorMmmVrrtH-^o« 197g. 1«h Bwaj ai GutfoM* ind
9* Zv ftnü&W Schul« VW» 1970. »38. *41. 443. 444 H nmin
v«s* i»3. IS (8 m«9 Hß mgy&jjt) v« uxme*?* isw. ist.
FN 2S (zu NtjOQiqt): Sette« :«84. 178. FN 71. Zim l*frtsroz«fl
VmMc 1970 (TW R mm]
9$ Zj FrarMufW ScfuM: Grh 1978. 419. FN 3 (BtPJJ aJ
N4-J4KX9«. 4». 427 (MM* Ihecno). frtfi I960 . 78
f&UiWiWttf«**! V$ UDrMj» 1963. 187. FN TS (zu
NqM«* ScMO* 1988«. I’6. 197. FN 101 (Grtfä •KitücW
sius 9 ^ (zu den Unterschieden zwischen
den dreien s. Anm. 15) gezeigt und kriti-
siert werden. Dabei wird allerdings auch
der Nachweis der genannten Überein-
stimmung mit dem traditionalistischcn
Ansatz nicht zu kurz kommen.
b) Die 'Analyse' der Lernprozeßtheo-
retiker
Vestcr. Groh und-Blasius betrachten - im
Anschluß an den schon in Anm. 2 er-
wähnten britischen, sozialistisch-huma-
nistischen Historiker E.P. Thompson -
(revolutionäres) Klissenbewußtsein als
Ergebnis eines Lernprozesses.
Zwar versuchen sich die Lernprozeßtheo-
retiker von der traditionalistischen, ge-
schichtsdctcrministi'chcn Auffassung,
die von einem "gesetzmäßigen Aufstieg
von der Klasse an sich zur Klasse für
sich" (bspw. der DDR- Wissenschaftler
Hartmut Zwahr) spricht. 92 abzugren-
zen. 98
Der Erklärung der genannten Frankfurter
Schule-Anhänger fUr die- Entstehung
(revolutionären) KlasscnbcwuUtseins
liegt aber ein nicht weniger deterministi-
sches Geschichtsbild zugrunde:
So faßt Michael Vester "die Geschichte"
als "langen, kollektiven Lernprozeß”
auf. 99
Das Resultat dieses Lernprozesses seien
Klagen und KlosTcnbcwußtsciii ("Die
Entstehung des Proletariats als Lernpro-
zeß" 1 ^,.
Die Auffassung, daß pauschal "die Ge-
schichte" zu Klasscnbewußtsein führt, ist
nur auf der Grundlage der Annahme
möglich, daß aus Erfahrung generell ge-
lernt wird: Geschichte - Lernprozeß -
"kumulative Erfahrung" 101 .
Das weist daraufhin, daß Vcstcr seinem
Lcmbcgriff den empiristischen Erfah-
rungs-Begriff von E.P. Thompson u.a.
zugrundelegt: 102
Diese - sozialistireh-humanistische -
Richtung schätzt theoretische Fortschritte
(bspw. in der Geschichtswissenschaft)
gering.
Dies geht so weit, daß ein BRD-Hcraus-
geber eines Werkes von E.P. Thompson
GtWfiKMjwäKnKtuft* BR* •imtf Oun gntKriW-aoxbar*'
ErAß Ott FWttat* SttW); 196». 34. FN 79 (zu &».
iTarpioa rwwui« 5diM| wnuinp>w»e oka 11 ». 4ib. ««
422.474.
K 2u FrarMurtar Schul» Bau 1977. 389 1 . 391 • 39J. *31 • 433.
BUus 1963. 11 (>3K«9(KlBr* Persc*tlv»> Zun Urrpronfl:
B **UA 1977. 396. FN 71 In* Bang *1 Gitfutd l>OTp*<i).
97 Zaafi 1978.318.
93 Yeslir 1983. I4 ;GkA 19». 16 »» 15ix»)17
99 Vw* 1970. IS ‘C»K«i Bj3 O en V«<iucP. 0« GwOicNf |..)
i» «Mn tangon UAM 1 v«n l«<re*i?cß zu *
103 V«sr 1 970. TW V«wt> 170 22 1 tcWrt - m AmcfAfl «i 0» «i
Anrv 18 U*1« mtj«*lw«tB<t>* Wsn«<vD«lnWi von Tharptcn • <M
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101 ViilU 1930. 10 fVowl zu «rum von V*B« ttfmogcgeMnoi
T>O-pv0VW|rt)
107 V# VW« 1970. 2? f-sn Swr vyjtgR»v«i| GWM-
nnjsmrp'l. 33 «n Th«h«n V\ ttK
9«f»Wkh«n Spot in >
170
gleich gegen den "kalten, abstrahierenden
Blick" der Wissenschaft wettert. 103
Stattdessen sei cs notwendig von den
"Erfahrungen" aus7ugehen. die • so E.P.
Thompson - in ihren eigenen Begriffen
"gültig" seien:
"Das Material muß durch ihn/s/e (den/die
Historikerin, d. Vcrf.) sprechen."
Die sich daraus ergebende
‘wissenschaftliche' Methode sei das
"listening". die "emphatische Fähigkeit
(...) zuzuhören". 104
(Nebenbei bemerkt: Die thompson'schc
Methode des "listening" verweist einmal
mehr auf die Nähe des 'linken' ’Anli-Posi-
tivismus' zur Hermeneutik und zum Hi-
storizismus, 103 s. dazu Anm. 2 und 3.
Mit dem Bezug auf "emphatische Fähig-
kcit(cn)“ des/r Historikerin endet der
Empirismus im subjektivistischen Relati-
vismus: Unfreiwillig bestätigt dies auch
Dieter Groh: "Edward Thompson ist auf-
grund seiner hochtrainieitcn Sensibilität
(sic!) für den historischen Kontext und
seiner politischen Parteinahme (sic!),
(...). vor diesen Gefahren ("Verlust jegli-
cher übergreifender Forschungsperspekti-
ve" etc., d. Verf.) gefeit, nicht aber wären
cs seine 'Nachfolgcrfwte/j'." 106 Denn der
Empirismus kann keinen Maßstab für
den Umgang mit unterschiedlichen Er-
fahrungen bzw. mit unterschiedlichen
Meinungen Uber die gleichen Erfahrun-
gen angeben: 107 "(...); wo. außer in der
Kompetenz des /r Historikers^^, findet
man eine Instanz, die vor 'falschen' Evi-
denzen (und deren Reproduktion als hi-
storische Erkenntnis) schützt?". 108 Die
Proklamation der Evidenz vermeintlich
sicherer Erfahrung 11 ** entzieht so die je
eigene Position der kritischen Überprü-
fung im wissenschaftlichen Diskurs 1 10 .)
Auf der Grundlage dieses cmpiristischcn
Erfahrungsbegriffs ist es Michael Vester
nicht möglich zu erkennen, daß cs von
dem - zur Verarbeitung von Erfahrungen
zur Verfügung sichenden - theoreiisch-
bcgrifflichcn Instrumentarium abhängt,
ob gemachte Erfahrungen klasscnkämp-
fcrisch oder nicht verarbeitet werden.
Vielmehr steht für ihm - aufgrund
Thompsons These, daß Erfahrung in ih-
ren eigenen Begriffen gültig sei - immer
impäiw.7
15W5.23. 19*381. m-K; KfKMW 1981. 117
I . UWWibw 15«. 178 SHa» iS» 479.
105 V(». &-.O.C 1960. S33; incMrMfg« 1S8J. 175. Zu da i
tauavjlw pritschen FMpai i Ömrfii 1502. 77. »men
15». *! (YaMscfHiig Z*l jd V.y>w I Öal/Ucn inj KcU|.
tarmu 1362. 90 1. Strtnjn Mtot 1506o. 3« I (Virar»ufint«rt»l
dM iCö.'rtUfla.mSm Ptdtorut datfi Kcntr.ttH: '»< Ott
»ufenlai £*•»■). Bo-frtt UW. IS. IN 1 1 . 1» 1 (VK««MfW>4rt»4
Ott Bt/ojitnn OsV> r*KK»da«i RuMnil)
105 G» 1960.271 KtnO IVot
107 »raat 1978. 42.
108 DaUig 1901. IC« VJ. inxrtofpot 1 SW. 179
1 K Sff/a» 1 5». 4M . 4S3
1 10 Bnua 1980. 593. $94
schon fest, daß aus Erfahrung das
'Richtige', nämlich revolutionäres Klas-
senbewußtsein. gelernt wird (s. dazu
auch Anm. 17): "die Mängel einer
Kampfstrategie werden praktisch an
Mißerfolgen erfahren; das bewegt eine
Arbeiter//me/iintellij>enz zur Ausarbei-
tung neuer Antworten auf die offenen
Fragen; die neue Strategie wird nun (...)
verbreitet, rezipiert und schließlich in ei-
nem neuen Kampfzyklus praktisch er-
probt." 1 1 1
(Auch Thompson selbst unterstellt ge-
schichtsdeterministisch, daß "Männer
und Frauen" ihre Erfahrungen immer so
verarbeiten, daß sie dadurch zum
"Subjekt" der Geschichte werden. 112
Denn nach Thompson kehren im Begriff
der Erfahrung "Männer und Frauen (...)
wieder als Subjekte (...), die als Perso-
nen ihre determinierenden Stellungen
und Verhältnisse ira Produktionsprozeß
(...) erfahren und die dann diese Erfah-
rung 'handhaben' (...) und die dann (...)
ihrerseits auf Ihre determinierende Si-
tuation bandelnd einwirken." 1 1 3 Also:
Erfahrung - Handhebung - Einwirkung,
wobei allerdings gerade die
"Handhabung" ungeklärt bleibt.]
Die genannte Vorstellung Vesters ent-
spricht der Beschreibung des Bewußt-
seins die Hegel in der "Phänomenologie
des Geistes" gibt:
Das Bewußtsein wird "durch die Aufhe-
bung seiner früheren Gestalten immer
reicher (...), bis es schließlich in das ab-
solute Wissen einmündet. Die Wider-
sprüche im Entwicklungsprozeß des Be-
wußtseins scheinen zunächst durchaus
komplex zu sein," - bei Vester "Mangel",
"Mißerfolge" - "doch erweist sich diese
Komplexität letztlich als die einer
'kumulativen Verinnerlichung, ' denn
während des ganzer Durchgangs durch
seine verschiedenen Gestalten (...) stellt
das Bewußtsein (...) immer nur sein We-
sen unter Beweis." 1 14
Aufgrund dieser Vorstellung gibt es für
Vester immer nur eine Lehre aus den ge-
machten Erfahrungen:
Bspw.: "Die Laisscr-fairc-Politik der Re-
gierung lehrte die Aussichtslosigkeit pro-
tektionistischer Petitionen und verwies
nuf den Weg der Selbsthilfe." 1 13 Aus
der Ignoranz der Regierung gegenüber
den Petitionen für eine protektionistische
Politik könnte aber auch 'gelernt' werden,
daß es nur noch größerer Anstrengungen
bedürfe, um mehr Unterschriften zu
sammeln und so die Regierung doch
noch zu einer Änderung ihrer Politik zu
111 VMM 1970. 1» Zun wtoaTUOm WffK-oCöo/P y*i Vcao
0>«o« -rt m*Mn t uti VbBs 1970. 22. 25.
IlZXflliina 1501. 118 f.;ScMe*<136». 17.
11 JEP. noirsoi zt n KmMwIMI. 116 • Hovo« d Val.
1 14 Brectonan « tl 1973. 278 1.
1 15 VKM 1970.26
bewegen. Und: Ein solcher Mißerfolg
kann auch zu Resignation führen. Und
schließlich besteht noch die Möglichkeit,
aus einer solchen Erfahrung zu 'lernen',
daß das, was sich praktisch durchsetzt
(also die Laisscr-faire-Politik). schon
richtig sein wird. Wieso aus der ge-
machten Erfahrung das eine und nicht
das andere 'gelernt' wurde, kann Mi-
chael Vester nicht erklären. (Die an
dieser Stelle notwendigen, distanzieren-
den Anführungszeichen machen schon
deutlich, daß cs nicht möglich ist, kom-
plexe politische Prozesse als einfachen
Lernprozeß zu betrachten. S. dazu unten
unter 7. a) genauer.]
Wenn der reale, historische Prozeß
('ausnahmsweise') nicht so glatt abläuft,
wie cs das obige einfache Schema (alte
Strategie - Mißerfolge - neue Strategie -
neuer Kampfzyklus) unterstellt, dann
liegt dies nach Vester an der Unterdrük-
kung, die die herrschende Klasse ausübt
("strenge Rcglementi:rung der Freiheiten
der Korrespondenz, der Rede, der Presse,
der Versammlung ur.d der Verbandsbil-
dung"). 116 Dies erklärt aber gar nichts,
denn: Daß eine herrschende Klasse ver-
sucht. ihre Macht aufrecht zu erhalten, ist
keine Ausnahme, sondern die Regel.
Deshalb könnte der Nachweis, daß die
Arbeiterinnenklasse aus den von ihr
gemachten Erfahrungen 'lernt', nur
darin besteht, daß gezeigt wird, daß sie
derartige Schwierigkeiten überwindet.
Genau dies nimmt M. Vester an - aller-
dings ohne es nachzuweisen. Er geht da-
von aus, daß sich am Ende - wenn auch
vielleicht über den Umweg der hegel-
schen "List der Vernunft"* 17 - immer
der Sinn der Geschichte 1 18 durchsetzt:
"Der Weg der sozialen Bewegung gehl
auch heute noch durch viele Täuschun-
gen und Selbsttäuschungen hindurch,
(...). Der Sinn politischen Engagements
erweist sich meist erst nachträglich." Es
"scheint" - It. M. Vester - nur so, "daß
der geschichtliche Prozeß in der ständi-
gen Wiederholung von cmanzipatori-
schen Hoffnung und niederdrückender
Enttäuschung“ abläuft. Tatsächlich zeige
sich, daß "subjektiv als Mißerfolge emp-
fundene Resultate in größerem histori-
schen Zusammenhang emonzipatorischc
Bedeutung haben können. (...). Wenn
auch Geschichte nicht als geradliniger
Fortschritt mehr vcrstchbar ist. so ist
doch die Vorstellung einer auf Umwegen
oder eben 'zyklisch', d.h. kämpfcnd-lcr-
nend, voranschrcitcndcn Befreiung noch
1I6VMMI9T0.22
117 s aapj <*» Krt* te. StföWf l»8>. 17. 19. $ 10*101 Xnu
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ttt «1 GtXWt* 0» TB ay VonnT to SMOO 1978
54 1.
110 V* VMM 1970. 22 rhalo-Kfm SrrrmßVOa], 29 (Töwian
(Hl Zkktiravny » 0**n rHo Snsmakä*:)
denkbar." Abschließend sielli Michael
Vester zu diesen Überlegungen die
"These (auf. Erg. d. Verf.). daß kurzfristi-
ge Mißerfolge in langfristigen Fortschrit-
ten ihre Aufhebung erfahren".* * 9
Wir müssen deshalb fcstzuhalten, daß
sich Vester nicht darauf beschränkt,
++ die Position zu vertreten, es sei mög-
lich, daß auf Niederlagen der Arbeiterin-
nenbewegung auch Siege folgen
und
++ die Auffassung zurückzuweisen, die
Geschichte sei dahingehend prä-determi-
niert. daß sie ein Kreislauf von Hoffnung
und Enttäuschung ohne Fortschritt ist.
Vester beschränkt sich also nicht darauf,'
die These zu vertreten, daß der histori-
sche Prozeß prinzipiell offen ist und sein
jeweiliger Stand konkret wissenschaftlich
untersucht werden kann/muß. Vielmehr
geht cs Vester seinerseits um - eine dem
negativen Geschichtsdeterminismus ent-
gegengesetzte - Sinnproduktion.
Geschichte ist für ihn also - da ja aus Er-
fahrung gelernt wird - ein Prozeß
"‘zyklisch’ (...) voranschrcitende(r) Be-
freiung". Siege und Niederlage der Ar-
bcitcrlnncnbewcgung sind für ihn nicht
einfach Siege und Niederlagen, sondern
deren ‘historischer Sinn' liegt darin, daß
sie (als Momente einer hegelschen Tota-
lität. s. dazu Anm. 18) in "langfristigen
Fortschritten ihre Außiebung erfahren";
darin, daß sie "dem historischen
Trend -120 zur Durchsetzung verhelfen.
Bei Michael Vester entspricht so die
Entwicklung vom "Proletariat als Ob-
jekt" zum "Proletariat als Subjekt" -
so die Überschriften der beiden Teile
seines Werkes* 2 * - dem zwahr'schcn
"gesetzmäßigen Aufstieg von der Klas-
se an sich zur Klasse für sich".
An anderer Stelle beschreibt Vester die
Geschichte als "U -Kurve der Entfrem-
dung“.* 22 Diese Kurve führt von einem
nicht entfremdeten Ursprung über eine
Phase der "kapitalistischen Entfremdung
(...), durch welche die alten sozialen Be-
wegungen hindurch mußten." zurück
"zu den nicht-entfremdeten, phantasie-
vollen und sehr vielseitigen Anfän-
gen “.* 23 Die “große historische Lei-
stung" der Arbeiterinnenklasse besteht in
diesem historischen Rundumschlag
darin, "daß sie die vom Kapitalismus in
Frage gestellte Doifgcmcinschaft, die ja
auf uralte stammcsgcschichtliche Kultur-
Icistungcn (...) zurückgeht, nach einer Pc-
mv*g« wro. asi.
I&Vk» 198X18
121 TM DAS «ICXETtflAT *IS OOÄKT. CM FAK«\>.; Mi
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V*f.
122 Vbw 190. 19- MBvat) d »sl
123 1963. 19* Huvoitv d ftri
riode der Verunsicherung und des Über-
gangs wicderhcrgcstcllt" habe.* 24 Da
Vester den Begriff der Entfremdung
nicht auf den Begriff der Ausbeutung be-
zieht (s. dazu Anm. 19), finden wir also
auch hier den Idealismus der hegeliani-
schen Geschichtsphilosophie / Dialektik
wieder ursprüngliche Einheit - Aufspal-
tung in zwei Seiten eines Widerspruchs
(Entfremdung) - Heraufreinigung zu ei-
ner höheren Einheit (s. dazu Anm. 20).
Da die Einheit als ursprünglich gesetzt
wird, ist sic (bzw. entsprechend: das
Klassenbcwußtscin) in diesem Prozeß la-
tent immer vorhanden - auch ohne empi-
rische Existenz. 125
In ähnlicher Weise spricht auch Dirk
Blasius von einem "Einholen der in
Klassenbahnen verlaufenden Vcrlustge-
schichle von individueller Autonomie.
Spontaneität und Kreativität" 126 . Also
auch hier wieder: ursprüngliche Auto-
nomie, Kreativität etc. - Verlust / Ent-
fremdung - neue Einheit ("Einholen der
(...) Verlustgeschichte“).
Dieter Groh schließlich expliziert zwar
die diesem Ansatz -impliziten ge-
schichtsphilosophischcn Annahmen nicht
und bezieht sich - im Unterschied zu Ve-
ster - auch nicht auf den Begriff den Ent-
fremdung, aber auch er scheint die Ent-
stehung von Klassen(bewußtscin) als
Prozeß der Entfaltung eines einfachen,
hegelianischen Prinzips zu verstehen,
wenn er von einem “Sichhcrausformcn
einer Klasse” 127 spricht. Auch ansonsten
übernimmt er alle Voraussetzungen von
Vcstcrs Ansatz:
Auch Groh betrachtet die Geschichte als
Lernprozeß (s. Anm. 21). Er nimmt an,
daß aus Erfahrung "Interaktionsmuster
(entstehen), die Gruppcnvcrhaltcn prä-
gen, das sich wiederum als politisches
Verhalten artikulieren kann." Dieser Um-
setzungsprozeß von "Erfahrungen“ in
■politisches Verhalten" verlaufe "nicht li-
near, sondern in Zyklen“. 128 Eine kon-
krete Erwähnung finden dann bei ihm al-
lerdings ausschließlich: "soziale und po-
litische Protestfälle; Streikagitation,
Streiks und Streikwellen gleich welcher
Motivierung“ etc.* 29 Das Verhältnis von
Lernprozessen und politischen Aktionen
wird dabei von Groh als Ausdmcks-Ver-
hältnis verstanden (erste drückten sich in
letzten aus). 1 50 Auch hier haben wir also
den doppelten Hegelianismus von evolu-
tionärer Aufwärtsentwicklung (dem nur
124 VMW 196X4.
123 So da *.t* «n Musi J»ej i WO. II. »N 1: 16 l. bi LOC
Ms KOs«£*'»vlfewi’
126 fitasus 1977. 433 • Hartoti d V*d
12? GW 19(0. 17.
128 GW 1978.422 VnWGWit». IS
1290*1 1978.416
1» GW 1978. 422 Xwixmxes*. da (.) WCfcfi n totadan
Aßeron 4nr. AjoSu* !iö*i'
"soziale und politische Protesttälle" etc.,
aber nicht die gegenteiligen Verhaltens-
weisen der Arbeiterinnen ins Auge fal-
len) und expressivem Kausaliiäismodell
(politisches Bewußtsein und politische
Aktionen als "Ausdruck" der
"Erfahrungen" im Produktionsprozeß, zu
diesem Modell s. Anm. 22).
Zu erwähnen ist noch die Kehrseite die-
ses expressiven Kausalitätsmodell: Wäh-
rend sich also einerseits Erfahrung in
Klassenbcwußtscin iusdrUckcn soll, soll
dieser Ansatz umgekehrt die Möglichkeit
bieten, den “unter der Oberfläche verbor-
genen Sinn“ der Erfahrungen
(Erscheinungen) frcizulegen (zu
“decodieren"). 131 Im Rahmen dieser zir-
kulären Argumentation ist damit die Ent-
stehung von Klassenbcwußtscins immer
schon der vorab festgelegte "Sinn" aller
konkreten Erfahrungen. Denn erstes wird
ja als Ausdruck von letzteren betrachtet,
so daß - umgekehrt - als "Sinn" der Letz-
teren die Herbeiführung von Klassenbe-
wußtscin zu "decodieren" ist. .
Wir sehen also, daß bei dem Franklurter
Schule-nahen Ansatz - nicht anders als
bei dem traditionali irischen Ansatz von
H. Zwahr u.a. - die "geschichte der arbei-
ter/nnenbewegung und der proletarischen
praxis“ als "abgesteckte bahn " (s. oben
insb. das Zitat von Blasius) gedacht wird.
Diese Balm verbindet “einen ausgangs-
punkt" - die unentfremdeten Ursprünge -
“mit einem endpunkt (bzw. mit einem
strategischen ziel)" - die Rückkehr zu
den genannten Ursprüngen
"‘Endstation, alles aussteigen!', wie Lenin
ironisch sagte." 132 So ist es denn kein
Wunder, daß sich der Vertreter des erst-
genannten Ansatzes, Dirk Blasius, zu-
stimmend auf den Traditionalisten' H.
Zwahr beziehen kann, 133 während sich
umgekehrt der an der DKP-Thcoric vom
"Staatsmonopolkapilalismus" orientierte
Autor Klaus Dörre seinerseits sich nicht
nur auf H. Zwahr, sondern auch auf den
’undogmatischen' EP. Thompson be-
zieht^ 4 .
b) Die stratcgischc(n) Schlußfolge-
rungen)
Da also das Verständnis von der Entste-
hung von Klastenbcwußtscin bei
'Undogmatischen’ und ‘Orthodoxen’ ähn-
lich, nämlich geschichtsdctcrministisch,
ist. ist auch die politische Strategie ähn-
lich. Der Unterschied zwischen beiden
Strategien beschränkt sich auf die Diffe-
renz zwischen einer eher “auto- oder he-
tero-pädagogischen" Konzeption des
Klassenkampfes: "also zwischen der vor-
131 GW l »3. 23 Ll*»
132 PWm 197&1. 64. l* 61 - Nmotfi (0.
133Btula 1990.111. 167.0121.
134 Dtas 1987. 106. fN 111.
172
Stellung, daß die zeit und die crfahning
im innem der arbeiter/nne/ibewegung
selbst automatisch für die revolution ar-
beiten, und der Vorstellung. daß man re-
volutionäre theorie von außen her an die
arbeiter/nnenbewegung herantragen
müsse, um diese auf 'den richtigen weg
zu bringen*." 135
Daher soll die subjektive Entscheidung
zur Auflehnung (Revolution) durch
(Selbst- oder Fremd)-" Aufklärung und
Belehrung des Proletariats“ herbeigeführt
werden . 1
Gemäß der 'undogmatischen' Variante
soll die spektakuläre Aktion den aufklä-
rerischen Effekt verstärken oder über-
haupt erst erzeugen. Sie ist - bei Dutsch-
ke/Krahl - der "voluntaristische Subjekti-
vismus (...) organisierter Einzclkämpfe-
r/rme/r". * 3 ' [Auch wenn sich seit 1967
die Radikalität der Aklions/orme/t ge-
steigert hat (die von Dutschke/Krahl da-
mals für die Metropolen abgelehnten
Schüsse, sind inzwischen auch hier gefal-
len), kommt cs auch heute bei Szene-
Diskussionen über de Sinnhaftigkcit von
Aktionen weniger auf deren Effektivität
für den revolutionären Prozeß, als viel-
mehr darauf an. ob sie die subjektive
■Wut im Bauch' zum Ausdruck bringen.]
- Die Aufklärungsmethoden des hetero-
pädagogischen Ansatzes haben demge-
genüber einen eher altbackenen Charme.
Diese Ähnlichkeit ist kein Zufall: Denn
die Alternative von Spontaneismus und
Dogmatismus ist dirin "komplementär,
daß sie sich einem Subjektkonzept ver-
dankt, welches einmal 'cmpiristisch',
einmal 'transzendental* als Ermögli-
chuugsgiuiid und Antizipation des ge-
schichtlichen Prozesses gefaßt ist.“* 38
Der Linksradikalismus bezieht sich -
'empiristisch' - auf die spontane Aktion
von Individuen, die 'Orthodoxie" bezieht
sich - 'transzendental' - auf den ver-
meintlich zwangsläufigen Gang der Ge-
schichte in Richtung Kommunismus, der
von der Arbeiterklasse als Subjekt der
Geschichte exekutiert werde.
Beide unterstellen metaphysisch, "daß
'die Gesellschaft', oder zumindest das,
was sic für ihr lebendiges und dynami-
sches Element halten (...), von Natur aus
/um Sozialismus strebt und ihn herhei-
ruft. sei es
136 So <* Kr» vm MftSÜi» U?2. 64 (Horrtrt fl V«d ) Bl CK
Kt roeun Mi SbtMic- {S mro<u> I>«oj
OKWSEWSHKAr**« «s iü
3 und» «v mm/i iwi) <<f iw
ö-i 'tnftpwaiMr «mm <*• Hn-«« «1 ttöhmoi 1963. 93?
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k« Kr ’O» fett* CttKUWMdV*. lOHft K (HtW> <J
v* 1 )
1J? OubfiUMaN 196?. I» • Mevtfv fl V«1. V# Oaru: KrsMhui
IM7.
IjaHmpalO Kämmt 1980.201.
++ weil die Arbcit£Rklassc (so. wie Par-
tei und Gewerkschaft sie vertreten) eine
zentrale Stellung hat,
oder
++ (wenn man^rau 'Abschied vom Pro-
letariat’ genommen hat) weil das Streben
nach Selbstverwaltung angeblich allen
'Subjekten' (...) gemeinsam ist (...)." 139
Der zentrale Schwachpunkt jeder aufklä-
rerischen (sei es nun auto- oder hctcro-
pädagogischen) Konzeption des revolu-
tionären Kampfes besteht nun aber darin,
daß es nicht ausreicht, den Frauen.
Schwarzen und Arbeiterinnen zu sagen,
daß der Kapitalismus, das Patriarchat und
der Rassismus "böse' sind - das wissen sic
im Zwcifclsfall selbst. Die Ursache für
den Mißerfolg revolutionärer Politik ist
also nicht allein darin zu suchen, daß
nicht genug "Aufklärung"* 4 *^ . se j es j„
der biederen DKP/SEW-Variante, sei es
in der linksradikalen Variante ä la Focus-
Theorie - betrieben würde. Vielmehr las-
sen sich Gründe dafür angeben, daß
gerade eine solche (selbst- oder
fremdj-aufkläre rische Konzeption von
Politik den von ihr angestrebten revo-
lutionären Erfolg verfehlen muß :
7. Wider eine aujkläre rische
(pädagogische) Konzeption des revolu-
tionären Kampfes!
a) Zur Spezifik des Politischen
Der Begriff des Lernprozesses ist - ohne
daß die Vertreter dieses Ansatzes auf ei-
ne spezifische Definition Bezug nehmen
würden - der pädagogischen Diskussion
entliehen und von dort auf den politi-
schen Prozeß übertragen worden. Dies
wäre dann unproblematisch, wenn dabei
(bzw. in Definition dieses Begriffs) nach-
gewiesen werden würde, daß dieser Be-
griff dem politischen Prozeß adäquat ist.
Dieser Nachweis erfolgt aber nicht. Statt-
dessen wird dieser Begriff im Sinne sei-
nes ursprünglichen Bedeutungsfeldes
verwandt. Thompson sieht den Prozeß
der Bildung von Klassenbewußtsein im
unmittelbaren Kontext von "elementaren
Unterricht in Lesen, Schreiben und
Rechnen" sowie "geistiger Bildung".****
So zeigt sich, daß mit dem Begriff
"I.emprozeß" die Entstehung
(revolutionären) Klassenbewußtseins auf
die Akkumulation von Wissen
("kumulative Erfahrung"* 42 ) reduziert
wird (s. dazu Anm. 23).
Sicherlich sind ein bestimmtes Wissen
und bestimmte Kulturfcrtigkciten Vor-
aussetzung für bestimmte Formen politi-
schen Engagements. Trotzdem läßt sich
139 B*af 1981. 361 -Howna Veil.
I »OS» 3« KM PIT 1593. KOI
141 IXWM1N3. «71
142 t-atu 1980 10
nicht sagen, daß der gesamte politische
Prozeß / die Produktion politischer Über-
zeugungen nur in derartiger Weitergabe
und Aneignung von Wissen und Fertig-
keiten besteht. Be: Demonstrationen,
Wahlkämpfen, Streiks, Aufständen etc.
spielen noch jede Menge Elemente
(Gemeinschaftsgefühl etc.), die sich mit
einer solchen beschränkten pädagogi-
schen Sichtweise nicht analysieren las-
sen. eine wichtige Rclle.
Dabei ist dann zu beachten, daß
(politische) "Überzeugungsbildung (...)
Aussagen. Werturteile, Normen ctc. (...)
nicht bzw. nicht 'in erster Linie' nach ih-
rer objektiven Adäquanz (Wahrheit),
sondern nach ihrer subjektiven Funktio-
nalität ('Sinnhaftigkeit'), (...) beurteilt
(werden)." 143 Auch Frigga Haug betont,
daß 'Lernen* aus 'Erfahrung* durchaus
nicht zur Entstehung revolutionären Be-
wußtseins führen müsse, sondern auch
zur Einrichtung in den bestehenden Ver-
hältnissen führen kenne und z.Z. auch
häufig führe. 144
Mit der Annahme einer letztlich unpro-
blematischen Umsetzung von
"Erfahrung" in Klasscnbcwußtscin wird
eine differenzierte Analyse von Bewußt-
scinsprozcsscn verhindert. Denn alles,
was der angenommen (pädagogischen)
Bahn nicht entspricht, muß tendenziell
ignoricit werden. Denn tatsächliche
■Rückfälle* - also nicht bloße 'Umwege* -
des Bewußtseins haben im Rahmen der
Unterstellung eines kumulativen (sich
anhäufenden) Charakters von
"Erfahrung7"Lemprozessen" keinen
Platz. So kann im Rahmen dieses Ansat-
zes das 'Abhandenkommen' von einmal
entstandenem Klassenbewußtsein nicht
analysiert werden: "Wenn die [englische,
d. Verf.J Arbeiter/zmenklasse gemäß sei-
nem [Thompsons, d. Vcrf.] Verständnis
1832 'made' war, was wurde dann in den
folgenden Jahrzehnten des Übergangs zu
einer integrierten, domestizierten und re-
formistisch orientierten Bewegung aus
dieser 'Klasse*, als ihr das Klassenbe-
wußtsein offensichtlich abhanden
kam?"* 45
Im Gegensatz zur hier kritisierten Auf-
fassung vom Lernprozeß setzt der Be-
ßrirr "politischer Prozeß" nicht ge-
schicYusphilosophisch die Entstehung
von Klasscnbcwußtscin voraus, sondern
läßt offen, ob aus gemachten Erfahrun-
gen Resignation oder Widerstand resul-
tieren.* 4 ” Denn ein politischer Prozeß
produziert Politik (herrschende oder wi-
143 Krau« 1567. III.
144 F. Haug 1950. 1761
145 LnSmMigw 1588 17S
148 V* P80W0 1*9. 16* 7**"n<tg « W« WYBÜ AnOflt. <W
•MM. uw «M** Btfr&no » ' I <*«« »•«■ttg*’ n
nn ms ft« «i ul wöMum e» **
173
dcrständige); ein Lernprozeß produziert
dagegen Wissen (was von den Lempro-
zeßiheorelikern - wie gezeigt - per se mit
widerständiger Handlungsfähigkeit!
identifiziert wird). So wird mit der Zu-
rückweisung der ideologischen Betrach-
tung der Geschichte als Lernprozeß ein
Feld für die wissenschaftliche Untersu-
chung der politischen Verarbeitungsfä-
higkeit der je unterschiedlichen politi-
schen Kräfte in den jeweiligen konkreten
Situationen 147 eröffnet.
Daher ist der oten zitierten Auffassung
von Groh. daß sich Lernprozesse in Poli-
tik ausdrUcktcn* 4 ^, cntgcgcnzuhaltcn,
daß es "not consciousness (or ideclogy)
(is) that produce politics. but politics that
producc consiousness". Denn es ist die
diskursive Struktur der politischen Spra-
che. welche überhaupt erst (Klassen)-
'lnteresse(n)’ schafft 149 . Demgegenüber
könnte man/frau zwar sagen, daß "die
Umstände" - politics - "ebensosehr die
Menschen" - bzw. deren Bewußtsein -
"wie die Menschen die Umstände ma-
chen". 150 Aber 'jene Umstande " stellen
dabei "den ausschlaggebenden Faktor
dar”. 151 Denn die "Summe von Produk-
tivkräften, Kapitalien und sozialen Ver-
kehrsformen" werden von jedem
"Individuum und jede(r) Generation
als etwas Gegebenes vor-
gef(u)nde(n)" 152 . "Die Menschen ma-
chen ihre eigene Geschichte" also nur in-
sofern als sie sie "nicht aus freien Stüc-
ken, nicht unter selbstgewählten, sondern
unter unmittelbar Vorgefundenen, gege-
benen und überlieferten Umständen
(machen). Die Tradition aller Toten Ge-
schlechter lastet wie ein Alp auf dem Ge-
hirne der Lebenden." 153 Wissenschaft-
lich betrachtet, bleibt also von dem aus
Erfahrung gespeisten freien Willen des
freien Lcm-Subjekts nichts übrig; das,
was aus Erfahrung 'gelernt' wird, ist im-
mer schon von den politischen Umstän-
den vorgeprügt. Diese sind es also, die
der differenzierten Untersuchung bedür-
fen.
b) Zur Kritik des empiristischen Er-
fahrungsbogrifTs: "All experience ist
penetrated bv cultural and ideological
categories" 154
1*7 (hfl u gmu OnJ * kant g**tt Von* an fiw »m
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1*9 ShOibi Jxm l»3b. II. 22
151 Scftna 19». 172
152 Usntngab im »-Mtowli 0 V**
153 Um 1SSV52. 115
151 Kal 1981.383
Wie schon mehrfach erwähnt, unterstel-
len die Lemprozeßtheoretiker eine letzt-
lich unproblematische Umsetzung von
Erfahrung in Klassenbewußtsein.
Diese Unterstellung ist aber nicht haltbar.
Denn revolutionäres Bewußtsein entsteht
nicht durch die bloße Erfahrung von Un-
terdrückung ("Therc arc no simple rules
of translation form social to the politi-
cal." 155 ). 'Bewußtsein kann nicht auf
Erfahrung bezogen werden, ohne daß ei-
ne besondere Sprache dazwischentritt,
die das Verständnis dieser Erfahrungen
organisiert. Es ist wichtig zu betonen,
daß mehr als eine Sprache imstande ist.
denselben Erfahrungsgehalt zu artikulie-
ren. 156 Die Klassensprache war nicht
bloß eine Verbalisierung von Wahrneh-
mungen oder das Bewußtwerden existen-
tieller Tatsachen, wie es bestimmte mar-
xistische oder soziologische Traditionen
angenommen haben. Sie war auch nicht
bloß die Artikulation der kumulierten Er-
fahrungen einer besonderen Form von
Klassenverhältnissen, sondern sic wurde
innerhalb einer komplexen Rhetorik me-
taphorischer Assoziationen, kausaler Fol-
gerungen und phantasievoller Konstruk-
tionen aufgebaut und gepräg:." 157 Hier
gilt also ein ähnlicher Einwand wie ge-
gen den Empirismus: "(...) wenn
mw/frau in bestimmten elementaren Lc-
benssiluationcn etwas lernt, so lernt
man ffrau eben nicht eigentlich aus der
'Erfahrung’, sondern aus der Verarbeitung
der Erfahrung, d.h. aufgrund einer Kon-
frontation mit Begriffen, die dieser Er-
fahrung überhaupt erst einen 'Sinn' ge-
ben. Wo aber diese Begriffe und Gedan-
ken Herkommen, die somit die Erfahrung
strukturieren, ist natürlich eine wichtige
und offene Frage, aber sie kommen ganz
sicher nicht aus dem Innern des betref-
fenden Individuums." 15 ^ Letzteres ist
aber genau die Position der Vertreter der
These vom Lernprozeß: "Die Aufgabe
des/r Sozijlhistorikers///! sei es vor al-
lem, so Thompsons methodologische
Prämisse, ‘ich (...) in die Handlungen der
geschichtlichen Akteure hineinzu/u/rien.
ihre Innenseite sich zu eigen zu machen.
(...)." 159 "Geschichte 'von unten' zu
schreiben', bedeutet aber auch Ge-
schichte \on innen' zu schreiben, die
subjektiver. Erfahrungen und Leiden der
von ihr Bciroffcncn und sic Gestaltenden
wahrzunehmen, ja sie sich in einem Pro-
iss StaOrwn Srm IW293. 242
154 (V* EI«*« 1983. 17: *Otr oitKhexWÖ.. du rcrxOaT«
miBra CMarM r tVM Ul’ rt «Ml mti Pc«* na
(rtaOi ma Ott Xkmrfiuarrxng «gK. Krün drt • unpttfit •
Mi »d «uta QuMnUstamirg rri »wxriaMn«) « MtanW
mmmgmau PMm KUot wn Uon' 101 fm.
avui
157 S**twi iS«* 1*3 I • H«vo«ti 0 Virf \\f SJ«*n«n
liSS^jTO'WmlSWi.X«
158 GW 19». 7-Havatt. d V«1
zeß nachträglicher sympathisierender
Identifikation anzucigncii." 160
c) Die Teleologie des Lernprozesses
Die Vorstellung über die Herausbildung
von Klassenbewußtsein als Lernprozeß
unterstellt - wie bereits erwähnt - ein Ziel
(nämlich das Ende von M. Vesters “U-
Kurve": die Rückkehr zu den "nicht-ent-
fremeeten [...) Aofängen"). Eine solche
teleologische Auffassung ist eine ideolo-
gische Vorstellung, denn daß die Ge-
schichte ein Ziel hat, kann wissenschaft-
lich nicht bewiesen werden:
Denn "auch jene marxistischen Konzep-
tionen". die einen Sinn in der Geschichte
erblicken wollen, können dies nur, indem
sie die Ansicht Vertreter, daß "jede Epo-
che ihren Sinn in der darauffolgenden
findet, in deren wesentlichem Prinzip
dasjenige der jeweils vorangegangenen
'aufgehoben' ist, bis schließlich der ge-
schichtliche Prozeß (...) zu seinem Höhe-
punkt und Abschluß kommt". Bei Hegel
ist dieser Abschluß die bürgerliche Ge-
sellschaft 161 . bei den erwähnten marxis-
tischen Konzeptionen der Kommunis-
mus, oder - in der stalinschcn Variante
faktisch nur - der realsozialistische "Staat
des ganzen Volkes". Die Geschichte ist
aber nie zu Ende, auch nicht im Kommu-
nismus. 16 ^ Idealismus bleibt eben Idea-
lismus, auch wenn er ‘umgcdrclu’ wurde,
also seine Richtung geändert wurde. 163
Die erwähnten marxistischen Konzeptio-
nen gelangen entweder dahin, "das Prole-
tariat in die Rolle des Hegclschen
'Weltgeistes' cinzusetzen, also den Sinn
der Geschichte in der Emanzipation des
Prolcoriats zu erblicken, oder aber die
Entwicklung der Produktivkräfte als be-
wegendes Moment und Sinn des histori-
schen Prozesses (zu) hypostatisicrcn. In-
des läßt sich ein durchgängiger Sinn der
Geschichte immer nur retrospektiv . vom
Standpunkt der” - jeweils
"gegenwärtigen Epoche au« konsumieren,
welche dann als das 'Produkt' der abge-
laufenen Prozesse erscheint". Für den/die
Gesellschaftswissenschaftlerln "ergibt
sich aus dieser Betrachtungsweise
(folgen)dcr cntscheidende(r) Nachteil":
Der/die Wissenschaftlerin ist angehalien.
"die bestehenden gesellschaftlichen Ver-
hältnisse als absolutes Faktum hinzunch-
men (...), weil auf sie sich der Ge-
schichtssinn bezieht". Daher vermag
der/die Wissenschaftlern "die aktuellen
Tendenzen nicht zu begreifen,” da er /sie
diese Tendenzen "bloß dem vorgegebe-
160 GW 19». 16 • Htavo-Tt 0 V«1
141 Sdr«* iS». 4 » - iO
142 V*Ba*ur l»4. 629 O« Gtsnött habt Vr jteciMs En«.
IM« 0r. Uvrahw >«re Uio ön Po«en n 1ora*jxn»«arv
•m « ag, ääß d» Komro-ui ndf au trat 0*
rOgmtarai yiolztaUOm: WdnfrCrti» lOJi» «nj*r rn
tu VtrafMtu-fl. Ivtn T«™Yowm« (_>’
143
174
nen Sinn unterordnen kann, den sie be-
stätigen müssen, um nicht als Un-Sinn zu
erscheinen". Weil der Un-Sinn den Sinn
gefährdet, muß er - im Rahmen dieser
Konzeption - zurückgewiesen werden.
Und "zwar nicht dadurch, daß man /frau
die Differenz zum Sinn auf theoreti-
schem Niveau konstatiert, sondern durch
massive Intervention in den gesellschaft-
lichen Bereich selbst, welche jede radika-
le Opposition zu vernichten bestrebt sein
muß. (...). Prinzipiell in der gleichen Si-
tuation befindet sich eine marxistische
Gcschichtskonzcption, die an der Sinnka-
tegorie festhält, (...); denn auch in diesem
Fall verhindert die Unterordnung der hi-
storischen Bewegung unter den Sinn der
Befreiung des Proletariats, die kausalen
gesellschaftlichen Zusammenhänge in
einem konkreten geschichtlichen Augen-
blick tatsächlich zu begreifen, um in ge-
nauer Kenntnis der aktuellen Konjunktur
politisch intervenieren zu können,
Die Vorstellung von einem Lemzicl bzw.
Ziel der Geschichte schwächt also - ent-
gegen ihrem eigenen Anspruch. "Raum
für Initiative und Kreativität der Masse
der Menschen" schaffen zu wollen 165 -
den Kampf ab. Denn sie unterstellt einen
”a priori auf den Sieg der Vernunft oder
den Triumph der klassenlosen Gesell-
schaft angelegten Proze(B): sie beinhaltet
(...) eine lineare Aufwärtsentwicklung.
(...) den Mythos des Fortschritts, mit dem
die Massen ideologisch beim jeweiligen"
- als notwendige Etappe auf dem Weg
des Fortschritts darEcstellten - "'System 1
gehalten werden.” 166 So läuft "(...) das
Vcnraucn auf die iimiiancntc Fortschritt-
lichkeit und Finalität des Prozesses letz-
ten Endes auf eine Apologie des Beste-
henden hinaus. Jede Erscheinung ist ein
notwendiges Moment in der Verwirkli-
chung des Wesens.' 167 "Den Sinn der
Geschichte zu konstruieren, bringt immer
auch das Risiko mit sich, die Geschichte
in einer 'amtlichen Ewigkeit' zu fixie-
ren." 16 »
d) Zur Kritik des 'Ausdruekismus' 169
Aber von den hier einer Kritik unterzo-
genen Ansätzen wird nicht nur ein Ziel
der Geschichte behauptet, sondern dieses
Ziel ist - ganz hegelianisch - bereits im
Ursprung der Geschichte (M. Vesters
"nicht-cntfremdeten [...] Anfängen")
keimhaft angelegt. Gareth Stcdman Jones
bezeichnet ein solches Verständnis von
Klassenbewußtsein als "essentiell" - von
164 Sehr«* IS«. 4» B. - Htoorn iO.
165 »OTaoo .
I66T>rtmt1M1.4J
16fV».Scf«Wl9?«. 55
16 « Pfc-oi 3 lS 6 l.se
l59N*r*rl97}.S3
Essenz = Wesen oder Geist einer Sache -
also das revolutionäre Klassenbewußt-
sein als Wesen/Geist der Arbeiterinnen-
klasse. Das Verhältnis zwischen Klasse
und Bewußtsein wird dabei als Aus-
drucksverhältnis (expressiv) gefaßt. Sted-
man Jones schreibt: "What has been pro-
blcmatic has been the way in which thesc
two types of evidcncc (nämlich
"experience” und ’consciousness". d.
Vcrf.) have been connected. (...). Philo-
sophical assumption - cxplicite or unwit-
ting - has supplied the missing links by
inieijecting terms likc 'experience' or
’consciousncss'. tying the two poles to-
gether in a way which seems intuitively
obvious. What thesc terms suggest is that
the rclationship betven the two sorts of
evidence is one simple expression. The
strenger term ’consciousness', in its usage
by social historians. is Hegelian in origin.
It assumes an objcctivc and necessary
process in which what is latent will be
madc manifest, (...). Both conccpts imply
that language is a simply medium
thought which 'experience' tinds expres-
sion - (...). What this approach cannot
acknowledge is all the criticism which
has been levclled at it since the broader
singniftance of Saussure's work 170 was
unterstood - the matcriality of language
itsclf. (...). Wc cannot therefore decodc
political language io reach a primal and
material expression of interest since it is
the discursive structure of political lan-
guage which conceives and defines in-
terest in first place. What we must there-
forc do is to study the production of in-
terest, identification, gricvancc and aspi-
ration within political languages them-
sclf." 171
Und Stuart Hall wendet ein. daß das re-
volutionäre Klassenbewußtsein durchaus
nicht ist “only waiting to ’speak out".
"But the whole rccotd of socialism, up to
and especially in the present moment. is
against too-simple ’populism'. A non-rc-
ductive Marxist theory must cntail facing
up to all that is involved in saying that
socialism has to be constructed by a
real political practice. not mcrely
’rediscovered' in a recuperative historical
reflection.'' 172 Und "Social alliances do
not simply happen, they are brough into
being and rc-creatcd by the construction
and periodic reconstmction of a common
political discoursc.” 173
e) Das 'falsche Bewußtsein' ist
'entsprechendes' Bewußtsein
Die ideologische Hegemonie der Herr-
schenden ist nicht eine Frage des
'falschen Bewußtseins' der Beherrsch-
ten. 174 Denn Ideologien sind weder nur
falsch noch reines Bewußtsein.
Das herrschende Bewußtseins ist viel-
mehr (der Situation) entsprechendes
(Marx) 175 und damit "praktisch richti-
ges" 176 Bewußtsein: "Abwarten und
Orientierungslosigkeit (der unterdrückten
Massen, d. Verf.) nicht aus Mangel an
Einschätzungsvermögen, sondern aus
realistischer Einschätzung schwieriger
Kampibedingungen, aus enttäuschter
Hoffnung.” 177
Im übrigen haben Ideologien - auch die.
von denen die Unterdrückten beherrscht
werden - materiellen Charakter in
Form von schulischen, juristischen, reli-
giösen Apparaten. Sozialversicherungen
etc. und deren Praxen. 178 Auch die Un-
terdrückten sind deshalb nie 'außen', son-
dern schon immer 'innen', im Staat.
179
Revolutionäres Bewußtsein entsteht also
gerade nicht dadurch, daß diejenigen, die
versuchen, zu solchem beizutragen, sich
darauf beschränken, 'falsches' durch
'richtiges' Bewußtsein ersetzen zu wollen.
Vielmehr müssen sie sich zur Realisie-
rung ihrer Absicht mit dem ganzen Kom-
plex von Staatsintcr-entionisraus, Mate-
rialität von Ideologien, Zugeständnissen
der Herrschenden auseinandersetzen und
eine adäquate Antwort entwickeln und
praktizieren (vgl. dazu auch Anm.
13). 180 "Die Philosophen haben die
173 SHdmo Jom 1SB&B3. 2S3 • d Vnt. *«*j* n«
Ktau» xtnt* S*Jmn Jam I* Hn «ms. «Bit a BuMd
u a Oson» uff* fan at m enttsge raUty. »* c*W*l «0*1
D «n>Bn kngjajm C dass t-an tu rtfun c4 petto nffxr tun f«
ct [O*»-* “to. r» rj«u. i* rttc . 1 (Steine iv«. 101 ».
8)
174 S» PUrw / CI Kantrt* 1». 105 Ein -OKtaptatat*
d* sdi ml tUrrm •* “-I t/ I HKtt, UwUMT,
■$d*rt BC bucft-hw. vtmahlln^« - d* On cbfiU»*'
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gtMtucmxi» BmJMWWTw KXanttaa' (Um i«9. 8 -
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176 N*n*z 1979.60.
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V.dOJmu4 snd (.. >• «Wh* 1983, 77).
177 W«hC*) 1965* 78
1?« AVuSJ* l&MVTO. 1 19 • 123. OB • 149; BMh» 1978. 152 1. I«,
161: BaB* 1»7. 2«. 211 1; PH 1900. KC. UM Uttnm* 1974,
268.SudrmJam197l.4S
179 ftslfoi 1978. 152. Lada* 1978. 178. 1» I. 347:
ScnC*W*7#l1M1.57I
1» ATutta 1976. 129 I K<t*> »aWd* ’AJ« ibrodtcM
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naUrü* 1 tr* Km 7 M. Sa a**f OxO) du
(.1 Km Gand n» Sog*, cd* mW t» d* U-aK C)
175
W< it nur verschieden interpretiert, es
köi imt drauf an sie zu venä/ufern."* 81
Re olutionäres Bewußtsein unterscheidet
siel gerade dadurch von reformisti-
sch m. daß es nicht meint, eine Wirkung
ohr. : ihre Ursichc (also bspw. die
'so/ ale Ungleichheit' ohne das Privatei-
gen um an den Produktionsmitteln) be-
scit gen zu können. 1 ® 2 Was ist nun die
Jrs iche der ideologischen Hegemonie
der Herrschenden? Das herrschende Be-
wul tsein ist nicht (nur) deshalb herr-
sch' ndes Bewußtsein, weil cs Lüge ist.
Vie mehr kann cs nur herrschen, weil
sein ; 'Lügen' mit "vergesellschaftcr.de(n)
Elci icnten" verknüpft sind. Daß heißt
abei daß es ein; hegemonie-fähige, re-
voli tionäre Praxis nur gibt, wenn “die
verj ;sellschaftende Elemente aus ihrer
idec logischen Anordnung herausgclöst
und umorganisiert" werden. D.h. "die
idec ogisch durchregelten Praxen so
umorganisicr(cn), daß der Effekt nicht
der Zustimmung, sondern eines Bruchs
mit den bürgerlichen Produktionsverhält-
nissen entsteht," 183 Daß es dafür nicht
ausreicht, einzelne Elemente der herr-
schenden Ordnung auszutauschen oder
um/.ukehren, sondern daß die Struktur
dieser Ordnung, die Basis selbst verän-
dert werden muß, ist schon in der
"Internationale" formuliert ("die Welt ih-
re Basis verändern wird")...* 84
Soweit die hier kritisierten Konzeptionen
die Existenz und Notwendigkeit einer re-
volutionären Avantgarde nicht verbaliter
verwerfen (wie teilweise der auto-päd-
agogische Ansatz), müssen sic (aufgrund
ihrer Ignoranz gegenüber der Materialität
von Ideologien) die Avantgarde so be-
stimmen, daß die Avantgarde im Gegen-
satz zu den Massen über das 'richtige' Be-
wußtsein verfügt. 185 Denn die Avant-
garde hat - nach diesen Konzeptionen -
ja nicht einen spezifisch politischen
Prozeß, sondern einen Lernprozeß
vor jiizu treiben, also Aufklärung zu
betreiben. Bei Lenin ist demgegenüber
die Avantgarde dahingehend bestimmt,
daß sie den Massen nicht eine Idee, son-
dern einen Schritt voraus ist* 8 *\
f) Immunisierung gegen Kritik
Wenn nun das Lcmziel ("Klasse ftlr sich"
[Zwahr] bzw. die 'Rückkehr zu den un-
cntlrcmdctcn Anfängen' (Vcstcr]) nicht
erreicht wird, dann kann dies nach dieser
hegelianischen Vorstellung nicht an
Schwächen in der Arbcitcrlnnenbewe-
o« »•> cm au Dmnw? «Yu U< Hmatanan r«
dodiuU.'#ta»srii.<MM|.
Ul Un IMS. 7.
lttMMMMM3.197.FN»
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IW * thmm 1963. 137. fNS
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IBS 1»*1 0. n ßJtuav i»7b. 65 uxj 1 ?7?c. «5
gung bzw. der Linken liegen (denn "an
sich" ist ja alles klar), sondern nur an äu-
ßeren Hindernissen. So erklärt bspw.
M. Vcstcr das gegenwärtige Pehlen von
"kämpferischen und Uber den Kapitalis-
mus hinausweisenden Potenzen" mit der
“über hundertjährigen Erfahrung der Re-
pression, der Disziplinierung und der In-
tegration der Arbciler/zmenbcwc-
gung".* 87 Und hinsichtlich des Chartis-
mus erklär. Vester den "Verlust offensi-
ver Perspektiven” u.a damit, daß das
"Establishment die Entwicklung eines
Kommunikationsyslcms, in denen diese
Erfahningen sich artikulieren und reali-
sieren konnten, ständig unterbrach"* 88 .
Die Tatsache, daß die Herrschenden ver-
suchen. ihre Macht zu erhalten, erklärt
aber noch nicht, wieso die Beherrschten
keine effektiveren Mittel entwickeln, um
sich trotzdem durchzusetzen.
Deshalb bedeutet die Zurückweisung der
ideologischen These vom Lernprozeß,
den Blick auf innere Schwächen der Un-
ken / der Arbeiterinnenbewegung, die ge-
machten Erfahrungen adäquat zu verar-
beiten, - damit auf die-Möglichkeit, diese
Schwächen zu beheben (!) - frei zu ma-
chen. Gegen eine Sichtweise wie der Ve-
sters. die oft mit dem Begriff der sozialen
Kontrolle gefaßt wird (dieser Begriff be-
zeichnet die Fähigkeit der Herrschenden
zur 'Manipulation' des Bewußtseins der
Beherrschten - vorzugsweise durch Um-
strukturierungen im "Freizeit''-Bereich
[Femsehkonsum, Masscn-Zuschauer-
sport ctc.J ist schließlich folgendes ein-
zuwenden:
++ Sic verschiebt die gesellschaftliche
Basis (als Oit / Ursache von Herrschaft)
von der Produktionssphäre in die Kon-
1 ÖQ
sumtionssphärc. 1
++ Sie umerstellt feewu/Jr-manipulativen
Eingriffe auch dort wo bspw. veränderte
Freizeit-Gewohnheiten nur die Folge
veränderter Produktionstedingungen
(bspw. Arbeitszeiten) oder gor im Inter-
esse der Aibcitcrlnncnklassc sind.* 9 ®
++ Sie blendet Widerstand gegen Herr-
schaft bzw. "soziale Kontrolle" entweder
aus (These von der Totalität) oder aber
betrachtet ihn. wenn, dann gleich als au-
ßergewöhnlich (= revolutionäre Situa-
tion), während tatsächlich d»r Klassen-
kampf / Widerstand permanent ist. ohne
notwendigerweise revolutionär zu
sein.' 9 '
g) Gegenidentifizierung mit einer pro-
letarischen oder revolutionären Päd-
agogik als Integration
1J7VMHM9». 4.
IM SoOtoy Jene 1977. 66. 731.
1 jO S»3nin Xrm 1977. 67 - 74.
1flSlMnjnJWrt1977.M
Wie vorstehend gezeigt, kann ausgehend
von einer pädagogischen Konzeption
des (ideologischen) Klassenkampfes ge-
rade kein revolutionäres Klassenbewußt-
sein entwickelt werden. Diese These soll
im folgenden unter Rückgriff auf Michel
Pßcheux’ Begriff der
"Gcgcnidcntifizicrung" weiter begründet
werden.
(Vesier betont bspw. die Bedeutung des
"Aufbau(s) einer Grgenöffcntlichung
und einer Gegenorganisation"* 92 für die
Entstehung von Klasscnbcwußtscin. Dies
ist in einer Weise sicherlich richtig. Was
dabei aber zu kurz kommt, ist. daß eine
bloße Umkehrung der bürgerlichen Insti-
tutionen etc. eben in der Tat nur
'dagegen' ist. aber noch keine eigenstän-
dige revolutionäre Praxis bedeutete. Vgl.
dazu den Unterschied zwischen einer so-
zialcfcmokratischen oder statistischen
Staatspartei einerseits und der lenini-
sehen Avamgardepartei-Konzcption an-
dererseits.)
Der Begriff der “Gegenidentifizienmg"
ist dabei so definiert, daß mit ihm ein In-
tegrationseffekt beschrieben wird, der
darin besteht, "daß mit ihr (der Gegeni-
dentifikation, d. Verf.) der Arbeitcr/n-
nenkiasse scheinbar eine Identität an-
geboten (wird), mit der sie sich vom
Bürger/nne/itum abgrenzen kann,
letztlich aber doch wieder nur in des-
sen Kulturhegemonie integriert
wird." 193 Es handelt sich also um einen
(scheinbaren) Freiraum innerhalb der
herrschenden ideologischen Mecha-
nismen.
Folgenden These soll also nachstehend
begründet werden: Die Auffassung, die
Entstehung von (revolutionärem) Klas-
senbewußtsein sei ein "LE/f/Vprozcß",
läßt sich sinnvoll mit dem Begriff der
"Gcgcnidcntifizicrung" analysieren und
kritisieren. Damit wird gezeigt, daß diese
Auffassung - entgegen ihrem eigenen
Anspruch - gerade nicht dazu beitragt,
ein solches, nämlich revolutionäres, Be-
wußtsein zu entwickeln. Um diese These
zu ^gründen, müssen zunächst jene er-
wähnten herrschenden ideologischen
Mechanismen beschrieben werden.
In der bürgerlichen Ideologie wird die
Gesellschaft als "Körper” mil unter-
schiedlichen "Körperfunktionen"
( SCHULE . Wirtschaft ctc.) vorgestcllt.
Diese Vorstellung hat zwei Effekte:
++ Die gesellschaftlichen Verhältnisse
erscheinen in dieser biologischen Meta-
pher als natürlich und damit unveränder-
lich.
++ Diese Regionalisierung der Gesell-
schaft in einzelne Apparate
("Körperteile") verschleiert gesellschaft-
1WVWHM970.il«.
TO Hj* 19«. 7S • IHv» d tf«d.
176
liehe Zusammenhänge und den Klas-
sencharakter des Staates. 1 94
Deshalb kann (revolutionäres) Klassen-
bcwußiscin nicht dadurch entstehen, daß
der bürgerlichen Pädagogik eine prole-
tarische Pädagogik (Entstehung von re-
volutionärem Klassenbewußtsein
Lernprozeß) entgegengesetzt wird.
(Entsprechendes gilt auch für die Philo-
sophie. den Staat, die Ästhetik, das Recht
elc .l95 "Vielleicht auch eine
‘materialistische Metaphysik'?* ,96 ).
Denn durch eine solche pädagogische
Konzeption des ideologischen Klassen-
kampfcs werden gerade die herrschafts-
stabilisierenden Wirkungen dieser Regio-
nalisierung aufrechtcrhaltcn;
(revolutionäres) Klassscnbcwußtsein ent-
steht also gerade nicht. Vielmehr kommt
es filr Revolutionärinnen darauf an. ent-
identifi zierend und ent-rcgionalisierend
zu denken und zu wirken und datei die
Bereichstrennungen zu untergraben 19/
Also - um ein anderes Beispiel als die
Pädagogik zu nehmen: Revolutionäres
Bewußtsein (die Absicht, den revolutio-
nären Prozeß bis zum Kommunismus
voranzutreiben) entsteht weder durch
Identifikation mit dem bürgerlichen Staat
noch durch Gegenidentifikation mit dem
proletarischen Staat, sondern nur wenn
dieser als nur transitorisch
(überwindend) notwendig - also unter
dem Primat des Klassenkampfcs für eine
klassen- und deshalb staatslose Gesell-
schaft - gedacht wird. 198
Oder - um ein Beispiel zu nehmen, in
dem das ent- identifizierende Denken er-
stens erfolgreicher war als in der Staats-
tragc und zweitens sich in der Tat gezeigt
hat. daß revolutionäres Bewußtsein nicht
durch eine Gegen-Pädagogik. sondern
durch eine cnt-identifizicrcnde politische
Praxis entsteht: Während des I. Weltkrie-
ges bspw. forderten die herrschenden
Ideologien die Identifizierung der Mas-
sen mit den Kncgsziclcn der jeweiligen
nationalen Bourgeoisie ('Im Krieg sind
alle Deutschen [Französ/wien. Englände-
rlnnen ... etc.| gleich.'). Die Sozialdemo-
kratie nahm keine (offene) Identifizie-
rung mit dem imperialistischen Krieg,
sondern eine Gegenidentifizierung mit
dem Piicdcn bzw. dem Pazifismus vor.
Umso leichter fiel ihr die Zustimmung zu
den Kricgskrediicn für ihre jeweilige na-
tionale Regierung - selbstvcrständlxrh im
Namen der Verteidigung des Friedens'
und der 'Ablehnung jeder Annektionspo-
1S7Ö4 621 \aa.6S
14 SO* Karr**** U't. 'I e»u*n»fN* 2 :P«jrw U 7 J.
t« ohm --.rat «• fm mo; »iw a* toi *<
MH» ""'«".1 * W 92. 197S. MT tt n Ko»ov
lVPfcf*jl 19710 »
1» ■> ÖHt» I»’6. 22 1 . 3» 1 . 105 124. I».
litik'. Allein die Bolschewiki propagier-
ten ent-identifizierend die Umwandlung
des imperialistischen Weltkrieges in ei-
nen revolutionären Bürgerinnenkrieg. ' 99
Nicht nur den 'Verteidigungskrieg', son-
dern auch Begriffe wie "freier Volks-
Staat", "gerechte Verteilung” etc. unter-
zog Lenin einer ent-idcntifizicrcndcn
Kritik (Jeder Staat ist ein Unter-
«Jrücfu/igsinstrument einer Klasse [eines
Teils des 'Volkes') und deshalb weder
"Volks-“ roch "frei". Eine Verteilungs-
weise ist weder an sich gerecht noch un-
gerecht, sondern sie entspricht oder wi-
derspricht der jeweils gegebenen Produk-
tionsweise. Die private Aneignung von
Mehrwert ist nicht 'ungerecht', sondern
die der kapitalistischen Produktionsweise
entsprechende Verteilung.) Aufgrund
dieser Kritiken bezeichnet Elisabeth
Roudinesco Lenin in Bezug aif die Füh-
rung der Massen als "Anstifter einer Poli-
tik, der es an den Gewißheiten des Mei-
sters und dem Wissen des Pädagogen
mangelt."* 00
"Damit deutet sich die Möglichkeit einer
Politik an, die weder der 'reinen' Sponta-
neität' vertraut noch auf die Instanz einer
(Staats-)Partei setzt, die sich des
'Weltgeistes' innc wähnt." 201 "Ansätze
zu gesellschaftlichen Veränderungen
nicht zu denken als die Tal eines Subjek-
tes, das sich die neue Gesellschaft erst
ausdenkt und sic dann in die Wirklichkeit
umsetzt, finden sich in der Tat bei Lenin.
Und die späten Arbeiten Althussers krei-
sen um dasselbe Thema: wie gesell-
schaftliche Veränderung zu denken ist,
ohne daß wir das hegclsche absolute
Wissen, in welcher Form auch immer,
und sei cs auch als Wissen der Partei,
voraussetzen." 202
8. Lenin: Pädagoge oder Revolutionär?
Die vorstehend zitierten Auffassungen zu
Lenins Konzeption der Führung mögen
zunächst überraschen. Denn im Gegen-
satz dazu wurde die von Lenin u.a. in
Was tun? vertretene Vorstellung des
'von-außcn-Hincintragens' der sozialisti-
schen Theorie häufig als voluntaristischc,
hetero-pädagogische Ambition gegen-
über dem Proletariat
++ von den einen 'angewandt ((Prä- und
Postlstalinistlnnen)
und
++ von den anderen kritisiert (Spontis).
Komplementär dazu verhält sich Lukäcs
Interpretation von I.cnins Die große In-
itiative im Sinne eines Vertrauens auf ei-
nen hegelianischen Selbstlauf der Ge
schichte (s dazu Anm. 24).
2fO OuMti Ho*Jmko. coj> i»» (Ott** 0* » (WW«™
MiB.19rr.ran« Pto»* i;r». «e - j v«<i
»HVTT*/0 Han-*! 19 «. 2U
Lenin gibt für beide Interpretationen auf-
grund verschiedener begrifflicher Mängel
sicherlich Anlaß. Trotzdem führt eine
genaue Lenin Lektüre zu einem anderen
Ergebnis - nämlich, dab Lenin im Rah-
men der gleichen, nicht-pädagogischen
Konzeption einmal die subjektiven
Bedingungen (Was tun?) und einmal die
objektiven Bedingungen ( Die große In-
itiative) stärker betont; dies allerdings
jeweils in einer Sprache, die die genann-
ten Fehlinierpretationcn begünstigen.
a) Die Frage der Intelligenz: Belehren
oder verschmelzen?
Die erste Unklarheit betrifft die Frage der
Rolle der Intelligenz (gegenüber (?) dem
Proletariat). Lenin zitiert in Was tun? zu-
stimraend die Auffassung des SPD-Chc-
fidcologcn Kautsky, daß die sozialisti-
sche Theorie von Vertretern der
"bürgerlichen Intelligenz" "von außen’ in
das Proletariat “hineingetragen" worden
sei. 29 ^ Die Formulierung spricht sicher-
lich - wie auch einige andere Formulie-
rungen 204 - für die hetero-pädagogische
Interpretation. Allerdings wendet sich
Lenin in Was tun? bspw. gegen das päd-
agogische Projekt einer besonderen
"Literatur für Arbeiter", und er betont die
Wichtigkeit der Mitwirkung der Arbeite-
rinnen selbst an der Ausarbeitung der so-
zialistischen llieorie. 205 Und schon vor
Was tun? hatte Lenin im Gegensatz zu
einem solchen "getrennf-Denken
"geltend gemacht. Sozialismus und Ar-
beiterbewegung zu ein;r einheitlichen
(...) Bewegung zu verschmelzen'^ w>
Deshalb besieht für Lenin "die Rolle der
'Intelligenz' darin (...), besondere intellek-
tuelle Führer/n/ien überflüssig zu ma-
chen' 207 Dies bedeute! für Lenin auch,
gegnerische politische Positionen als sol-
che ernst zu nehmen und nicht wegpäd-
agogisieren zu wollen: 'Unstreitig ist es
für den/die Agitator/« in Volksversamm-
lungen nützlich, wenn cr/sie außer
'politischen' auch 'pädagogische' Ge-
sichtspunkt berücksichtigt, sich in die
Lage scinctAhrer Zuhörer/nmm versetzt,
mehr erklärt als wettert usw. Extreme
sind immer von Übel, aber hätten wir zu
wählen, so zögen wir die enge und un-
duldsame Bestimmtheit der weichen und
nachgiebigen Verschwommenheit vor.
(...) das Leben wird zeigen, daß die be-
203 1«* 1902. 3941
JO* &W •( 1 du f*.<azcnli. Art»«* ( ..) «ö (...) aqw |.J. •>
-oMn al du • 31 *’. feien dB aan muri (_| Ouu B n
nrtinaj. oan a* nMacuaavi ja mgu eat ra
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w tut wunr (BtrtaUNing Jd toorraoi fdavirg «o
Mw ttfran. ntnkti Wst*i' (Unr 19». 42«.. 13.
4 M. u *56 • Hu*ati d Vart).
2C61W 19». 395. fN\
7C6 ttn« 189*. 251 • Ml* H bvoTi d Wd.fcl’rtilO.
20UW I. M2 • WM K»d 0»*). 1 19 • 338 (M7) 2* n
1 «Mb IMS ISO
177
stimmten und scharfen Äußemngen (...)
durchaus gerechtfertigt sind (...)." 208
b) Die Frage der Klassenlage der Intel-
lektuellen
Das zweite Problem betrifft die Frage der
Klassenlage der Intellektuellen. In Was
tun? spricht Lenin - in Anschluß an
Kautsky - eindeutig von Vertretern der
"bUrgerliche(n) Intelligenz". Diese Bc-
grifflichkcit / diese Vorstellung des "von
außen“ steht sicherlich einem Verschmel-
zen von sozialistischer Theorie und pro-
letarischer Klasse entgegen. An anderer
Stelle hatte Lenin allerdings durchaus er-
kannt. daß diese klassenmäßige Zuord-
nung der Intelligenz durchaus nicht so
einfach ist: So bezog sich Lenin bspw.
auf die "Arbeiterintelligenz": "Arbeiter,
die (...) sogar selbständig sozialistische
Theorien ausgearbeitet haben. Jede le-
bensfähige Arbeiter/nnenbewegung hat
solche Führer//««#!?) aus der Arbeite-
r/wrenklasse hervorgebracht, (...). " 209
Und: "Der Kapitalismus erhöht auf allen
Gebieten der Volksarbcii mit besonderer
Schnelligkeit die Zahl der Angestellten,
seine Nachfrage mch Angehörigen der
Intelligenz wird immer größer. Diese
letztere nimmt unter den anderen Klassen
eine eigenartige Stellung ein, sie schließt
sich teilweise - ihren Verbindungen, ih-
ren Anschauungen usw. nach - der Bour-
geoisie an und teilweise - in dem Maße,
wie der Kapitalismas den /die Intellektu-
elle// immer mehr and mehr scincr/ihrer
selbständigen Stellen® beraubt (...) - den
Lohnarbciter/nnen.' 2 '® Diese Überle-
gung wurde aber von Lenin in seinen
späteren Schriften nicht genauer ausgear-
beitet. Dies geschah erst durch Antonio
Gramsci: "Die Daseinsweise des fr neuen
Intellektuellen" - im Unterschied zu den
"alten” (Klerus, Richterinnen, Anwältln-
nen, Philosophlnnen etc.) 2 ** - "kann
nicht mehr in der Redegewandtheit be-
stehen, dieser äußerlichen und ober-
flächlichen Anregerin von Empfindun-
gen und Leidenschaften, sondern im ak-
tiven Eingreifen in das praktische Leben
als Erbauer/«, Organisator/« mit
'anhaltender Überzeugungskraft' und
nicht als Redner/« schlechthin - aber
trotzdem dem abstrakten mathematischen
Geist überlegen; ven der Technik-Arbeit
gelangt er /sie zur Technik-Wissenschaft
und zur historischen humanistischen
Konzeption, ohne die man/frau
'Spezialist/«" bleibt und nicht 'Leiter/«’
(Spezialist/« + Politiker/«) wird.” 2 * 2 Im
Zuge der Automatisierung der Produk-
te 1*00 19«. 1*2
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210 L*nh 1B«i IM • Hovcitv
211 Gram*. 1930 -32*. 224
21? Gf»r*i 1PB - 3» 2Ö • A*Ktb. d Vtrt. Vai #r*> Kit* an
ö'XTXO 3aWW*(n) hnonatB*«}- ) Kcnrt(ttn' Wn Oi fm ab
tion ist diese Heranbildung von Intellek-
tuellen in der Arbeiterklasse noch deutli-
cher geworden: "!m Kernbereich der
Produktion erschienen 'Angestellte',
vorwiegend WTI." (WTI = Wissenschaft-
lich-technische Intelligenz). 2 *^
c) Die Frage des Spontaneismus / Öko-
nomismus
Wenn Lenin in "Was tun?” schließlich
auf die Notwendigkeit von proletarischen
Kämpfen "außerhalb des ökonomischen"
Bereiches verweist, 2 * 1 * stellt sich Lenin
dann außerhalb der Bewegung / des poli-
tischen Kräfteverhältnisses zwischen den
Klassen? Nein, Lenin weist damit nur
darauf hin, daß sich die spontanen öko-
nomischen Kämpfe der Arbeiterlnnen-
klasse nicht im Selbstlauf zur
"Erkenntnis der unversöhnlichen Gegen-
sätzlichkeit ihrer Interessen zum gesam-
ten gegenwärtigen politischen und sozia-
len System" 2 * 6 entwickeln. "Lenin ist
kein 'Subjekt', das eine Idee im Kopf
hätte, 'die er verfolgt' und die er von au-
ßen durchsetzen will: Er ist der Führer
einer Organisation dcs’Klasscnkampf. ei-
ner Avantgarde der Volksmasscn, und in-
sofern er eine 'richtige Linie' definiert -
'einen Schritt den Massen voraus, aber
auch nur einen Schritt' - denkt er ledig-
lich darüber nach (rgfldchit), wie er ein
Kräfteverhältnis verändern (infldchit)
kann, in das er selbst einbezogen und an
dem er selbst aktiv beteiligt ist. (...) die
Praxis Lenins: sie ist praktisch, aber nicht
pragmatisch." 216 Dies unterscheidet die
leninsche Konzeption des revolutionären
Kampfes von einer hetero-pädagogischen
Ambition gegenüber dem Proletariat:
Die Trägerinnen einer solchen Ambition
handeln - im Gegensatz zu Lenin - in der
Tat "aufgrund einer Vorstellung, die sie
im Kopf haben". Deren politische Praxis
ist pragmatisch: Sie betrachten die politi-
sche Situation bzw. das Proletariat ge-
nauso wie einE Autoschlosserin einen
Motor: Er/sie "weiß dabei ganz genau,
daß der Motor schon vorher existiert hat
und nur darauf wartet, daß er /sie
seine/7/ire Arbeit zu Ende führt, um wie-
der zu laufen: Er/sie steht in einem völlig
äußerlichem Verhältnis zu ihm. Dasselbe
gilt für den /die ChinirEcn//«: Auch wenn
sich die Dinge hier komplizierter verhal-
ten, so ist cr/sie jedenfalls kein Teil des/r
Kranken. Der Politiker Lenin betrifft uns
dagegen auf ganz andere Weise, (...) der
Politiker Lenin (steht) als Arbeitcr/rmen-
führcr durchaus innerhalb der Situation,
in der er handeln muß, um auf sic cin-
21 J Spa** UM. 20 • Hdwxtv 10 V* *<Ok».V.oI 1*8. C*«<
1»8. UK« 1M9. W B; o VW 1991; SchMu 1»9. 6; WtftoO
198»
214l*-«lim2.4».v«jl426
2ISIMH932.3BS
216WT«U«1W7.641
wirken zu können. -217 D.h.: Nicht nur
das sozialistische 'Bewußtsein', sondern
die Intellektuellen selbst mußten in die
Arheiterlnncnbewegung hinein
"organische Intellektuelle des Proleta-
riats” (Gramsci) (die» ist einer der Begrif-
fe. die Lenin fehlten) werden.
d) Die dem Proletariat "zufallende
Aufgabe"
Genauso wenig, wie also Was tun? im
Sinne eines hetero-pädagogischen Vo-
luntarismus interpretiert werden, kann
Lenins Position aus Die große Initiative
im Sinne eines Vertrauens auf den
Selbstlauf der Geschichte 2 * 8 interpre-
tiert werden. Lenin spricht dort zwar, von
der Aufhebung aller Klasse als der dem
Proletariat "zufallende Aufgabe”. Lenin
schreibt dies aber in dem Kontext der
Feststellung, daß die "Fähigkeit" zur
Aufhebung der Klassen "nicht an sich
gegeben (ist), sondern (...) nur aus den
materiellen Bedingungen der kapitalisti-
schen Großproduktion" erwächst. Im Fol-
genden nennt er die Grunde, wieso das
Proletariat “imstande" ist. die ihm - und
eben keiner anderen (vorkapitalistischen,
unterdrückten) Klasse! - "zufallende
Aufgabe” zu lösen. 219 Damit behauptet
Lenin keinesfalls, daß garantiert sei, daß
das Proletariat seine Fähigkeit (sein im-
stande sein) auch tatsächlich nutzt.
Die unterschiedlichen Nuanciemngcn,
die eine voluntaristische Interpretation
von Was tun? und eine deterministische
Interpretation von Die große Initiative
nahe legen, weisen allerdings darauf hin,
daß Lenin das Problem noch in der Bc-
grifflichkcil der beiden Alternativen
stellt, die er kritisierl:
Demgegenüber überwindet Althusser die
pädagogische Bcgrifflichkeit aus Was
tun?: Es versteht sich, daß das Ver-
schmelzen von Arbeiterinnenbewegung
und Marxismus "nicht das Ergebnis eines
Unterrichts war, den einzelne
'Intellektuelle' Marx und Engels der Ar-
beiter/nnenbewegung gegeben hätten,
wobei diese jene Ideologie akzeptiert
hätte. (...): Man müßte dann nämlich er-
klären. wie bürgerliche Intellektuelle ein
derartiges Wunder vollbringen könnten;
eine maßgeschneiderte Theorie für das
Proletariat. Sic ist auch nicht (...) von au-
ßen in die Arbcitcr/nnenbcwcgung
’hincingetragen' worden, denn Marx und
Engels hätten ihre Theorie nicht entwik-
keln können, wenn sie sie nicht auf theo-
retische Klassenpcsitioncn begründet
hätten, die eine unmittelbare Folge ihrer
217 Ktvmu 198?. 64
218 WM* sch dt KcopfcntnanJI H<M< FMilrtKjXHaKner oxd
dun» zt*ji. d*8 t* li*Ja (taut Vtrtfrm at Om lau <to
Goktcio Ortout m «-m™
njanwül. S Arm 24.
219L*l(i 1919.411.
178
organischen Zugehörigkeil zur Arbeite-
r/imenbewcgung ihrer Zeil waren. In
Wirklichkeit wurde die marxistische
Theorie zwar von Intellektuellen mit ei-
nem ungeheuren Wissen konzipiert, aber
innerhalb der Arbeiterinnenbewegung
und aus ihrem Innern heraus. (...). Das
hat Marx getan: er ist zum 'organischen
Intellektuellen des Proletariats' (Gramsci)
geworden, indem er in dessen Organisa-
tionen kämpfte, ur.d erst auf den politi-
schen und theoretischen Positionen des
Proletariats hat er das Kapital begreifen'
können. Die falsche Frage der äußeren
Injektion der marxistischen Theorie wird
somit zur Frage der Verbreitung" - und
Weiterentwicklung! - "einer Theorie in-
nerhalb der Arbeiterinnenbewegung, die
innerhalb der Arbeiterinnenbewegung
konzipiert wurde. Natürlich ist diese
'Verbreitung' das Ergebnis eines sehr
langen Klassenkampfes mit zahlreichen
Zwischenfällen - und sie geht auch heute
noch weiter, trotz dramatischer Spaltun-
g=n,(...).- 220
Mit dieser Beseitigung des o.g. begriffli-
chen Mangels bei Lenin ist es möglich,
— die auto-pädagcgischen Illusionen zu
verwerfen , ohne die Vorstellung zu ver-
treten. revolutionäres Klasscnbcwußtscin
entstehe durch eine Belehrung des Prole-
tariats von außen
und
— den hetero-pädagogischen Volunta-
rismus zurückzuweisen, ohne die Not-
wendigkeit einer Theorie, die nicht nur
die spontanen Kämpfe reproduziert, als
Voraussetzung revolutionären Klassen-
bcwußtscins zu bestreiten.
Wie entsteht nun diese revolutionäre
Theorie? Doit, wo die Lcmprozcßthcorc-
tiker den Automatismus 'Erfahrung -
Handhabung - Einwirkung' unterstellen,
untersucht Gareth Stedman Jones ge-
nauer, wie die 'Handhabung' von Erfah-
rungen erfolgen muß bzw. nicht erfolgen
darf, damit revolutionäres Bewußtsein
entsteht. 221 Für Stedman Jones ist revo-
lutionäres Klassenbewußtsein nicht
keim- bzw. substarzhaft in der Arbeite-
rlnncnklasse 'an sich' vorhanden, sondern
das Ergebnis eines im Medium Sprache
erfolgenden theoretischen Produktions-
prozesse. 222 Bei der Erarbeitung einer
entsprechenden politischen Sprache, der
entsprechenden politischen Begriffe, mit
denen die gemachten Erfahrungen erst
u.U. revolutionär verarbeitet werden kön-
nen, setzt nach Gareth Stedman Jones die
Aufgabe einer revolutionären Partei an.
Dies aber gerade nicht im Sinne einer
(hctero)-pädagogische Ambition der Par-
tei gegenüber dem Proletariat Denn es
mvtiu* 1976. 1» - hb»*a"Kvaft 10. Ml* 4 VV1
21 s t«c- swjto» j**, oseja) irearwteng a*' oh
PdalBarw
222 SMXoi Jans 1963* 143 LI*». «1.22; 19M.307 I.
sind oft "the masses who have to educate
the party ".223 Unter diesem Gesichts-
punkt kritisiert auch Stedman Jones das.
was er das "Kautsky-Lenin-Schema"
nennt (zu Berechtigung dieser Identifi-
zierung s. obige Ausführungen). Dieses
Schema sei particü richtig, soweit cs
“stresses that bourgeois intellectualls are
by definition the posscssors of previous
scientific accumulations, and must there-
forc be the initial bearers of Marxist
theory ‘to’ the working classs". Aber das
Schema versäume "to stress that the hi-
storical pcrcondilions and matcrials of
this theory are the real struggels of the
nasccnt working dass itself, wilhout
which it would be impossible for histori-
cal matcrialism to have been forged.” 224
Deshalb ist nach Stedman Jones von "a
dialectical relationship between party and
dass -225 auszugehen.
Damit sind wir nun auch an der Grenze
dieses Textes angelangt. Denn die Frage,
‘Was heißt nun das für die politische Pra-
xis?', läßt sich auf der Ebene dieses Tex-
tes nicht weiter beantworten. Vielmehr
verweist das Konzept der Verschmelzung
- die ‘‘Begegnung einer Theorie und einer
Praxis, einer Wissenschaft und einer
Klasse" - auf die Notwendigkeit, "in je-
der gesellschaftliche Formation, in je-
dem nationalen Kontext die Bedingungen
zusammenzubringen für eine angemes-
sene und damit produktive Begegnung
zwischen Marxismus und der jeweiligen
konkreten Situation' und unsere ” eigene
Strategie auszuarbeiten" 22 ^ (wozu auch
gehört den Klas-
senlbewußtseinslrecuktionismus dieses
Textes im Sinne einer revolutionären
Strategie gegen die triple oppression zu
überwinden). Denn die “richtige revolu-
tionäre Theorie (ist) ihrerseits kein
Dogma (...). sondern (nimmt) nur im en-
gen Zusammenhang mit der Praxis einer
wirklichen Massenbewegung und einer
wirklich revolutionären Bewegung end-
gültige Gestalt an.'' 227 ...weshalb die re-
volutionäre Theorie, recht eigentlich be-
dacht, nie "endgültig”, sondern immer in
Bewegung sein wird. In diesem Sinne
noch einmal das Wort an Brecht:
“Also für Neuerungen, gegen Er-
neuerung.".
B. Brecht 228
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» 4 SMWÄM 41 B 71.45
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2»UteMU«. 1382. 1384
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recraat rxaundan Präs dar aiuaraMktenRarSraal (aal r*J»
Banda a a» Verteaarmg dar tnrthau) Pc«c<«nitedrflj>)an
balrajan artaj. Da» UvadUftal ntf i*n ua 0 » 1 \ Oifl Stfirtd
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d*B da •«Miaradan Uacnrertehua* «mar u reute Kd. daß
•de mnnalan fadr^nga' erat rMUOTlnr Boaagm; Kar« ut-
terdar' ad • V faxmo'ar tO (otovter HnuM (_) dK
KrBxtei TTMtM antaio; ttedafan* h dan dar Matarxorn
dar FnrMaUr SOiJ» BaMdnaMn to*tnH tarer Arte« B»«tJO»r
Scfnwl atar • wa sten »ndfrt • de GanarenMiBaan vm KrBKter
Ttey ad Atmoar a saft ird ulnoa raael nNandja Kitt.
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7). Iicu deser ww ucaru :««frir*l t *h Mmn Auseeiav
Mrwerag ml l**» ui fcgeröe 1 11 rt*ge FiftVt ’Aah Ja«ues
Laco-d IngjOJisa« cnenserte ReUm*enxg der f w)W »W«
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1976). .»a-Wi d* rsTflSdie Hw«<Oi Ueais <Mth da AF
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BAI euuu>u»tn >■* -c*e. eör. r*M «Uäi de gsvc Oi^.'e.
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aitlKKtailcneu^du Reör n dp (NtarrtaAl«l it»-/ ni ta-
Wen. ( ) Gerade die atAxlg» Oetonung das »uVAüvan 8ratTi'
ml dem Sisiem bl »In Auidx«! dmvi (Uß 0m BWJ> tOrni Mctl
■orteegen (st Das tut all*) iMchtn Ctun): dm i»C)e*ttr* Brecti
Ist eine tadrfduat* £/W>*tfurrs m **1**«- & MW da «d*l*1i«a
Megvttn Au «Wiflidscf* S)nam ntfti tut Dm «»MUsrare
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leOeiu m WaiamrAtsetutr ureJ AapnaVemartoog ilrrOeaiaM • «ixA
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tra.»n*t4«| • 'RsproS^araCeredi airfl U» AiMbtosan in) Sfr
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wid as ntöi «nfcn? • lut* der äeg« der •Vem*tr»j’ B • Io t«e<
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rat -renowr MO *s« 5S* Veoitag müehen Suwn. d VM)
lam »<r;hl Idetftfi öSer »aindci als a*h InagaiBTi eder C«W-
rat tan. *0" •*(*’ rui li dei erst*» Art
nartndan ( .1^ Uy) schtaSöi da «fli inj banaKe Bedatftng
*Ausge«t<ng rrarf« i eagegaxuawa Ua«ng*» deren *de
g*d an Xjicrslas Kr du ceiog WlhrB M» «dfrareJ da «Sfwrol ec
gaufcn n du t/de vtn beden tag. ab Syrehesa r»wf*n Thasa ad
A/Utosa * },i h dei l/de lag aem todra Baactoden. «me seton eil
6eram* H*tu-öj sage • wer ram es de BHDUrwcpifcdartai
h Mam tdniTtalen'Beschlje’ • Oase AuMniigm bttäsgen eil
■ml eres US de MjrBWaKlUW lAataEdCi Thrrenn.de sOi
gagr. da AnsiM «nndet et it*N aut. bifl du UsMöien' ad du
SoseM' n mtoüpfen fcm ru var mnrtt) un *Mn Begrfl du Wen-
ictan «cn saium *MAstsr*n Gehal* a to* 21 ' Dam de Ka*-
gxa dar Vasmuig fflio
Herata mM m dlasar Aimanuog;
Jchm-os h^tm«er (Hg). HWMftth der pSfcaeftatton Big«.
Vptog-«-FrfrU«mi Harrfcro «5.
rtftelo Iiaugn Kn»). A|ga-*Ms HnMtfnteti 0m p«*sc(M
senen ttbseruct-atncM ha Uo*u ad OewWtM Werter Band
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uM da &men*g. h. Cbeme Bdb« e H. Frthtl 0m M* Mm
SU«vji»i-gA Didussinn der )ff. VSA WestcMi.l9ft.ro -8/
M Eisw*<fleifl*ta.) «v La Mxieta Oft»-, h» 73.19)4.29-3*)
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auden
hüben RAF^ctrftan
h den Kfter Scfrttoi der RAF ur de huramweta FVoWemat»
n*t ruta v> deutet) pris*i ■* r dm SJrfim ah um 72. Da 8e-
scfietuig der gesabcredkMn VoiMt-essa We rrai nwtibctcn
ArtHnge mde AJObJi sW*re RAF-T«da. 7,i Km Otmar*
renaieiWf. «reno« Watatarend Audi ml tm Rardgugan-Omv
ucag insJaiovSMB n d* üUtttQ ia Bahaoig <n A<d>eu Baa-
MG 7? 1 inifle «hm da hifte IW an da KitWta Ihetrn tn Eft
4M spUr «iia-ioo de RAF Ka rrrartm den ranratai Scfmwft-
P*ai Mi St.denm<rC«»cgu>g ad s* de wfi araonuan adm*
cfarrase anSers ab da Ul SeMen psslr. toteg 2 ' 8 - alardngs Ctna
dauerttafw ad HntTtmO dndd» Konsagianaan daraus ru rXMn
•GawB •* du PaTos (tenneben. ml dem s*fi de Sudsreinan da
Kti Mai psycMat-n VeraMOn; (T) beauO gaocnlan raren. (M
Mo MgOMOen (AUem I lOontu Art«, ml Alieni rt«A
tmWK stala d* Vergbch nesdiai der Masso-aJtage der W-ZiA
tuig hiai ad du« UassaMnöirtmerl ui Warm am greta V*-
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sab - samt m ater Bm^aig au< «areusa «wOihm wi •. geguTOar
der wsictitahen Gebe* dH WigeiWon Cento« ad de« s» Bo-
grtrderden Prod«fns*a<Mb«M#i 9 xW 2 ' 9 0* tomnlsosa*
FVoWemüh kam tot dar RAF «iebahi erst ab EftSe 1972 ruo voJen
Ouchlnjch. «Mn der pretaunl* Audr «cn 1971/72 dudi des
SdieMin d* itkCBauWe wöoitag sctMn
K*n neeu nan MK duan Bn*n • «an ouJi nun aioi dem Ge-
SiCtcsgaAl 0m Huoenomo-PrMtarcce - eCarW fc 7 “ ad creptaN
der 0 M de Betehabxqiaos« zu irängkhcn ftrdguK*n-
5*B*ga a '. Ei IW Iber n draem Zusemeftag • axti «an er es
adtrai Ssela dsirfuus Ktir“ - möm AcM daß da «fetawan Van-
ussKragan da/ir ru desao Zel^rAI arelaVn -van CO R*W KiP
ac* 1 gtaö*noa8*i ue da RAF-Idtl tt UmErda 72 von ebam
hunarulKhan Starrtu-Al ausgtfiiutS Ot a r tä TCKa fa rBtta SJute-
ga MAftmtfch Ktl ertolgiUai wu ab da «mtoigahenSo. raig wti
abo sah hör. M3 «tas tommktm ui du Fad dar huronaiafien
idaebge de IrrAmta Arntys« 0» latratan SiuaJtn' (lenb) ad
darr« du CrftridfH croi bassiru Sewga vatrasert Sansauen
«rüde orfcUi (osiitart. «fl (Mai (Uensch) artrgen lam (s dun
cttnS.lM).
AmartunglS
rum Vdururtmus du BaauSiacB
Der VbAjitantmus Ort Beraftse** der RAF «arealst arm« nähr aJ
LrtK» »V Mn •rroKTSHO.il H teet a freva «WOi alore IS fl).
letf 2 * 4 • ad rrai »igird dessir tttB er - io WderepiuJi ra ir«-
nvton D'UiafoOrg recdien Sm ad Barafllsaei - CeeSe (Ms Tal
eis* hMWrAKtan TctabM s Suu irtan Aren 18) ab iSWach
WIR : ^D*M U Kr UAics «teen du De*en da TcUkb da Re«fr-
Ucn.^ Deiei aObamuane FroB6egb.MrnUil rMfun««.-
schied**« Ftaafeartm (Mpw -MrascMtaefier ad wboder
sdiarSOO. omdgtaM es Me üdia Om *lutte*»«en Warn mnsOi
ata EiBKfAIV s*h Mm ‘oWdtMn SachriBJrrmerMrg der Taoa-
cten* eubunreijen.^ 8 7 Bei Lddu ge« dasa Veigeieligng der M«M
(da UdTdiage ab taraasensi™*; 5 ” sora* cbo t
da RAF - Togeas U g*cM appuMut d opM ptt i
Bros* uit da l*»aadi>;e* denn w rarettitaga« («tf auf» AbaOmi
7*)l 2M
Armartung II
rum Yert*Ws «cn •Umtbebifcl-r FiaaJe’
Ul der Koiäünad Mir AMmen ui das Austasan llumferrAetai
Flaue’ batarti da RAF. (MB au» (*»*>}*> Ra«5MCf*Vv*rf (ad
kh «ifl irrti nsora« bei daran iri ArtCtnrossWtien abgwMien).
da sab» nOits od* rrrrdast r«Ji -M ui de fiel* Megan . <0 ad
m\ m rarmes GMitt uns Here tattnoan DamUadacOfHtaaVib-
lirg dar AAlcnen de» RAF «rtai den gegebenen Bidngrgm ruatam
Wrurresolrtaiir. Dem sie beerelB« Zi/raMrM« M »mm abehta-
dgenten Zustand rJrftti ra— « Htmn bei n*fl erftröeWni Wbei-
wnO Daraus eig<l s«ti reagsilig da -eure Frage, cb da gl»
Chen Mm itnlrta Alicnm. ergmn« n tm an»» anctgsd*
KaoretnWo .d MnU e^n «■)«”" «> enM>« «WUe. Uo»
Ibö cmn *«M(»n (Ctasfa' Ehe* ifrrfa^ Dasraekhntft
so genau Aioi »ah ru deeei Freje. MCon ach *dere Uuie sew
GodrA*i gern*« (S. Bodi« Gfossln^n 1991. 24 1 Sp UI*-27
8Sp.Utt.29i Sp Mca-roi.SpcMn.33i.Sp Uca-JilSp uv
tan).
Anmaikaig 19
ru den Intaman Dftarenrm rotscan den LamproraB-lhacracbam
0* l-lirprecccn d* ErtsUMng «cn (retakinnlrara) WssserMmi«*-
sen (. de Kössa Ms Suttatl) ab UirpmraO -irta bohar an *Mfr
»an «cn Uktvael Vesiei ausgsaitarei. so «fl m Om Haurterugst««
Ui da talgend*« Austtnagen «. Kl Cra BUsus «ftd ra heaccnkh
r*w Dtfäö 8
w Beim» Genotttmtn 1991 . 26
2*8 Htfloeotai 1955 {«4-llenal . Arm d. Vert
2*9 Kwg 18321)81. 377.
270 »c*-«««.. 10*S. (C*
271 A'^l*3Z'»>.3r7.
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paswo
278 S bie- nm RaWmBmuuScrnttirrcAalsms RAF 1971. 11 1;
RAF (April 1972« 23 ebene« ak RAF (7*x 1 1972B. 3B.
277 RAF 1970
275 RAF 1971.8
279 RAF 1971.8 - Am d. Verl
no fee, 1010. MB. Mi I . »70. t ft. Oo
2aiB*h19M.267.l$p u0en.!ffi.l Sp
282 B^hlSTO. 2*81
283 RW> 11«. 270.1 »Oben
284 Stodra-i Jenas 1971,45
285 Daro-anEntrOgge 1978. IU
286 NBTrtr 1979. 57
287 DarorraviEntnigge 19^. 10.
2MSlednanJxos 1971.43
209 Slednan Jxas 1971. 44 • Kemrh. (0.
181
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*W Jan Bry* W **fnnr» Olu *«•* M«“ Uw* UM. tun
gm Bn a* Ka»gre Erfloronj raöduf «nl idon M v«i
Kti.nM m ft-mJfm Rantal •»^Jiei <n itb um uotb-
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Iro fW77t» dü! Mt d»t AuMBuig dB MBrmit -Ol ütirOu
»3 taVwn cl U. 1 178. 2f!
»*er»CMnrn*Ul 1973.279
N6Hb)»I1W}.4S
3» Kau 1979. 111 • HtKdv d Ved
Stil Care-jviEntiuJ^ W8. 12. 1*4: KllliVBWO 1978. 197.
3CflS (barSchnd 1M0.49SI
301 RoMrteU 1». 17.
SIOAkSiüB 1972. 49. EN 12
3l1V(lmn 19150,3181
3l?BGKMrvm«al 1978. ». Kn« 19^ 1*9 V(J AClßlO 196)
137 187 vföttfiired. 1973. 21
SIJ SAtBW 1*2.63
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3ISS A«tu»»B0 J
316SOCÖI !»3 *9* - Htfvo*- C V«1.
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319 0 VbI 1321J. 2. l*OB Md ojOi htW • vre Mt retKfitdtnm
BdH o' iCetMlcmgm voi Amui.it Irnnr. • nft MacWrt (MB
AfnurMi da» VW ToaUT -ui «an .ii»ind« -er utiP *40*
von tu. btA«M JiitauBi; t*nM »n RKuroi iiro- egoun AB-
la’.ui d*t gmetovBietai ZuunreHungs varaanM * di^i^r
0*1 Bur* Mi timten' Vf sota* 1975 17. 19
.4 von dm Wr*nmi Bö miimKm fon-m K*ai /tBUtuig’
IABumb 1 972. FN 32. S 61 1 - Wt" d VbI )
ArfTertung»
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HrgK gK« vcn «ob uutr jvjkhm Erte« au*. 0* 1B1 0 ftv* eö»i-
iduOiBö* Tta. da d« Urnen *1 Ztl** Mdm. wnu »1 0 *w
tuB ErSiKnAnj 0c« de Eftat ou BArdcm t* tatet HSg»
entarrroMn de Enlet n mmtBdn ZuSBö ScttrOeti MB m
des« tn EiP-möuvg CNeganui) tttO* aJ. Uful ra mtfinfehm
Erte« leitet, de * dxfi tre EnMl Mnn*i CBijg et toeOiol
dBOi tu» N*gii0i. tu» Eramwrg den a* NegsMh no-
dBOi ' 3 *‘ Daiu* mgt* »Oi fl H»|Bt OuKU» WgouUt milaOim
Scrama utcuCngoe trf« • n n» S*im .nu «do
*.*»* |rnn«M»^| • IlMBontfeg- gegKI nt wti lerwrn Co
M4 (Sinfeul 323 84*0* W dB WtA» —B (Ut SBBÖ. ABU du
Gm. wa*< -uöm Sem bö SMn g»gBüceig«Mii. Mt Heja
«ntt« •» ra SycKew kt MtiBBi M»«u (HBaJiir»gmgl D»
SUB «d ah -WmlOAK dB MrtOun M«e‘ MecMM 1Z 1
Uantur ipoejioJ u dtaMf Anrerking:
loic ABKBtw. WöBtenO» BÖ (0nöo«mr>Birg tc.-mjr/c
Oi «re UrCettOiing n den . KVUyi. S-JirtarpVatttg Fttrtljl
«n Man. 1963. 52 99 flrx CTgruBegaM. Uasero (Paia?l 1946)
Q Birn An*» •UKUUt SÄflüf. n AMcMn Rtei I Kodnm
GiindB «Ho >. MPVUOMI HWeiptd dt' R«te«ta Bmd 6. w*-
teochiHd-t IWigwftvfiKl I lOruM l Co. DvnaUABaM.
1384. So. IS* -192
AmMfk9ng21
du GmcMchl» uiö l»r(»oafl bK 341 b Groll
GW 1970. *16 Wut«. VO* Eicsuiing oob KUue bö voi Kos-
tHeemAtem' Uiö» *m (k/*(7)von lern- Bö Erfitargwom-
ten'IHBtodi .Arm d vm ) 011 Kei 0U1 «n 4. Fuo«. <D G1M1
«n Gejcnntj ni Vasa «IhJii na aren McrnMn TÄ»we6 ol
dm Gesehen» ah LempoCTa MOaNH. Om kam iöb MgNCMM-
Mi nidm. da dam GW ml tcren AraaU ga r«M t atUlien . vr-
dMi illuUi aigmcna-m niid. Saß KUitorMwAmr aut Imv
(•OteuHi Btamt «in rlt» teöen DKnttn dm ßegrtl«
•|.Bre<0t«e’ irtn* Wen vorrngjonwen (da Pio/Bt«. de
•JiwrM-.ft.vm Mwi« M*n)eilBT»)W«05BiBW| DühBind
da Khttm Bd ICaaBte-iAien n dB T* Vn lk»r dB Go-
eh<7M Blatten «riß Mb an^mnen «bObi. daß GW »Mn 10
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ran Ucö*o dB mjumunn KauianM fAuKkuckhmii»
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«oObi Be Elaro-te dm Gmrai ah bk-ist 'K,vtvX Om leuUk
Bö am ah partnU Mbbuiq um Vi'.io-i- Mgrilm 33 Dtmet
Arttouuig 5>5Mi-:i>*i umi du ™»naHo SnAlirao KiuiiHhi
mvtt&o «1 dB Waijmwai te« «mn Aruttm At-
tunng mim»! de vBieholmm :Mnm dB GeWKcMi ah .-Kal*
nlo-an MOaJuK wsden. oe tuen töi also mit *4tmtO* 1»
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CB>e>*Mvr->rt o cun Vraw — (ivto unx he Vd 6-40 drAm
öxiirn 0(4210 de rOVgi rnttawlaMctie NvAPov«W* dem tmv
cronft-Sdimiai ivgoMn »A D« ?A«JS «" toKfte uö Ergig«-
mBt v*UI n »öi r-U-J P'l «SutfnJdAh ( | Ußed»*}» »>öbi
rinWiil ru SiftyBingB'- «n XS iu AJistingm ana-aefiB
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Isua bü dB ogBwi Gegaumt Item thun »BdiM*« -bObi
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ZEITUNG ANTIRASSISTISCHER GRUPPEN
Schwerpunkte
Ni. 6 Gleiche Recht« für alle
Nr. 7 Rassismus und Medien
Nr. 8 Abschiebung und Ausweisung
Nr 9 ..Bleibirecht für Verlragsarbeiierlnnen
Nr. 10 12/94) Rassismus und Medien
nusdemlnhoH oonNr.9HHH^H
• A. Sivanandan: Statewatching
* Neu* Wache: Eine Terhöhnung
aller Cpfer des deutschen Faschismus
9 -Warn die Arbeit cetan ist ...-
Über neue Formen der Vertragsarbeit
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32? 14*31920. 220
328 S.bip.lar«i 1919.4121
323 U. 1919.424
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Amin« 19*7: den . FfttoW» ud sota* FTHiWu da Ws-
j*ritf*tia(1K7) (Sttirflan * »j ven PNa SchMta ud Fdada
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fcfcg«. Ober ABituai VotjH ai« amanOalran HM»*ri«ru-
im da nremote!«' I»«re (SJifteneOe nj Fng« 0«
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ScnMaOotadUaranraSefAd» FmuanudAtn* DakeotwAiw
vor FnuarrBfeMax K MOZ 6-71». 37 • 40
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Hall 1961: Staat Kit ft Ofttota d r7*&y. ft R«niN SaixH (ad)
P«e*»j Tfetarad Sraato TT*»*-. Bartedgo 8 Kegn P*A Untax
1581.378-S6&
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sa ud KuafcowAnunrawen# GaWiaWHcftrnftrg. ft Du */■
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Sa*« w OoMaiai ct* mi «0 b*a> Oarean r Cj)»ew*<
um», n KmBtaaN paanoa n» i^nw/N»W M ai Iham*
m) Pro fWai*«*). *190.99 - IW
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OtoeOyl». Oafura VI »». 13 - 73
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AtrtfaOravfbHi in) Krtu «i DiutOda. De&ata 7198 S. il • M
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"uW<*’7ir Piraiaiaw Om lAamrrw, h WOrtO. I* * Hw.
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oa—xo. n rtoTii / /«. \v»rtrtxr-i / C. 1.1 WagB. I
UUWC404J) KafdOuouoy H^xö?LM» r DauMOW raji
dar Strj Om R«Uioxo»w-a. O. Lrfca Vertag Bartn. 1 99 1 . J4 • 68
9 OW-VariWaTfcnir^an
Bari. H78: *l«*n Runrd Bw*. Söi-irt 'Hm/aoBii-. n
Kta«9P< 1976. 517 - 519
AbisSm 1975 Gang KOu 7 Uirtred &f. (Mg' fW»<vf»ffcs
HCrtrOxB dm) 1 m) 7 'nöj Om «rwioW OxP Woc»dn
i»7' 2 «flOdMiwa«- 1 rere ib?«
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6»rXöa 1976. 571- 573
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Ktiua anMuuMTimnj J*< dm Ladngar Pimurtal .Jfrm)
Ob MBttMm HrvnAan ;9rrtw<oW dct larüilratM Kr Ga-
itfcMa dl. AtaOama Ob Wuaredun d». COR Bad 58}. A*»dar<*-
Virt^ BwmCOR 1978
PERSPEKTIVEN
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISTISCHE THEORIE
Nr. 9: Rassismus - Sexismus
Inhalt: Herrsche ftsveftiMnisse, Schwarzer Feminismus. Frauen- und Arbeiterbewegung. Gen-
technotogie. Lege lombarda, Aktuelle Debatten.
Beitrage von: Deboran K. King, Sancntta Basu. Altert Scharenberg, FrauenkoOekUv, Miciiaii
Nelken, Oliver Schmk*ke, u.a.
Nr.8: Gewendete Rechte?
Inhalt: Heirschattsverhaitnisse m Faschismus. Modernisierung und Reehtiextremismus. ‘neu-
rechte* Frauenbkjer, REPs. Mulükult, u.a.
Beiträge von: Albert Scharenbrrg, Volker Finthammer/Jörg Neumann. SaDine am Orde, Urte
Sperling. Claudia Bemdts/Niets Petrmg. u.a.
Nr 4 : Feminismus - Marxismus (2. Auflage)
Inhalt: Diskussion der Konzepte soöaJiatischer Femnistlnnen. des Bielefelder Ansatzes und
orthodox-marxistischer Analysen.
Beitrüge vom: Redakttonskölektlr. von Frigga Haug, Uhe Sperling, Sünne Ancersen. u.a.
Sonderheft 1: Antonio Gramscl (3. Auflage)
Inhalt: Einführung, Hegemonie, Partei, InteUekluelle. Al tags verstand. Feminamus. Amettonlsmus
und Ford Ismus.
Beitrüge von: Frank Deppe. Albert Scharenberg/Ralf Tatilt, Wieland Elfferdlng. Ralf Fscher/Volker
Finthamme’. u.a. •.
Sonderheft 2: Walter Benjamin
Inhalt: Moderne und Krit* der Postmodeme. Geschichtsphilosophie, Technidoitik. MassenkuBur.
Politik. Spracht hecrle.
Beitrüge von: Michael LOwy. Sibine Kehr. Albert Scharenberg. Walter Busch, Herbert Claas,
Oliver Schnkltke, u.a.
Sonderheft 3: Malcolm X
Inhalt: We war Malcolm X? Ist er veraltet? Hip Hop, Malcolm goes Hollywood. Black Panther Party,
Biographie, Übersetzungen.
Bettrüge von: Albert Scharenberg. Und« Bumham. Diedrich Diederlchsen. Redaktion. Carl
Wechsel beg, Jörg Neumann.
Alle Hefte jeweils 68-80 Seiten, je 6 DM plus Porto
185
VIII. Antiimperialistische Kritiken an der neuen Politik
für den aufbau einer neuen internationalistischen front, von der die in Westeuropa ein teil ist."
Rolf Heißler, Brief vom Jan. 1993
"Der Anarchismus war nicht selten eine Art Strafe für die opportunistischen Sünden der Arlxitcrbewegung. (...)
Grundsätze und Ziele sind zwei verschiedene Dinge. In Bezug auf die Ziele können auch die Anarchisten mit uns
übereinstimmen, (...)."
Lenin, Werke, Bd. 31, 17 und Bd. 32, 492
1. Nathalie Mdnigon, Gefangene aus der AD, Brief vom 14.06.1992
2. Joelle Aubron, Gefangene aus der AD, Brief vom 12.06.1992
3. Christian Klar, KON KREY -Leserbrief und Prozeßerklärung (Herbst 1992)
- Dokumentation: Karl-Heinz Dell wo, Erklärung vom Nov. 1992
4. Rolf Heißler, Brief vom Jan. 1993 mit Kritik an der Erklärung von Karl-Heinz Dellwo
5. Heidi Schulz, Auszug aus einem Brief vom Jan. 1993 mit Kritik an der Erklärung von Karl-Heinz
Dellwo
186
Joe Ile Aubron
Brief vom 12. Juni 1992
bist du in der läge, dir einen begriff da-
von zu machen, wie mein gcmütszasiand
nach der erklärung der raf und der dis-
kussion. die anfängt, war? ich weiss es
nicht, du mußt cs mir sagen und viel-
leicht bin ich zu schnell, jcan-marc
(rouillan.anm.d.ü.) sagt, daß ich immer
zu viel auf einmal sagen will, und übri-
gens. weil ich nicht den raum habe, mich
auszulassen, rede ich verkürzt, aber ei-
gentlich ist es eine "rcaktion mit ncch er-
hitztem gemüt"; welches sind heute die
wichtigen achsen.
in interim habe ich einen text gefunden
und übersetzt, der "von einer revolutionä-
ren Strömung" unterschrieben ist und
wenn da auch die kritik an der interna-
tionalen analyse der raf-erklärung fehlt -
oder vielmehr die kritik an dem fehlen
dieser analyse. linde ich den rcst der
formulierten kritik berechtigt,
ich weiss, daß cva einen brief an die
trauen in hamborg geschickt hat.(l) ich
hoffe, daß ich ihn bald habe, denn ich
erwarte viel davon - genau, wie cra das
an jean-marc geschrieben hat, um "...die
Konfrontation zu klären.... wie im nllgc
meinen für die kontinuität des politischen
Prozesses hier und in Westeuropa.“
selbst wenn ich inzwischen die ganze cr-
klärung kenne, so ändert das nichts an
meiner kritik. was ich unterstreichen will:
wie auch immer mein ärger über den po-
litischen inhalt ist. ich denke, daß die
"Waffenruhe” von der revolutionären bc-
wegung in der brd als arbeitsmöglichkeit
begriffen werden kann,
und jetzt folge ich also der auseinander-
set/ung mit grossem intcrcssc. natürlich
bin ich auch beunruhigt, weil die erklä-
ning durch ihre verworrenheil gefahr
läuft, anlaß zu sterilen abrcchnungen zu
geben, wie in der letzten nummer von in-
terim (nr. 195). da ist ein text, der, so
weit ich ihn verstehe, mir überhaupt
nicht gefällt, die alten geschichtca mit
der kritik der gefangenen aus der grapo,
eine sogenannte kommunistische, hri-
gade. die. das weiß ich von woandcrshcr.
sich in einem anderen text auf frederic
oriach bezieht, ein französischer militan-
ter. der auch intelligente Sachen zu sagen
hat, wenn er nicht gerade davon besessen
ist. über uns hcrzuzichcn. aber gut. das.
ich bin fatalistisch, gehört zu den risiken
einer diskussion.
sobald ich mit meiner post weiterge-
kommen bin, will ich den text überset-
zen. der in der taz veröffentlicht wurde
und der an die erklärung anknüpft, über
die wir bei deinem besuch gesprochen
haben: vor allem zitate aus alten raf-tex-
tcn. das alles, um dir zu sagen, daß ich
sehr aufmerksam verfolge, wie die dis-
kussion läuft;
übrigens hat jcan-marc vorgcschlagcn,
eine broschüre in französisch mit
zwangsläufig nicht zu vielen exemplaren
zu machen, wie immer gibt cs das Pro-
blem. wer von 'uns' daran interessiert ist.
das zu machen und innerhalb einer nicht
zu langen zeit, ich werde "überall" die
frage stellen, aber ich glaube, daß es
wichtig ist, daß die französischen mili-
tanten, die daran interessiert sind, sich
eine Vorstellung von dieser diskussion
machen können.
selbst wenn ich den text über den kampf
der hafenstrasse (2) sehr interessant fand,
denke ich, daß du dancbenlicgst, was
meinen gebrauch des begriffs "politische
lösung" angcht. ich beziehe mich auf die
italienische begriffsbestimmnng. da ist
"politische lösung" eine Version des ita-
lienischen Staates und einiger gefangener,
die abgeschworen haben, um die frage
der politischen gefangenen zu "lösen",
und darüber hinaus die gucrilla aus der
politischen landschaft italiens zu entfer-
nen. d.h. «ährend die gefangenen geisein
des Staates sind, ausgehend von dem ni-
vcau der politisch-gesellschaftlichen
konfrontation, deren fortgeschrittenster
ausdruck auf dem terrain des revolutionä-
ren krieges die gucrilla ist, löst die Ver-
handlung mit dem Staat diesen Zusam-
menhang auf. verkauft die gucrilla. und
hilft damit bei der befriedung der impe-
rialistischen Zentren und damit erzeugt
das auch den mangel an radikalen poli-
nsch-soziaten Perspektiven, «ährend die
härte des klassenkampfs immer gewalt-
samer diese Zentren durchqueit.
natürlich ist aus verschiedenen gründen,
unter anderem, weil- die raf nicht für sich
beansprucht, avantgardc zu sein, die Ver-
handlung mit dem Staat wegen der frei-
lassung der gefangenen m der brd nicht
zu vergleichen mit der italienischen bc-
dcutung der "politischen lösung". aber ob
die raf für sich beansprucht, avantgardc
zu sein oJcr nicht, ändert nicht viel
daran, daß sie 20 jahre lang das höchste
niveau der konfrontation mit dem Staat
bedeute« lia. und die bedeuiung also, die
die "deeskalation“ in dem Zusammen-
hang haben kann, wo das krüfieverhältnis
günstig für die bourgcoisic ist. wo letzte-
re gleichzeitig eine politische herr-
schaftskrise erlebt, egal übrigens wie
schwach das revolutionäre lager ist.
gut. aber eigentlich sehe ich cs so, daß cs
nicht sehr interessant ist. darüber lange
zu diskutieren, ich gehe davon aus, daß
die Waffenruhe existiert, daß sic den Pro-
blemen entspricht, die sich angesichts der
Schwierigkeit von Perspektiven heute
stellen, und daß man also damit (der Waf-
fenruhe) arbeiten muss,
einesteils: gibi es das probte m der gefan-
genen und also die mehr oder weniger
unvermeidlichen versuche von seiten des
Staates, "die spreu vom weizen zu tren-
nen". das. was er mit den prozessen auf
der grundlage von aussagen der ausstei-
ger aus der ehemaligen tldr machen will,
gleichzeitig will er versuchen, die
"spreu" zu normalisieren Uber haflbedin-
gungen, die von der negation des politi-
schen gekennzeichnet sind, was er bis
heute aufgrund des Widerstandes und des
Zusammenhangs der gifangenen nicht
vollenden konnte, aber auch aufgrund
seiner eigenen Widersprüche, wo er im-
mer den ausnahmezustand der konfronta-
tion verwalten mußte - also die sonder-
haftbedingungen.... all das ist also der
job dar mobilisierung für die freilassung
aller und die frage, wie man mit der
staatlichen linken (grüne etc.) umgeht,
auf der anderen seite gibt es das problcm,
daß die revolutionäre bewegung ziemlich
solide sein muss, um nicht das kind mit
dem bade auszuschütten (ein französi-
scher ausdruck. der bedeutet, daß man
unter dem vorwand. falsche Orientierun-
gen infrage zu stellen, vergißt, die schrit-
te, die gemacht wurden, zu bewahren),
das würde in diesem fall im Zusammen-
hang damit stehen, daß das erbe der
kämpfe und erfahrungen, die irrtümer
aber auch die schritte, de gemacht wur-
den, gering geschätzt wird, während ge-
nau aus diesem erbe die neue revolutio-
näre qualität entsteht und entstehen wird,
die ist noch embryonal, aber trotzdem
objektiv und subjektiv radikale kritik der
alten revolutionären bewegung, die mit
dem revisionismus zusammengebrochen
isL
ich weiß nicht, ob es mir gelingen wird,
in diesem brief wirklich auf alles zu ant-
worten, was der text Uber die internatio-
nale Situation an gedanlen hei mir aus-
löst, and die diskussion um diese Verän-
derungen. meine gcfühle und gedanken
sind gemischt beim lesen dieses briefs,
manchmal bin ich vollkommen einver-
standen damit, ein anderes mal nicht, und
ich will vor allem dahin kommen, einen
guten anfang zu finden, vielleicht ist es
das. daß ich dir sage, was ich unter dieser
neuen noch embryonalen qualität verste-
he.(3)
denn die politik des bewaffneten kampfs
in der, Zentren hat sich zum teil als kritik
der alten sclicmaia des revolutionären
Prozesses konstituiert, deswegen trugen
diese politische Strategie und das neue in-
ternationale Verhältnis nach den Stempel
der allen Schemata, so waren insbesonde-
re die kämpfenden Organisationen, die in
den imperialistischen Zentren aktiv wa-
187
ren, objektiv - aber auch subjektiv - in
die "Zwangsjacke“ der
osi/wesikonfrontation eingezwängt,
die stärke der subjektiven prägung hängt
auch von der des revislonismus in jedem
land ab. so habe ich den eindruck. daß in
den ländern, wo der revisionismus in der
arbcitcrklassc ziemlich cingepflanzt ist
(wie Italien oder frankreich im gegensatz
zur brd und der integration der arbeiterk-
lasse in das sozialdemokratische modell,
das dort vorherrscht) die revolutionäre
Politik gezwungen war, mehr abstand
von den alten Schemata des prozesses zu
nehmen, dieses alte Schema ist das, was
in dem brief beschrieben wird mit "die
offensive aller möglichen befreiungskräf-
te in eine strategische offensive gegen
das imperialistische System insgesamt
einmündete, das. seiner Zentralpotenz be-
raubt. dem würde nicht standhalten kön-
nen.”
aufpassen, ich will nicht sagen, daß diese
konzeption total fehlte und deshalb spre-
che ich von der Zwangsjacke der ost/
west-konfrontation. aber genau von die-
sem ausgangspunkt aus. der Zwangsjacke
also, sehe ich den zusammenbrach des
sowjetischen blocks als positiv an, denn
er "macht frei" von dem "weltweiten po-
litischen koordinatenkreuz”. und das ge-
nau in einem moment. wo in dem für sie
günstigen kräfteverhältnis. das die bour-
geoisie errungen hat. der bruch zwischen
den nutznicsscm dss Systems und den
ausgegrenzten quer durch die ganze weit
geht, auf der einen seite ist es die integra-
tion der abhängigen bourgeoisien in die
imperialistische -bourgeoisie (es fehlt
nicht an bcispielen dafür, wie die anwen-
dung der iwf-pläne. der gollkrieg, der
von der uno gedeckt wird, nicht nur von
den 5 ständigen mitglicdem des Sicher-
heitsrates. sondern von allen, ausge-
nommen einige wenige länder. etc.) auf
der anderen seite die allgemein verbrei-
tete ausgrenzung nicht nur der mehrheit
der bevölkerungen im trikont. sondern
auch in den Zentren.
trotzdem stimme ich mit dir überein, daß
der zusammenbrach des "sowjetischen
modclls“ oder seine damalige ablehnung
mit dem iranischen bcispicl das Zeichen
sind für die notwendigkeit, glaubwürdige
Perspektiven für eine menschliche Zu-
kunft zu entwerfen, und diese Perspekti-
ven müssen auch, wie el nato sagt, von
konkreten und unmittelbaren bedürfnis-
sen ausgehen.
aber diesen letzten punkt finde ich auch
positiv, ich mag keine prozesse mit
"Zukunftsmusik”, und ich sehe es seit
langem so, daß diese ideale fixicrang auf
eine Zukunft ohne ende eine der Charak-
teristiken des revisionistischen modclls
ist. sic ist die ncga'.ion des lebens. aber
sie steht auch im widersprach zum
dialektischen matcrialismus. cs hat mir
gut gefallen, daß du marx zitiert hast:
"die menschen machen ihre geschieh«
selbst, aber sie machen sic nicht aus frei-
en stücken..." es gehl also nicht darum.
schöne worte zu predigen, das ist nicht
möglich, und das gegenteil zu glauben,
öffnet genau die tür für bürokratische
abweichungen - da gibt es "die, die be-
schcid wissen und die, die zuhören", das
ist eine karrikatur des Verhältnisses
avantgardc/masscn, die vom revisionis-
mus entwickelt wurde, noch einmal: das
leidet unter dem mangel an dialektik.
aber, um auf die neue revolutionäre qua-
lität als wesentliche hinterlassenschaft
dieser letzten 25 jahre zurückzukommen,
werde ich schon grob 3 elemente zitie-
ren:
die radikale Infragestellung der linearen
prozesse der akkumulation der kräfte im
langdauemden revolutionären krieg; der
angriff auf das herz des Staates als unmit-
telbares und dialektisches moment des
aufbaus des revolutionären pols, das
neue internationale bcwußtscin über die
dimension des kampfes. der angriff in
den Zentren ist nicht nur solidarische Un-
terstützung der kämpfe, die sich hier und
da in den abhängigen ländern ereignen,
er ist zugleich notwendigkeit für hier und
für dort, der klassenkampf ist unabtrenn-
bar international, und wenn wir daran
zweifeln würden, dann ist es gerade die
kapitalistische Produktionsweise und ihre
weltweite verwurzeking, die uns das be-
weist. jetzt geht es darum, und da liegt
die dringende und vitale Schwierigkeit,
die gelöst werden muss, "den bonus zu
optimieren" und andere, die ich nicht zi-
tiert habe, weil ich faul bin.
so kommt man immer auf das problem
der neuen politischen bcstimmung zu-
rück, die eine Anstrengung zur neu-defi-
nition von Perspektiven erfordert, wie die
Strukturen der Organisierung und der
klasse. d.h., wie können die errangen-
schaftcn dieses jahrhunderts potenziert
werden, unter anderen von den Sackgas-
sen auszugehen, denn diese sind mit ih-
rem misslingen genau die erfahrangen
und beweise in vivo, daß der revolutio-
näre prozeß niemals ein rczept ist. son-
dern im gegenteil von der bewegung aus-
geht. und genau das ist im wesentlichen
der kommunismus. es geht nicht darum,
einen idealen zustand zu erreichen, son-
dern darum, daß das leben und seine be-
wegung im Zentrum der gesellschaft ste-
hen. statt einer vcrg:genstandlichung der
gesellschaftlichen Verhältnisse, wo die
individuen immer mehr konsumenten
sind und nur über die Warenwerte defi-
niert werden.
(I| pH« nai« etwn Cflri ven wa «Ua*3n 9. o»l 19« an <M Hawn
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ß) V*U brirtl odlhar arf ir«n tnrf ven U: von 21 |? 1 M!
siWiM nliDrjen
Nathalie Minigon
Brief vom 14. Juni 1992
... wie ich dir gesagt habe, als wir uns das
letzte mal gesehen haben, die
"Waffenruhe" ("trive" im französischen,
anm. d.U.) ist nicht das problcm.
ich war in dem augenblick entrüstet über
die politische Inhaltslosigkeit der erklä-
reng und auch über das. was mich auf ei-
ner anderen ebene beschäftigt hat. die
Waffenruhe ist also eine notwendigkeit.
wir stimmen, denke ich, in diesem punkt
überein, tatsächlich ist das einzige, was
aus diesem text gezogen werden kann,
die aufforderung zur diskussion. und
zwar wegen des mangels an konkreter
Perspektive, so ist das wichtige diese dis-
kussion in der deutschen revolutionären
bewegung und all derer, die in europa teil
der revolutionären geschichte sind,
im moment ist das wichtige, die entwick-
lung dieser diskussion zu verstehen und
wo sie steht, und auch, was uns auch be-
trifft. die diskussion nicht mit kritik zu
stören und so den diskussionsprozess,
der in gang gekommen ist. zu begreifen,
und zwar aus dem Verständnis und der
Überzeugung, dass das konzept der ein-
heit der revolutionäre keine leere hülse
ist. sondern im gegenteil schon rcalitüt
und eine kraft, die aufgebaut wird, so
muss die kritik. die wir üben, positiv sein
für alle, aus der erkenntnis. dass
"zusammen kämpfen” auch heisst zu-
sammen zu überlegen,
du musst wissen, dass meine erste rcakti-
on fast immer aus dem bauch kommt,
emotional ist. wie eva (haule, anm. d.ü.),
die geschrieben hat. dass sic tage damit
verbracht hat. sich an den köpf zu schla-
gen. ich selbst habe mich erschlagen ge-
fühlt von der politischen schwache, die
diese erklärung gezeigt hat. jetzt, wo ich
viel ruhiger bin, beschäftige ich mich ra-
tionaler damit, was die breite diskussion
bringen wird, und deshalb habe ich na-
türlich das bedürfnis, diese diskussion zu
verfolgen, auch di, wo es um die mabili-
sicrung zur freilassung aller gefangenen
geht.
in dem Zusammenhang: es ist klar, dass,
wie du sagst, wenn die regierung auf ih-
rer position bcharrt: freilassung nur unter
der bedingung des abschwörcns, auf-
grund von juristischen Prozeduren, muss
die mobilisieren« stärker und schärfer
werden.
Christian Klar
KONKRET-Leserbrief
Der Kopf mag ja rund sein und uns damit
der Gefahr aussetzen, daß sich die Ge-
danken in beliebige Richtung wenden,
aber vorne auf dem Kopf sitzt auch eine
Nase, die hilft, vorwärts und rückwärts
zu unterscheiden. Er enthält eine kleine
Leinwand hinter der Stirn, auf die der
Verstand Visionen wirft, und er besitzt
Augen, um den Blick kühl über Kimme
und Kom zu führen.
Allerdings beherbergt der Kopf, wie weit
man das Teil auch ausräumt, nicht das
Herz, das noch in den ärgsten Zeiten ge-
gen Kleinmut und links-deutsche Einsei-
ferei revoltieren könnte.
Christian Klar
Stammheim
Erklärung im Stammhei-
mer Prozeß: "Die Situa-
tion der Gefangenen ist
wie gehabt"
anfang des jahres kam die koordinic-
rengsgruppc für terror, die in Wiesbaden
alle die repressionsapporate und dienste
zusammenführt, die seit der aken gestapo
getrennt bleiben sollten, mit einer sache
raus, die als eine neue haltung des appa-
rats in der gefangenenfrage gelten soll,
der damalige bundesjustizminister prä-
sentierte das für die Öffentlichkeit, und
seitdem hieß das "kinkelinitiative”. daran
kam anfangs auch Optimismus auf - was
die läge der gefangenen angeht - als auch
allgemeinen erwartung auf eine rück-
nahme der kriminalisiereng und Unter-
drückung «1er linken, radikalen, opposi-
tionellen tc wegungen im land. inzwi-
schen sind 8 monate vergangen, es ist
hier nicht sache, ins einzelne zu gehen,
wer nicht tägliche, hautnahe erfahrengen
macht, liest jedenfalls zeitung und sieht
die tv-bilder.
aber kurz zum bereich knästc und pro-
zcssc. daß dieser prozeß hier überhaupt
angesetzt wurde und weitere in der art
folgen werden, sagt schon entscheiden-
des. die Situation der gefangenen ist wie
gehabt, die Verweigerung der Zusammen-
legung und die handhabung der freilas-
sungen bzw. die ablehnungcn sogar ge-
genüber weiteren schwer kranken - das
alles ist keine neue haltung, vielmehr ist
aus einer mehrmonatigen entwicklung
ein gciselkalkül mit ganz neuem chrgeiz
herausgekommen: im angeschlagenen
rhythmus haben sie sich errechnet, das
geisclmaterial reicht ihnen für die näch-
sten 10 jahrc (selbstjdiszipliniereng mili-
tanter politik in deutschland? derweil ist
in den letzten monaten eine ganz andere
initiative fett geworden, nochmal eine
"kinkel-initiative", diesmal eine echte: in
konsequenten schritten wurden verblie-
bene hindemissc aus d:m weg geräumt,
um auch deutsches militär in die Startpo-
sitionen zu bringen für das kommende
blutige rennen der imperialistischen
machte um die neuauttellung der etnfluß-
regionen. zwischen erster und zweiter Sa-
che besteht natürlich ein Zusammenhang,
fürs aufschwingen zur weltmachtfähig-
keit. die neue dominicreng und Verwü-
stung anderer europäischer und vieler au-
ßereuropäischer Völker herautbeschwört,
soll die Organisation in deutschland. die
aus den vergangenen 22 jahren die größte
internationalistische ausstrahlung und
moralische achtung besitzt, an die gefan-
genenfrage gefesselt werden,
aber die westliche weltpolizeitendcnz,
die politik der Verwüstungen, um platz zu
schaffen für erweiterte machtpositionen
und neue booms der weltmarktfürsten
und die tatsachc, daß seit den pogromen
in rostock der rassismus zur offiziellen
deutschen Staatsideologie erklärt ist, die-
se entwicklungcn bringen mich zu der
meinung, daß die neue aufbrechende und
sich organisierende linke hier im land ih-
re Strategie entwickeln sollte, ganz ohne
sich von den drohunger des apparats be-
eindrucken zu lassen, daß er ja gefangene
in der hand hat.
zum prozeß hier er ist auf die gelaufenen
kronzcugengeschäfte aufgebaut, im sozu-
sagen rechtlichen bedeutet das nur, daß
die staatsschutzjustiz sich ein weiteres
mal als Institution selbst auf den begriff
bringt: alles ist recht, was nur ihre rolle
als bloßes instrement zur ausmerzung re-
volutionärer Opposition schmiert, aber es
gibt da einen wichtigen punkt. das mo-
dell ist die westliche medienmaschinc,
wie sic 1991 für die bevölkerungen der
reichen Zentren eine Scheinwirklichkeit
in die wohnstuben projizierte, bis der
konsens so weit geschaffen war, die gol-
fintcrvcnlion durchzuführcn. in derselben
herrschaftstechnik läuft das mit der Prä-
sentierung von sogenannten kronzeugen.
die paar kriminalistischen Informationen
sind ganz zweitrangig, die hauptsache ist
die ausgedehnte inszcnicreng von
Scheinwirklichkeit für die staatliche poli-
tik, tatsächliche geschichte zu usurpieren,
damit sic nicht von unten für die Zukunft
angeeignet wird, der apparat mästet sich
am kollaboratcur. aber in der sache au-
thentisches kann der nicht mehr vermit-
teln. er selbst ist aufgelöst in den zwän-
gen der inneren rechtfcitigung, von rück-
vcrsichcrengen und für die erfüllung des
eigenen beitrags zu dem geschäft, das
ihm den lohn bringen soll,
schließlich zur gcldaklion in Zürich: man
müßte nicht groß darüber reden, wenn es
bei dieser aktion nicht Opfer unter unbe-
teiligten gegeben hätte,
grundsätzlich vorweg noch gesagt: daß
für die bcdürfnissc revolutionärer bewe-
gungen das geld aus den tresoren des ka-
pitals herausgcholt wird, ist natürlich ge-
rechtfertigt. damit werden die scheine
aus dem kreislauf der ausbeutung und
Versklavung rausgenommen und gerech-
ten zwecken übergeben,
cs geht hier um die geldbeschaffungsak-
tion im november 1979 in der Züricher
innenstadt. der ausgangspunkt der Pro-
bleme ist gewesen, daß der abgang nach
der bank nicht ausreichend überlegt auf-
gebaut worden ist, dann muß nur noch
ein zufall dazukommen, und die tedin-
gungen sind da. in denen aktivbürger
sich ermutigt fühlen, hilfskraft für die b.
zu spielen, solch: leute haben schließlich
auch mobilisierte polizei an die raf-grup-
pe rangefUhrt. bis dahin war noch kein
maisch verletzt worden, aber zwei der
Polizisten lösten dann an zwei verschie-
denen orten die Schußwechsel aus. in de-
ren Zusammenhang eine passantin tödlich
getroffen wurde und eine zweite frau
schwer verletzt, allerdings anders als die
Anklageschrift monströs zeichnet, hat es
von der raf-gruppc an keiner stelle der
flucht absichtliche schüsse gegen das le-
ben ziviler personen gegeben, auch ge-
gen keine der beiden frauen! aus den ob-
jektiven hinweisen ist nicht mal gewiß,
ob der tod der passantin oder die Verlet-
zung der pkw-besitzerin durch polizclku-
gcln oder durch kugeln aus den waffen
der raf-gruppe verursacht wurden, und
nach den eigenem rekonstruktionen später
gab es nur Wahrscheinlichkeiten, gefol-
gert aus dem Standort der personen und
aus den Schußrichtungen, aber das alles
soll nicht die Verantwortung unklar ma-
chen. die liegt schon mal darin, daß cs
die eigene aktion gewesen ist. und beson-
ders darin, als den gcfechtcn mit Polizi-
sten nicht mehr auszuweichen war, die
waffen zum teil mit einem mangel an
Umsicht eingesetzt worden sind, zum teil
auch mit schlimmer riicksichtslosigkeit,
die in solcher Umgebung nicht sein darf,
cs gehört zur grundsätzlichen Verantwort-
lichkeit, daß der cinsatz der wiffen,
wenn dem schon nicht mehr ausgewi-
chcn werden kann, dann so geschieht,
daß keine unbeteiligten gefährdet wer-
den.
das sind prinzipien aus dem wesen der
revolutionären linken - um sich als ein-
zelner und als Organisation immer wieder
dahinzuschaffen, es auch umzusetzen,
muß die (selbst)erziehung bewaffnet
kämpfender linker Organisationen sein.
189
Karl-Hein : Dellwo
Erklärung von Ende Okt.
1992
die bundesjusiizministcrin hat bemd röß-
ncr ’strafausstand' gewährt, das ist der er-
satz für eine entscheidung des bun-
despräsidenten. die trotz fester Zusagen
nicht gekommen ist. statt einer politi-
schen entscheidung liegt nun eine vor.
die die netwendigkeit einer politischen
antwort des Staates auf die gefangenen-
fragc. aber auch auf die raf, untcrschlci-
chen will, an der staatlichen haltung uns
gegenüber hat sich damit nichts geändert,
diese entscheidung macht politisch nichts
auf.
im januar ’92 war der damalige justizmi-
nistcr kinkel mit der erklärung an die Öf-
fentlichkeit getreten, von seiten des Staa-
tes politische bewegung in da> Verhältnis
zu uns reinzubringen, eine 22jährige
konfrontation hat ganz einfach auch ihre
faktische evidenz geschaffen, der nur
noch dummköpfc ihrer» politischen gehalt
bestreiten können, das war durchaus neu,
gehörte cs doch zur politischen Schizo-
phrenie dieser jahre. das politische dieser
Situation im intcrcssc ideologisch-propa-
gandistischer Positionen wegzubeten, es
kam allerdings schon jahre zu spät,
wir hatten 1989 in unserem damaligen
hungerstreik um Zusammenlegung bereits
versucht, de politisch und auch militä-
risch festgefressene Situation zu öffnen
und eine reue cntwicklung zu ermögli-
chen. die raf hatte, wie ihr nicht-militäri-
schcs verhalten bewies, diesen versuch
mitgetragen, vom Staat allerdings war das
nur als untere schwäche ausgelegt wor
den, wieder einmal lehnten sic sich zu-
rück, wieder einmal sahen sie sich kurz
vor dem großen sieg, so traten sie nach
dem abbruch des hungerstreiks auch nur
nach: die Verweigerung der Zusammenle-
gung wurde fcstgcklopft, neue kampa-
gnen gegen uns oder unsere anwälte in-
szeniert, neue zcllcnrazzicn und das ein-
leiten neuer prozesse. nach außen weiter
der alte repressionsbetrieb, das ergebnis
war die fortsetzung der militärischen
konfrontation.
kinkel dann am’ juhicsuiifung. 'mit den »i-
chcrhcitsbchörden abgestimmt’, schien
endlich ein anzeichen dafür zu sein, daß
auch der Staat sich der politischen realität
stellen will, allerdings kam kurz nach
dieser ‘initiative’ von den gleichen
■Sicherheitsbehörden’ die erste rück-
nahmc: die baw zog ihren sslbstprodu-
zierten "kranzeugen’' nonnc aus der ta-
schc und versuchte, jedes politische Vor-
gehen zu durchkreuzen,
auch ansonsten blieb die Tcinkel-initia-
tive' ihren realitätsbeweis schuldig, wäre
sie ernst gemeint gewesen, hätten ihr
schritte zur Zusammenlegung folgen
müssen, im vollständigen fehlen dessen
war bereits ausgedruckt, daß auch die
'kinkel-initiative' weiter auf der prämissc
der zcrstöning der gruppe basierte, daran
wird sich natürlich nichts entwickeln,
im april kam dann die erklärung der raf,
angrilfsoperationen auszusetzen zugun-
sten der cinlcilung eines politischen pro-
zesses. die gefangenen haben das durch
die erklärung von irmgard möller bekräf-
tigt. diesen schritt der raf muß man ein-
deutig als versuch sehen, aus der Illegali-
tät heraus das neu in gang zu setzen,
womit die gefangenen 1989 gegen die
dumpfe haltung der macht gescheitert
waren, mit weiteren erklärungen hat die
raf inzwischen ihre entscheidung bekräf-
tigt und vertieft, damit war auch die frage
des bewaffneten kämpfes offen gemacht
und eine Situation hcrgcstcllt, wie es sie
zuvor noch nie gegeben hat.
die unmittelbaren öffentlichen reaktionen
darauf - läßt man politiker. wie däublcr-
gmclin oder penner beiseite, ebenso die
esu. von der nichts anderes zu erwarten
ist - waren teilweise ven der erkenntnis
getragen, daß es auf diesen qualiiativcn
schritt der raf eine entsprechende antwort
geben muß. gekommen ist sic nicht,
stattdessen wurde nur taktiert, während v.
stahl z.b. öffentlich erklärte, die gefange-
nen müßten nicht abschwören oder ihre
geschichte denunzieren, versuchte der
zuständige olg-senat günter sonnenberg
im anhörungsverfahren dazu zu zwingen,
gegen die sofortige frcilassung von bemd
rößner wurden immer neue Schwierigkei-
ten geschaffen, wurde der raf-schritt im
april in den öffentlichen Stellungnahmen
noch begrüßt, erklärte die neue bundes-
justizministerin unter ausschluß der Öf-
fentlichkeit im august den anwälten: 'es
wird keine politische entscheidung ge-
ben', keine zl\ und: 'machen sie den ge-
fangenen keine hoffnungen' . verbunden
war das mit dem verlangen, daß das nicht
öffentlich wird, eine vollständige absage,
aber ohne politische kosten - wie immer
die Strategie des maximalen profits! dar-
über hinaus zieht die baw nicht nur ihre
neuen verfahren durch, die ein neues ag-
gressives moment in die Situation brin-
gen; sondern sic führt sic auch mit «kr
öffentlich dargclcgtcn absicht, die frci-
lassung von bestimmten gefangenen auf
mindestens die nächsten zehn jahre zu
verhindern, als könnte das aufgehen!
das war die staatspolitischc antwort auf
die raf-erklärung. und sie hat nur ein
'signal': das alte wird fortgesetzt, nur
diesmal unter dem schein von
'normalisicrung' der Situation, während
die raf raum und zeit für eine cntwick-
lung außerhalb des auch staatlicherseits
festgefressenen kriegsverhältnisscs ge-
190
öffnet hat, wird der raum von staaisscitc
wieder zugemacht und die zeit verspielt,
während raf und gefangene einen prozeß
politischer diskussion angestoßen haben,
in dem auch selbstkritisch über inscrc
geschichtc reflektiert wird, wird ven der
staatsscitc die eigene Vergangenheit
tabuisiert, aber 22 jahrc ausnahmezu-
stand und ausnahmesituation auf allen
gebieten gegen uns werden nicht durch
ein übcrglcilcn in einen scheinnormalcn
zustand aufgehoben.
wir hatten keine irrationalen oder uner-
füllbaren anforderungen gesetzt, uns war
klar, daß cs ein längerer prozeß ist. an
dessen ende die freiheit der politischen
gefangenen steht und eine lösung für
darüber hinausgehende fragen, in der cr-
klärung von irmgard möllcr stand, daß
niemand von uns davon ausgeht, daß die
freiheit aller gefangenen von heule auf
morgen umgesetzt werden kann, aber es
muß für alle und alles eine Perspektive in
einem überschaubaren Zeitraum geschaf-
fen werden.
sofort möglich für den apparat und die
Politik war die freiheit aller haftunfähi-
gen gefangenen, das einleiten bei denen,
die Uber IS jnhre inhaftiert sind, und je-
ner widcrstandsgcfangcncn, die schon
jetzt zwei drittel ihrer hafl hinter sich ha-
ben. für die anderen als Übergangslösung
zu ihrer freiheit die zl. zu den notwendi-
gen schritten von Staatsseite gehört auch
die mchrfachanrechnung der isolations-
halt. nichts ist gelaufen,
trotz dessen haben wir noch auf die an-
gekündigte cntschcidung zu bemd rößner
gewartet, um danach für alle, die über 15
jahrc in haft sind, cntlassungsanträge zu
stellen, das sind in lübeck: irmgard möl-
lcr. hanna krabbe, Christine kuby; hier in
ccllc lutz laufen knut folkerts und ich. in
bochum betrifft es Stefan wisniewski.
verbunden damit war die bcrcitschaft zu
den anhöru rigen. und cs ist auch klar, auf
was wir uns dort einlassen und auf was
nicht: keiner von uns wird nach seiner
freilassung zum bewaffneten kampf zu*
rückkehren. wir hatten das im april be-
reits gesagt: aus den tiefgreifender glo-
balen und inncrgesellschaftlichen Umbrü-
chen ist eine einfache Fortsetzung der po-
litik und praxis der 70er und 80er jahrc
unmöglich, der schrill der raf war über-
fällig und hat die suche nach der neube-
stimmung systemoppositioneller politik
erleichtert.
keiner von uns aber wird in diesen anhö-
rungsverfahren eine auscinandcrsetzung
über unsere gesrhichte. unser selbctver-
ständins oder das. was ein cmanzipatori-
schcr prozeß -individuell wie auch ge-
sellschaftlich - in der Zukunft sein kann,
führen, diese auscinandcrsetzung ist öf-
fentlich, und wir suchen darin eine neue
grundlagc für die Zukunft, wir werden
uns mit diesen gesellschaftsverhältnisscn
nicht versöhnen, wir wollen auf anderer
ebene gegen die kapitalistischen Verhält-
nisse für deren fundamentale Umwälzung
weiter kämpfen, die lebcnsvcrhältnissc
hier und im trikont lassen für uns nichts
anderes zu.
an der cntlassungsfragc bemd rößner
hätte sich eine politische Zäsur auf der
staatsscitc artikulieren können, nach dem
inhalt der nun getroffenen entschcidung
können wir nur noch feststellen, daß sie
diese politische bedeutung nicht mehr
hat. denn die jetzige cntschcidung besagt,
daß die weitere behandlung aller fragen
nicht nur der form, sondern auch dem in-
halt nach an die justiz abgegeben worden
ist. jene wird aus ihrer ideologischen und
normativen Fixierung heraus erst recht
nicht die cntscheidung treffen, zu denen
die politik offensichtlich nicht willens
ist.
natürlich soll jcdc/t raus, dic/dcr raus
kann, irmgard möller sitzt im 21. haft-
jahr. 17 jahrc nach dem völkerrechtswid-
rigen vietnamkrieg vollstreckt die bun-
desregierung immer noch die rache an
denen, die auf seiten dieses vom imperia-
listischen genocid bedrohten Volkes ge-
gen diesen krieg gekämpft haben, das
steht symbolhaft für die zustande hier:
die vom System gehaltene Vergangenheit
wütet in ihrer logik und in ihrem Sinnge-
halt immer weiter fort, mit nichts gibt es
einen bruch. so kann alles auch immer
neu wiederkommen: dafür steht auch der
namensgeber der 'kinkel-initiative', der.
kaum zum außenminister geworden, sei-
nen vietnamkrieg in kurdistan mitfUhrt.
so setzt sich auch im innem de logik ih-
rer staatsschutzdcmokratic fort, so kön-
nen wir auch nur feslslellen: wie jedes-
mal in der Vergangenheit, so ist auch die-
ser versuch von ihnen, eine andere ent-
wicklung einzuleiten, gemeinsam von
politik und apparat substantiell aufgc-
fressen worden.
wir werden das mit den anhöningsvcrfah-
ren weitennachen. aber wir sagen auch:
es gibt grundsätzlich gegenüber den ge-
fangenen und der raf von seiten des Staa-
tes keine offene politische Situation
mehr, sie hängen immer noch der absicht
nach, uns als gruppe politisch zu zerstö-
ren.
wir sagen aber auch: auch wenn alles ei-
ne neubesiimmung erfahren muß - die
geschichte im bewaffneten kampf ist teil
unseres lebens. er selber ist teil des
weltweiten aufbruchs ab mitte der 60er
jahre. es wird niemanden gelingen, diese
geschichtc auszulüschcn und unseren Zu-
sammenhang zu sprengen, unsere cnt-
scheidung, daß jetzt die cntwicklung ei-
nes politischen prozesses auf neuer
grundlagc für uns Priorität hat, ist eine
kollektive, und so muß auch damit um-
gegangen werden, alles andere wird nicht
aufgehen.
celle. ende Oktober
191
Rolf Heißler
Brief vom Januar 1993
das jahr 92 begann mil dem lancieren der
kgt-initiative in die Öffentlichkeit, deren
kern das in aussickt-stellen der freilas-
sung einiger politischer gefangener war
unter dem Vorbehalt, daß die raf auf Ope-
rationen verzichtet, und mit dem ziel, daß
sich an unserem kampf um unser leben
gegen die mcnschcnzcrstörerischen bc-
dingungen keine politischen prozesse
mehr entwickeln, un so der guerilla das
wasser abzugraben, sie war und ist die
Umsetzung der lochtc-thcsc: ohne gefan-
gene keine raf. die von bestimmten libe-
ralen und 'linken' kreisen übernommen
wurde.
dem Staat ging es nie um eine 'politische
Lösung' in der frage der guerilla und der
gefangenen, wie. aus welchen gründen
auch immer, von vielen behauptet und
gehofft wurde, deswegen ist es auch
falsch, wenn jetzt noch immer davon ge-
sprochen wird, die 'kinkel-initiative' sei
gescheitert oder ttf, im gegenteil, sic
steht in vollster blüte und erntet ihre er-
sten erfolge, wenn wir cs weiter so laufen
lassen, der Staat setzte auf Spaltung und
cntsoiidarisicrung, indem die von ihm
fcstgelegten kriterien für eine freilassung
nicht auf alle zutrafen,
die ständigen kriminalisierungsversuche
schränkten unsere kommunikation in un-
erträglicher weise ein und vemnmöglich-
ten. zu einer gemeinsamen Analyse der
Situation zu kommen, trotzdem ging das
staatliche kalkül der kgt-initiative nicht
auf. niemand von uns ließ sich zur di-
stanzierung von bewaffneter politik
und/oder der eigenen gcscltichtc um der
freilassung willen erpressen, um so über-
raschter war der Staat von der april-crklä-
rung der raf. sie nahm nicht nur die es-
kalation bedingungslos zurück, sondern
bewertete auch die 'kinkel-initiative* als
anzeichen für fraktionen im Apparat, als
ob noch kein jahr zuvor die kgt nicht als
das mittel der koordinierung und Zentra-
lisierung der bekämpfung installiert wor-
den wäre, und für die mögliche eröff-
nung des politischen raums, als ob der
imperialismus/kapitalismus diesen einer
lundamentalopposition je freiwillig zu-
gestanden hätte oder zugestehen würde,
zudem verknüpften die genossinnen die
neubestimmung revolutionärer politik fa-
talerweise mit der gefangenenfragc, sie
sagten nicht, wir wellen jetzt alle gefan-
genen frei haben, sondern gestanden dem
Staat unser festhalten als gciscln und
rückversicherung gegen bewaffnete poli-
tik zu. dieses papicr wie auch die folgen-
den signalisierten dem Staat nur eines:
die raf in ihrem derzeitigen zustand der
dcsoricnticrung ist mit sich selbst be-
schäftigt. damit handlungsunfähig und
braucht nicht mehr ernst genommen zu
werden, wir können mit den gefangenen
machen, was wir wollen, und das haben
sic im verlauf des jihrcs zur genüge ge-
tan.
das haben wir durch unsere erklärung
vom 15.04.92 auch noch gestützt, wir be-
zeichnten die entscheidung der raf als
richtig - richtig dagegen ist aufgrund der
Umbrüche und der Stagnation in den letz-
ten jahren lediglich eine phasc des strate-
gischen rückzugs, iber ob die genoss-
inn-en ihren schritt genauso sehen, ist
nach ihren erklärungen mehr als fraglich,
diskussion wurde zum ziel erklärt, nicht
als mittel des kamplcs um den gemein-
samen politischen prozeß gesehen, der
tägliche praktische antworten gegen die
eskalation finden und zugleich konzen-
trierte und kontinuierliche Arbeit an
neuen Strategien und Organisierung be-
deuten muß - und darüber hinaus unter-
warfen wir uns gleichfalls den vom Staat
festgelegten kriterien für unsere behand-
lung. diesen fehler haben wir nicht korri-
giert. sondern er setzt sich ausgeweitet in
der erklärung von karlheinz dcllwo fort,
ob die inquisitorischen ’anhörungen’, die
ablehnung der freilassung der haftunfä-
higen, die ’strafauisetzung' bei bemd
(d.h. der Staat hält sich die Option offen,
ihn wieder der schleichenden Vernich-
tung auszusetzen) oder die kronzeugen-
prozesse (gleich versuche der legalisic-
reng der todesstrafe über das konstrukt
der 'schwere der schuld'), die fortdauern-
de Verweigerung unserer zl, von ge-
sprächszusammenfühnmgen und damit
der diskussion, die staatliche botschaft an
uns ist unmißverständlich, als politisch
handlungsfähige Subjekte wollen sie uns
nicht übcr/lcben lassen, was sic hinter ein
paar frcilassungen vor der Öffentlichkeit
zu verstecken versuchen,
doch dies werden wir nicht zulassen, die
neubestimmung revolutionärer politik än-
dert an der legitirmtät unseres kampfes
und unserer ziele genauso wenig wie an
der Legalität ihrer maßnahmen gegen
uns seit über zwei jahrzchntcn. ihre lob-
preisung unserer bekämpfung in den letz-
ten wochen dient nicht der behinderung
der von ihnen hochgezüchteten und be-
günstigten rechten, sondern zielt aus-
schließlich auf die nachträgliche rcchtfcr-
tigung ihres menschcnrcchtswidrigen
Vorgehens gegen uns. der revolutionäre
kampf hier muß sich aus der gesamten
internationalen situition bestimmen und
politisch und praktisch das niveau errei-
chen, das der weltweiten auscinandcisct-
zung zwischen Imperialismus und befrei-
ung entspricht, das durch den Zusammen-
bruch der realsozialistischcn Staaten ent-
standene vakuum können nur die revolu-
tionären und basisfcewegungen durch in-
ternationale Zusammenarbeit und prakti-
sche Solidarität füllen, der kampf um bc-
freiung der politischen gefangenen welt-
weit ist eines der konkreten politischen
felder für den aufbau einer neuen intena-
tionalistischen front, von der die in We-
steuropa ein teil ist. nur in globalen bezü-
gen kann der revolutionäre prozess neu
entwickelt werden.
damit keine mißvcrständnissc entstehen:
wir halten die freilassung von uns und
d.h. auch von denen in celle und lübcck
für überfällig, das wollen wir auch für
sie. aber wir teilen nicht die aussagen.
die sie dazu machen, der von ihnen ein-
geschlagcnc weg läßt sich gegen revolu-
tionäre politik und damit auch konkret
gegen uns mißbrauchen, und zusätzlich,
wenn man dem Staat den kleinen fingcr
reicht, will er die ganze hand, versucht
er, die totale Unterwerfung zu erzwingen,
die auswirkung des fehlere vom april und
dessen Fortführung durch sie werden die
genoss-inn-en zu spüren bekommen,
für uns steht aufgrund der erfährungen in
diesem jahr fest, der Staat hält unverän-
dert an seiner jahrzehntelangen vemich-
tungsstrategie fest, das ist nichts neues,
sondern unsere Wirklichkeit vom ersten
tag unserer Gefangenschaft an. wir wer-
den weiter kämpfen um unser leben und
für unsere zl mit dem ziel unserer frei-
heil. unsere Forderungen liegen seit 89
auf dem tisch, und daran halten wir un-
verändert fest.
januar, 1993
192
Heidi Schulz
Auszug aus einem Brief
vom Januar 1993
wir brauchen einen klaren ausgangspunkt
für die cntwickkmg der nächsten zeit,
deswegen ist es notwendig, einen Schluß-
strich unter die kimpagne. die seit anfang
92 gegen uns und revolutionäre pslitik
überhaupt läuft. ?u ziehen, das ist Jüngst
überfällig, um die ganze Verwirrung - zu
dem ziel: freiheit - zu beenden,
eine Verwirrung und desoricnticrung. die
die wurzeln von allen bestimmungen re-
volutionärer politik anfrisst, weil sie an-
gefangen hat. das klare antagonistische
Verhältnis zum Staat, gegen Unter-
drückung und machtpolitik aufzulösen:
dass wirkliche Veränderung - wirkliche
schritte nie mit ihm. sondern gegen seine
politik erkämpft werden können, das hat
sich in diesem jahr vermischt, weil aus
richtigen gedanken eine falsche Haltung
geworden ist.
so berechtigt urd richtig der gedunke
war. der staatlich propagierten linie der
sogenannten kinkelinitiative kein plattes
"nein" "entgegenzuhaltcn", sondern sie
mit der forderung nach freiheit aller re-
volutionären gefangenen zu konfrontie-
ren, die nach 20 jahren vcmichtungshafl
längst überfällig ist. wie die Trauen in lü-
bcck das benannt haben, freiheit für alle,
in einem überschaubaren Zeitraum - und
dass darin als erster schritt die freilas-
sung der haftunfähigen - bemd, isabel,
ali anstcht. sowie dass angelika und utc
nicht wieder eingeknastet werden, und
die freilassung derer, die seit 15, 17 und
20 jahren im knast sind, laufen muß. so
richtig diese konkrete bcstimmung war,
so falsch wurde es, als daraus eine entpo-
litisierte haltung geworden ist. die trotz
aller gegenteiliger staatlicher cntschei-
dungen, wie z.b. bemds
"gnadcnentscheidung“ fallen zu lassen,
den eindruck vermittelt, cs gäbe eine
grundlagc, sich auf die
"formaljuristischen verfahren" cinzulas-
sen und sich mit dem Staat zu einigen,
aus der Situation von wenigen bestimmt
und das noch in dem ganzen (vom staat-
lichen abschwörintcresse bestimmten) al-
ten rahmen wie er bei solchen
(anhürungs)vcrfahrcn schon immer war -
wie cs sich in der erkläning von karl-
heinz ausdrückt, eine haltung. die nicht
mehr von der realen Wirklichkeit ausgeht,
sondern von der reformicrbarkeit dieses
Staates, die den eindruck erweckt, man
könnte mit diesem Staat einig werden, als
wären die anhöiungsritualc - das ganze
formaljuristischc Vorgehen zu ihrer frei-
lassung kein abschwörritual. der irrtum
auch, als ginge cs dabei um die form und
das mittel 'bewaffnet zu kämpfen", wäh-
rend cs in Wirklichkeit um das politische
fallcr.lassen von revolutionären, antago-
nistischen inhalten und politik geht - das
ist der knackpunkt, und die loslösung da-
von soll der preis sein, den jeder indivi-
duell zu zahlen hat. um raus zu kommen,
sonst würden die neuen prozesse gegen
viele von uns nicht angestrengt, die eben
mit der 'schwere der schuld' suggerieren
sollen, es hätte nicht jede/r die gleiche
politische Verantwortung in der praxis
und politik von 22 jahren antagonisti-
scher politik; eine differenzterung, die
eben “eine lüsung für alle" verhindern
soll.
dazu gehört: eine eindimensionale sicht-
weise. die nur unsere fehler und schwä-
chen sehen will und losgelöst von der
dialektik “von revolution und konterrevo-
lution". losgelöst von den konkreten
herrschaftsprojektcn und bekümpfungs-
strategien gegen revolutionäre politik
und jeden widerstand, fühlt natürlich
nicht zur Weiterentwicklung >on revolu-
tionären erfahningen. zu lemprozessen
aus der authentischen gcschichte von 22
jahren kampf, zu neubestimmungen auf
dieser geschichtlichen grumll3ge, son-
dern zu ihrer negation, zur regation all
dessen, was erkämpft worden ist. das ist
dann nicht mehr die trcnnungslinie zu
kapitalistisch-imperialistischer herr-
schaft. sondern ein Schlußstrich zu revo-
lutionärer politik zu setzen,
das aus einer enttäuschung über viele
"niedcrlagen" und rückschläge - die aber
auch eine frage nach der praxis und poli-
tik an alle anderen kräfte ist - nicht mehr
wahrhaben zu wollen, und daraus auch
nur noch von der eigenen Situation aus-
zugehen und sich in "modifizierter" form
auf die staatlichen kalkülc einzulassen,
um wenigstens die eigene freilassung zu
erreichen, ist Selbstbetrug, so wird alles -
jeder Vorschlag, jeder Inhalt, jedes ziel
zum Objekt ihrer Strategie, und es wird
auch so nicht laufen, weil die logische
konsequenz daraus ist, dass die staats-
schulz-apparate "nicht nur" eine verklau-
sulierte distanzierung zur gcschichte die-
ser 22 jahre verlangen, sondern natürlich
eine, "die in die Zukunft weist" - die den
ganzen klassenantagonismus leugnet zu-
gunsten einer reformistischen haltung
von sogenannter (nicht wirklicher)
"fundamcntalopposition“, die verhindern
soll, dass eine neubestimmung - aufgrund
der tatsächlich zugespitzten gesellschaft-
lichen wie internationalen Verhältnisse -
von antagonistischer revolutionärer poli-
tik möglich wird.
genau daraus bestimmt war der "politisch
teil" der kgt-initiative und der Umgang im
konkreten - gegen wirkliche schritte: die
bedingungslose freilassung der haftunfä-
higen und derer, die schon am längsten in
der vcmichtungshafl sird, sowie die Zu-
sammenlegung als Übergang für die and-
eren. als erste schritte für die freiheit al-
ler zu unterlaufen, zu verhindern,
und in diesen staatsschutz-manövem, die
schließlich in einigem das denken verhin-
dert und gelähmt haben, ist uns selbst der
klare politische blick über weite strecken
verloren gegangen, die klarheit, mit der
zu anfang noch die "kirkclinitiative” ge-
sehen wurde, als ein versuch, um der
mobilisiemng zur freiheit aller revolutio-
nären gefangenen, die seit dem streik 89
in vielen diskussionen teil war, dass
diese forderung die einzige politische
und legitime antwort gegen jahrzehnte-
lange vcmichtungshafl ist, - zuvorzu-
kommen. zu desorientieren, zu neutrali-
sieren. um zu verhindern, dass gegen das
staatliche vcmichtungskalkül eine kraft
hochlommt. die die freiheit auf die ta-
gesordnung setzt.
sic haben dabei genau in dem
(politischen) loch operiert, das mit dem
ende der 80er jahre eigentlich fllr alle
deutlich war, und das von einer gesamt-
linken neuformiemng hätte gefüllt wer-
den müssen, dass aufgrund der grundle-
gend veränderten intcrrniionalen wie ge-
sellschaftlichen Verhältnisse, eine be-
stimmung von revolutionärer politik
notwendig ist, die diese neuen Verhältnis-
se sowohl analytisch auf den politischen
begriff bringt wie auch einer praxis, die
dazu in der läge ist, die realen, die zuge-
spitzten und umfassenden gesellschaftli-
chen Widersprüche in eine revolutionäre
verändernde richtung zu orientieren, also
auch inhaltlich und in Zielbestimmung,
die eine entwicklung möglich macht ge-
gen die Zersplitterung und perspektivlo-
sigkeit in den linken Zusammenhängen,
für eine neuformicrung, die zu einer ge-
meinsamen verändernden kraft gegen den
grossdeutschen machtrausch in der läge
ist ur.d gegen die Zerstörung von jedem
gesellschaftlichen polilsch-sozialen le-
bensraum authentische politische räume
durchsetzt, eine ncuoricnlierung, für die
wir im streik 89 auch um eine "politische
diskussion mit gesellschaftlichen grup-
pen" gekämpft haben, für eine politische
diskussion eben mit allen, die hier grund-
legende Veränderung wellen.
(... der Mittelteil dieses Briefes ist in die-
ser Broschüre in Kap. III abgedmekt ...)
und ich denke, dass die freiheit nur als
integraler bestandteil der kämpfe gegen
die ganze reaktionäre rechtsent wicklung
möglich ist. durchzusetzen, weil die fa-
schlsierung von oben und unten zurück-
gedrängt werden muss, um rationale lö-
sungen an vielen brenn- und Schnittpunk-
ten, um einen politischen Umgang mit
politischen "konflikten' und reale Verän-
derungen durchsetzen zu können, mög-
lich zu machen.
so denke ich auch, dass der kämpf für
unsere Zusammenlegung und freiheil
jetzt nur integriert sein kann in den ge-
sellschaftlichen kiarungsprozess gegen
die reaktionäre entwicklung als kampf
gegen staatliche Unterdrückung, integriert
in den prozess der neuformicrung des re-
volutionären projckts. darum geht es uns
und in dem prozess werden wir teil sein,
so gut wir können.
gemeinsam im kampf gegen reaktion. fa-
schisierung, rassismus, mit den revolu-
tionären krüften weltweit, werden vir die
freiheit, unserer aller freiheit durchset-
zen.
anfangjanuar 1993
Bahamas
Zirkular de» Gruppe K. erscheint alle 2-3 Moiate mit Teulcn und Analysen zu
Deutschland und de» mar»istischer. Oiskussien Anunauonal. annkapnahstiscn
marxistisch
Nr 1 2 (Winter 1&93/94)
Proletarischer Nationalismus
- "Antikapitalismus'’ von rechts
ScMve/punAf Die Sch*icrigkcilen der Linken mit der sozialen Frage und ihrem
Verhältnis zur Nation Rebellischer •Antikaoitalismu*“ und Anüsen-msmu»
• Tiu»«t»n zum Anntumlismus * Rol-biaune Allianz in Rußland ‘ linke» Antizio-
minus * Bedeutung de» sozialen Fiage in G»o3deutSChland * AtDeitirbe^cgung
und Nahon * Lm*e und Nazis • Kritik an PDS. BWX. Aibe.iwpoiiuk und
Autonomen * Mil diesem Volk?
Außerdem • Revisiorismus Die Neue Wa;ne ■ Trauer um Heitmann • Zu»
Diskussion um Rassismus und Antnassis«u* * Tu»cko zum Zweiten Die
Geschicenictlrage
S6 Seilen
vorn ernar cr> Bahamas u • Kapii*»stis<fid »'S« • nniaanscne mier.en.on Somata
Aigosia-ien. Oeoan# um Cnnswpn Iuicaos Hassimus Naiteiemwv «iaiiama;. tu
Einzelpreis OM 6 fnui Voidus«asse.‘Bn?ri7idi«en;
•'OOi’nenieiif De» OC^meijui’g OM 18 .’u» /r—eü d.ci Nummern i m texaui i>le> am hes/en
Eoirugsemiacnf^uisg
Ort
Büro K, Karolinorstr. 21/Hs. 2, 203S7 Hamburg , Tel. 00-438846
Konto: S.Roisch/KDreyor. HaSpa. BLZ200 505 50. Kto. 1228/122 386
die zeitung für die freiheit
der politischen gefangenen
☆ information über 1 29a - verfahren
und andere politische prozesse
abobestellung -mind. 5 exempl. ä -,50dm
einzelexemplar -gegen 3.-dm in briefmarken
clockwork 129a; leibnizstraße 24; 6500 mainz
194
Dokumentation
Lutz Täufer. Gesellschaft oder Isolation (Fcb. 1994)
195
Lutz Täufer
Gesellschaft oder
Isolation
"In der RAF war immer auch
etwas Emanzipaturisches"
Wir wurden in den letzten Wochen oft
gefragt, welches denn nun die polilisahen
Differenzen seiea. Das ist in der Tat nicht
so ohne weiteres zu entschlüsseln, nicht
zuletzt deshalb, weil es eine zu verbindli-
chen Resultaten, also zu gemeinsamen
Grundlagen kommende Diskussion so gut
wie nie gegeben hat und so Aussagen Uber
ein Hierhin oder Dorthin allenfalls in
Ansätzen vorhanden sind.
Es wäre besser gewesen, schneller
etwas zu sagen. Aber erstens hat diese
Spaltung erstmal umgehauen; zweitens
wollte ich einen Beitrag, der etwas erklärt
statt zu polemisieren, einen Fehler, den ich
in früheren Texten ab und zu gemacht und
so sicher meinen Teil zur Eskalation
beigetragen habe; an den tatsächlich
oder vermeintlichen Fehlem von andern
hochzuklcitcm. das ist schnell in die
Tasten gehauen, das andere braucht Zeit;
drittens sind die Arbcitsmöglichkciicn —
im Knast und nach fast 20 Jahren Knast -
andere als draußen. Der Mangel an sinnli-
cher Gewißheit über die Zustände und
Veränderungen draußen macht die Arbeit
nicht leichter. Schließlich; Wenn ich was
nachlesen will, greife ich nicht hintermich
ins Regal, sondern brauche bis zu drei
Tagen, Ws ich zu meinen Buchcrkanons
auf der Kammer vorgedrungen bin.
Inhaltlich ist das erste Problem, selbst
zu verstehen, wie die Entwicklung war.
das zweite, dies änderen zu vermitteln. In
dem. was die Gefangenengruppe real war,
sowohl in ihren beispielhaften Stlrken
(und antizipiert hat sie vor allem etwas in
ihrem Kampf ums Überleben und um ein
Recht auf Existenz, aus elendesten Bedin-
gungen heraus: von den heutigen Kämp-
fen. vom Kämpfen auf der heutigen und
zukünftigen Höbe des Umwälzens), als
auch in ihren Schwächen (in denen sie von
den Schwächen der Metropolenlinken
soweit gar nicht entfernt war), wurde sic
häufig idealisierend und so distanziert
wahrgenommen. Der Versuch, die zum
jetzigen Bruch führende Entwicklung zu
verstehen, ist auch immer ein Versuch
gegen massiv verankerte Bilder. Schließ-
lich ein letzter Punkt: Es sicht so aus. daß
wesentliche Teil; gruppcninlcmcr Festle-
gung (Diskussion?) an uns votbeigelaufcn
sind in den letzten Jahren - warum, wissen
wir nicht -. und mir deshalb stellenweise
konkretes Wissen fehlt. Dies betrifft ganz
besonders die heftige Auseinandersetzung
um die Einstellung der gezielt tödlichen
Angriffe, die cs offenbar zwischen den
Illegalen und einigen Gefangenen 90/91
gegeben hat. Die Konfliktlimcn. die sich
d3 vermutlich schneiden, scheinen ein
Schlüssel zum Verständnis der Entwick-
lung. die folgen sollte.
1977 -Front
Ein erster Konflikt bricht auf. ah 1977 ein
palästinensisches Kommando ein Flug-
zeug mit deutschen Mallorca-Touristcn
nach Mogadischu entführt. Eine Solidari-
tätsaktion palästinensischer Genossinnen
und Genossen mit Gefangenen aus der
RAF. deren Freilassung im Tausch gegen
die Urlauber sic fordern. Die Entführung
wird von Gefangenen aus der RAF kriti-
siert. Eine Kritik, die sich zu diesem
Zeitpunkt auf weitgehend politisch-mora-
lischem Niveau bewegt. „Die politisch-
militärische Aktion der Stadtguerilla rich-
tet sich nie gegen das Volk.“ Eine Gewiß-
heit. konstitutiv für die RAF, die cs dir
ermöglicht, selbst diesen Schritt zu tun.
Ein unbefangenes Verhältnis zur Gewalt
hatten wir. die wir nicht zuletzt vom
Entsetzen über Auschwitz herkamen,
nicht. Auch einer der Gründe, weshalb
Andreas Baader in seinem obigen Impera-
tiv die revolutionäre Aktion als politisch-
militärisch bestimmt, das Politische mit
dem Militärischen eng verknüpfend und
doch in einer deutlichen Priorilätenfolge:
Primat hat das Politische. Hier w ird sich in
den 80er Jahren, ausgehend von der
Front-Ideologie, ein Bedeutungswandel
vollziehen - die militärische Aktion wird
zum Begriff des Revolutionären schlecht-
hin, daneben gibt es auch noch politische
Initiativen. Die Gründe für diese „Entpo-
litisierung" der militärischen Aktion lie-
gen letzten Endes darin, daß das Polilik-
bild, in dessen Rahmen wir uns in der
ersten Hälfte der 70er Jahre bewegen
(weltweiter Aufstand gegen das US-impc-
rialistische System), in der zweiten Hälfte
der 70er Jahre verschwimmt, ohne daß
neue GrunJIagcn sich in ausreichender
Deutlichkeit entwickeln. Die Vehemenz,
mit der die Gcfangcncngruppc zwischen
88 und 92 „die große politische Auseinan-
dersetzung* (Eva Haule) fordern wird, ist
S ei dieses schon fast als schmerzhaft
indenen Mangels an Klarheit - die
Einteilung der Welt in gut und böse, wie
wir sie 1993 dann erleben. Ausdruck des
Aufgebens dieser in der Tat schwierigen
Suche. - 1977 kritisierten wir die Entfüh-
rung der Urlaubermaschine weitgehend
moralisch. Ohne eine tatsächliche Verstel-
lung zu haben von den sich hinter unserem
Rücken vollziehenden tiefgreifenden Ver-
änderungen aufallen Ebenen, war da indes
doch eine Befangenheit aufgekommen
gegenüber dem bisherigen Politikbild.
Eine Stagnation war eingctreten. Die
Hoffnungen, die wir an den „Sieg des
Vietcong" als dem Anfang vom Ende des
US-impcrialistischen Systems geknüpft
hatten, waren zumindest diffus geworden.
Komproini3los solidarisch mit den RAF-
Gcfangcncn. wie diese Aktion war, konnte
der in dieser Urlaubcrcntführung zum
Ausdruck kommende Bruch mit der Me-
tropolengcscllschaft schlechthin -also mit
jenem Volk, das für Andreas Baader (und
alle anderen) bei der politischen Konzep-
tion des Militärischen nicht aus dem
Blickfeld geraten darf - den Versuch, die
bisherige Politik, wie auch immer, zu
ändern, von vornherein aussichtslos ma-
chen.
Tatsächlich könnten wir diese eine
Aktion als einen Punkt sehen, in dem sich
wesentliche Entwicklungen kreuzen. Sie
ist eingebettet in das Polililbild der 60er
und 70er Jahre. Der weltweite Aufstand
gegen US-I Imperialismus. Kolonialismus
und vermeintlich delcgnimerten Spätka-
pitalismus - in Lateinamerika etwa gab cs
in so EUt wie jedem Land mindcsicns eine
Guerilla - eine über viele Jahrzehnte
hinweg sich aufbauende Woge, war im-
merhin von solcher Wucht, daß dieser
Irrtum, das imperialistische System jetzt,
in gemeinsamer Froni..kippen zu können,
unbedingt begangen werden mußte. Die
Aktion kommt aber zu einem Zeitpunkt,
da diese historische Welle bereits am
Auslaufen ist. So stellt sich die Frage nach
deren politischen Folgen cochmal ganz
besonders. - Ein zweites Moment ist 77
der grundsätzliche Einbruch der von 68
herkommenden „Neuen Linken", ln ih
rem politischen Selbstverständnis noch
sehr stark auf den Staat und seine Institu-
tionen fixiert, erlebt sie einen Zusammen-
bruch ihrer Widerstandskraft in dem Au-
genblick. wo der Staat zum Angriff über-
geht und die Rückzugsmöglichkeil auf das
Terrain einer eigenen revoluiionär-subjck-
tiven Kultur nicht mehr 'orhanden ist.
Ende der 80er schließlich sollten andere
kommen. Nie wäre cs ihnen eingefallen,
einen „Marsch durch die Institutionen" zu
propagieren. Während die 68cr-Gcncra-
tion noch „maschincnstUrmcrisch" gegen
den vermeintlich seinem Ende zugehen-
den Spätkapitalismus und seine Kultur der
Eindimensionalität und Zerstörung an-
rennt in der Hoffnung, Entfremdung.
Kaputthcit und Destruktivität aus dieser
Welt hinaustreiben zu körnen, werden,
etwa mit dem Häuserkairpf in Berlin,
andere kommen, die im schnell wuchern-
den Dschungel sozialer und kultureller
Rcbarbarisicrung lernen, lernen müssen,
sich durchzukämpfen. - Dieser Mcnlali-
tätswardel wiederum spiegelt eine ent-
scheidende Veränderung im politisch-
ökonomischen Bereich. Die Epoche des
Keynesianismus geht zu Ende und damit
die Möglichkeit, sich auf den Staat als
einen politischen Aktivisten, nicht zuletzt
über das Ökonomische zu beziehen; die
Ara des Neolibcralismus. Reich des Cha-
os. beginnt und mit ihr jene Militanz, die
von ihrem selbstverständlichen Recht auf
Existenz diesseits weltmarktdikticrtcr
Rentabilitätsnormen fürs Leben ausgeht.
Auf sie wird sich das Front- Konzept der
80er Jahre beziehen, ohne sieh allerdings
von den politischen Denkgewohnheiten
der 70er Jahre cmanzipien zu haben. In
diesem Kampf der Militanten um Existenz
ist eine Verwandtschaft zu spüren. Wer
anders hat diesen Kampf gefühlt und
erlitten, wenn nicht die Gefangenen aus
der RAF in den Vemichturgsabteilungen
der Gefängnisse?! Und dennoch wird die
Frage der Verbreiterung und Vertiefung,
die sich nach dem Verlust «1er - tatsächli-
chen oder vermeintlichen - Bündnispart-
ner in Gestalt der Trikont-Bcfrciungsbe-
wegungen neu stellt, nicht im Hincinkom-
men in diese radikale Subjektivität und
ihre objektiven Hintergründe beantwortet,
die doch weit mehr authentisch Metropole
ist als 68 - nein, cs wird versucht, die
Militanten dort, bei ihren zweitrangigen
politischen Geschichten in der Gesell-
schaft abzuholen, um sie „zur Front“, zum
Eigentlichen, zum Militärischen zu brin-
gen. Darauf läuft cs de facto hinaus, auch
196
wenn das im Front-Papier weil weniger
eng angelegt ist. Wieviele sind seither bei
der militärischen Aktion angekommen?
Und wieviele wurden nur abgeholt, ohne
je anzukommen? Auf Teufel komm raus
werden politische Vorstellungen strapa-
ziert. die mit dem Wechsel im globalen
politisch-ökonomischen Dispositiv obso-
let geworden sind. Jene weltweite, in
Jahrzehnten der Kümpfe hcrangcwachse-
nc Aufstnndsheweging der 60er und 70er
wird als „weltweite Front gegen das
imperialistische Gesamtsystem", als
„westeuropäische Front" voluntaristisch
imitiert. Ist das zweite der Versuch, die
Frage der Verbreiterung und Vertiefung
konkret zu organisieren, was aber nie über
ein paar wenige Genossinnen und Genos-
sen in Frankreich (Action Dircctc), evtl.
Belgien (CCC) und Spanien (GRAPO)
hinauskommt, so ist das erste die abstrakte
Losung in Gestalt eines Traumpartners
Trikontmassen. In dieser Form wird der-
heute mehr denn je notwendige - Interna-
tionalismus zur maximal möglichen Ent-
fernung von den Notwendigkeiten und
Möglichkeiten im eigenen Land. Und in
dieser Verdinglichung und Widersprüch-
lichkeit zwischen Altem, von dem man
sich nicht trennen will und Neuem, dessen
immanente Möglichkeiten zu bewältigen
in der Tat eine ungeheure Schwierigkeit
ist. wird die Suche nach Möglichkeiten,
die 77 eingetretene politische Isolation tu
überwinden, konterkariert: Diese „Front"
hat mit breitem Bündnis, mit Offenheit
und der Suche nach neuen Verbindungen,
wie sie Ende der 80er Jahre Für kurze Zeit
trotzdem ausbrechen sollten und wie sic
heute angesichts faschistischer Gefahr
unbedingt notwendig wären, herzlich we-
nig «i tun. Im Gegenteil - die Antiimpis
kommen.
Das Front- Konzept beschränkte sich
ganz bewußt auf die militanten, radikalen
Teile der Linken, auf marginalisierte Be-
reiche der Gesellschaft. Was nicht unbe-
dingt ein Fehler hatte sein müssen. Selbst-
verständlich spielen und haben Minder-
heiten In allen Revolten und revolutionä-
ren Prozessen ein wichtige Rolle gespielt.
Aber die Frage war ja nicht. Gesellschaft
oder Minderheit, die Frage war, Gesell-
schaft oder Getto. Will sagen: Selbstver-
ständlich muß eine Minderheit nicht nur
um eigene Identität und Konstituierung
kämpfen, sie muß auch darum kämpfen,
über den eigenen Bereich Wirkung in
andere Sektoren, inncrgcscllschaftlich wie
international, zu entfalten und von dort
Herausforderungen annchmcn. Sonst
schmort sie doch im eigenen Saft! Die
Gettos wurden schon immer aufgcricbcn,
sie sind der Ort des Untergangs. Als
Minderheiten) über den eigenen Bereich
hinaus Fuß fassen, Orientierung sein,
Hoffnungen wecken, ist schlicht und
einfach eine Frage des Überlebens.
Das Ziel des Front-Papiers ist „zusam-
men kämpfen“. Das klingt gut. Die Vor-
stellungen indes waren schon nach poli-
tisch und militärisch auseinandergcfallcn
und so mündete diese wichtige Initiative
zur Überwindung des nur bewaffneten
Kampfs in einer noch verbohrteren Ge-
ringschätzung des politischen, sprich: un-
bewaffneten Handelrs.
Auf die Front-Zeit zurückblickend
schrieb ein Gefangener 1989:
„Ausgegangen waren Lutz und ich davon,
daß es in den Aufbrüchen seit den 80em
einen zentralen Unterschied gibt zu denen
der Mitte der 60er, wo ein regelrecht
. kulturrevolutionärer ' Motor drin war.
diese Bewegung hatte eine sehr starke
gesellschaflsve rändernde politisch-kultu-
relle Dynamik. Lutz meinte, das fehlt in
den ganzen Jahren total und macht we-
sentlich die Schwäche aus ...
Man muß es so sehen - worum cs in den
ganzen Jahren bis 86 ging, war der
Versuch und die Anstrengung, die ganze
Situation überhaupt mal dahin zu wenden,
daß neue Entwicklungen in Gang gesetzt
werden können.
.Eine grundsätzlich neue Situation schaf-
fen'. haben wir gesagt, indem die Anstren-
gung gemacht wird, hier 'ne Kraft zu
entwickeln, die die Walze anhält, eine
Umkehrung der reaktionären Entwicklung
in Gang bringt - durch das Fcstsctzcn
realer Momente von Gegenmacht, Gegen-
gcwall für den revolutionären Prozeß ...
das ist richtig, 'ne Kritik auch an uns. finde
ich. was in der ganzen Phase gefehlt hat:
Die Genossen von AD haben als zentrale
Sache immer die Dialektik von Autbau
und Zerstörung gesagt - Aulbau heißt für
uns als erstes die Beziehungen als Lebens-
und Kampfstrukturen und sie als .Keim'
der neu zu schaffenden gesellschaftlichen
politischen und kulturellen Realität. Eine
subjektive politische Kraft, die in der Lage
ist, die reaktionäre Entwicklung hier um-
zudrehen. Und klar, das ist nur möglich,
wenn dieser Emanzipationsprozeß, auf
den wir aus sind. Wirklichkeit ist.
In dem Sinn wurde da nichts .aufgebaut'.
Und jetzt ist total klar, cs wird entweder
eine Bewegung aus beidem oder cs wird
hier gar nichts. Das ist zwar grundsätzlich
schon immer klar gewesen, aber jetzt ist es
raus. Und es waren Erfahrungen, die
durchgemacht werden mußten von allen.“
Das Front-Konzept konnte nur laufen
lernen, wenn die einzelnen (Individuen.
Gnippen. Sektoren) möglichst eigcninilia-
tiv sich entwickelten. Quer dazu lag die
verdinglichte, funktiaialistische Vorstel-
lung von „zusammen kämpfen", wie sie
aus dem From-Papicr sprach. Denn ein
Zusammenflüßen relativ autonomer
Initiativen in dieser oder jener Kampagne
oder Offensive konnte sich nicht allein
über einen gemeinsamen Feind oder gar
über die gemeinsame Bekämpfung seiner
„Projekte" und Aktionen entwickeln. Ei-
ner der ideologischen Parameter der
Frontzeit hieß: Strategie gegen ihre Strate-
gie. Es brauchte eine gemeinsame politi-
sche Kultur, eine spürbare andere Welt, um
das herrschende Realitälsmonopo! in sei-
ner alles und jedes erfassenden Bedroh-
lichkeit aufzubrechen und so nicht zuletzt
subjektive Spielräume und Entwicklungs-
möglichkeiten zu schaffen, um mit ande-
ren zusammen zu kommen. Zwar ist
Solidarität eine subjektive Kategorie, aber
auch eine objektive. Die Zeiten der homo-
genen Arbeiterklasse ind ihrer Kullursind
vorbei und so werden wir an die Stelle des
zusammenführenden Effekts des Indu-
strialismus eine Kultur setzen müssen, die
das „zusammen kämpfen" trotz ökono-
misch und anderweitig bewirkter Zersplit-
terung unmittelbarer Intcrcssenlagcn
möglich macht. Das mit der Spaltung
gegebene Signal von Abschottung und
„neuer Klarheit" scheint in die entgegen-
gesetzte Richtung zu gehen. Wenn es heute
viele gibt, die sich in die je eigene kleine
Gruppe zurückzichcn. dann nicht zuletzt,
weil außerhalb dieser Gruppe der Kältetod
droht.
Das ideale Ziel der illegalen Aktion
(vermeintlich) vor Augen, war für manche
der erste Schritt dahin konspirativ-defen-
sives statt politisch-offenes und so offen-
sives Verhallen. Ein Beispiel nur. Die
Politik des Staatsschutzbunkers unter der
Rcbmannschcn Richtlinie „soldatische
Härte“ bestand Mitte der 80er u.a. darin.
Leute, die öffentlich gegen Isolationsfol-
ter und für Zusammenlegung cintraten, die
das „Kommunikationsverbot mit den
RAF-Gefangenen“ (Rebmann) durch
Briefcschrcibcn in Frage stellten, zu be-
drohen oder gar wegen Unterstützung
einer terroristischen Vereinigung für Jahre
in den Knast zu schicken. Zwar gab es
darauf eine politische Reaktion - im
Rahmen einer bundesweit anlaufcndcn
Gruß- und Infopaketaktion erlebten die
Gefangenen Solidarität aus den verschie-
densten linken und alternativen Bereichen
aber nicht seilen wurde diese Möglich-
keit politischen Zusammenkommens und
Ausweitens von Aktiven durch sektiere-
risch-konspirative Tuerei konterkariert.
Eine Genossin aus dem Bereich der
ehemaligen Hamburger Jobberinnen-
Initiativen schrieb mir vor kurzem:
„Ach. absurde Geschichten sind da gelau-
fen: eine Zeitlang hatten wir den Laden
filr, ich glaub das .Info-Paketetreffen', zur
Verfügung gestellt und dabei mitgekriegt,
daß Leute, die in den Laden geguckt haben
oder gar reingekommtn sind, sehr un-
freundlich behandelt wurden. Wir mußten
dann erstmal ne Runde erzählen, daß wir
ne offene Arbeit machen, daß wir wollen,
daß sich Leute für uns interessieren und in
den Laden gucken, und daß es sich dabei
Ld.R. keineswegs um Bullen handelt ...
Realsatire. "
Ich denke, wo der Begriff „revolutio-
när" oder auch nur „politisch" nicht nur
abstrakt bleibende Bekundung radikaler
Moral sein sollte. gibt escinige elementare
Kriterien, an denen ein solcher Anspruch
überprüft werden muß. Zum Beispiel die
Frage der politischen Ausweitung. Aus der
Geschichte unseres Gesamtzusammen-
hangs habe ich aber den Eindruck, daß
Handlungsmöglichkcilcn uns oft nicht
deshalb fehlen, weil der Staat sie uns aus
den Händen schlägt, sondern weil wir die
Hände nie danach ausgestreckt haben.
Front-Hungerstreik 1984/85
Den letzten Ausschlag für das politische
Aufläufen des Projekts „zusammen
kämpfen" gab die Situation resp. die
Politik der Gefangenen nach dem HS
84/85. Wenn heute in aaklagcnder Weise
davon die Rede ist. de; Kampf draußen
solle sich doch unabhängig von der Lage
der Gefangenen entwickeln, ist das eine
richtige, aber späte Einsicht. Die Praxis
aus 20 Jahren sicht nun wirklich anders
aus!
So auch 84/85.
Vor dem Hungerstreik hatte es. im
besten Sinn des Frontpapiers, zwischen
drinnen und draußen eine Diskussion mit
197
dem Ziel gegeben, das alle Verhältnis
unselbständiger - und so materiell ineffi-
zienter - Solidarität mit den Gefangenen
aufzulösen zugunsten cigcninitiativen
Handelns und Denkens. Und so erreichte
die Front in dieser Zeit ihren Höhepunkt
und zugleich ihre Grenzen. Während die
Gefangenen drinnen kämpften, gab es
draußen eine Vielfalt von Initiativen und
Aktionen. Noch nie hatte es aus und in
unserem Zusammenhang eine solche kon-
zertierte Dichte befreiend wirkender,
phantasievoller. radikaler Initiativen gege-
ben. Leute. Gruppen, die - wie an ihren
Erklärungen und Texten abzulcsen - aus
den verschiedensten. Bereichen kamen,
insbesondere aus den militanten Bewe-
gungen, hatten eigeninitiativ dazu beige-
tragen. daß zum ersten Mal eine Vorstel-
lung mit Händen zu greifen war. wie diese
Front sich in der Praxis entwickeln könnte.
Indes wurde diese HS-Kampagne von
Gefangenen am Ende als Niederlage defi-
niert. nachdem es nicht gelungen war, die
ZusamrflÄnlegung durchzusetzen. Wäre
diese Kampagne nicht gebunden gewesen
an die existentiell bedrohliche Situation
von Gefangenen, sie wäre anders einge-
stuft worden. Aufgenommen worden wäre
sie als eine Entwicklung, die zwar ihr
unmittelbares Ziel nicht erreicht hatte, die
jedoch als richtungsweisend unbedingt
hätte festgehalten werden müssen. Aber
aus der pessimistischen Sicht von Nieder-
lage und Einkreisung ist cs schwer mög-
lich, in Fortsetzung der Zusammenarbeit
drinnen/draußen ein Bewußtsein Uber ei-
gene Möglichkeiten der Stärke, über diese
Perspektive „zusammen kämpfen" zu ver-
dichten; ein kollektives und konsolidiertes
Selbstbewußtsein zu verschaffen über po-
litische Kraft, wie sie sich entfalten kann,
wo - wie gerade gehabt - vor dem
Hintergrund eines mehr oder weniger
gemeinsamen . politisch-kulturellen
Sclbstverständnisses zahlreiche autonome
Vorstöße auf ein gemeinsames Ziel hin
unternommen werden, ohne daß dies aus
dem Innern einerstrammen Organisierung
oder autoritär fabrizierten Einheit kommt.
Mein Vorschlag 1985. nach Streikende,
war, einen solchen Selbstbcwußtwer-
dungsprozeß zu unterstützen, nicht zuletzt
auch, um vom Bcwußtscinshorizont der
vermutlich eher vereinzelten Aktion, zu
einem Bewußtsein gemeinsamer Effizienz
und Kultur zu kommen. Wie anders
konnte Aktionismus überwunden wer-
den?! Länger dem je bestanden draußen
nach diesem Streik die Gruppen, intensiv
wurde Uber Organisierung und Kampf-
möglichkeiten diskutiert - wenn aber von
einer Gefangenen in einer doch dramati-
schen Erklärung den Leuten draußen
gesagt wurde, wir sollten alle umgebracht
werden, sprich: schnelles Handeln ist
unbedingt notwendig, hat das sicher nicht
dazu beigetragen, vom aktionistischen
Denken wegzukommen.
Ich hatte damals in meinem „Pimental-
Brief' vom 27.10.85 geschrieben:
daß man Entfremdung nlchl bekämp-
fen kann, man kann ihr nur das eigene,
n icht-enlfremdele Projekt entgegenstellen
und gegen den Imperialismus durchset-
zen. Das wären die politics. die. wie Mao
sagt, das Kommando übernehmen müs-
sen. Die Offensive von Macht. Gesell-
schaftlichkeit und Moral von unten. Das
militaristische und politisch defensive Be-
wußtsein der letzten Monate und Jahre,
das jetzt beginnt, sich in Aktionen umzu-
setzen. lies 1 <t uer dazu ...
Natürlich ist die Situation in den Metropo-
len eine ziemlich andere, geht es nicht
darum, daß wir das Proletariat organisie-
ren oder so etwas. Aber es geht darum,
einen Weg in die Gesellschaft tu öffnen -
und die Aktion (gemeint ist die Erschie-
ßung des US-Soldaten Pimental) ist ein
dicker Brocken auf diesem Weg. Und es
geht darum, uns selbst ernst zu nehmen.
Wir haben im Winter (gemeint ist der HS)
eine erste Erfahrungsgrundlage und soli-
de Ahnung von dem erkämpft: Macht.
Struktur und Moral von unten. Darin
steckt Oritntierungs- und Beispielkraft,
selbst bis in die reformistische Linke
hinein. Wo ist das Bewußtsein von dieser
Erfahrung, ihr .Geist '? ... Im Winter zeigte
sich der Ansatz zu einer räteähnlichen
Struktur, wie ich 's mal genannt habe -
Zusammenkommen aus den verschieden-
sten Bereichen und Bewußtseinen. Es war
die praktische Umsetzung zu der grund-
sätzlichen und wichtigen Idee \<om Mai 82.
Vbn da aus müssen wir den nächsten
Schritt tun Weltweit - das führt weltweit
davon weg. Im Winter zeigte sich die
Möglichkeit dorthin: \vir können das
Subjekt sein. "
Nein, riteähnliche Struktur war wohl
eine agitatorische Übertreibung. Aber was
84 und 85 in Bewegung gekommen war,
zu bestätigen, statt es wieder davontreiben
zu lassen, wäre schon Sache gewesen.
Nach dem Hungerstreik gab cs eine
kontroverse mit dem PCE/R. Die spani-
schen Gerossinnen und Genossen hatten
unseren Streik solidarisch begleitet und
analysiert, und so kamen sic - genaue
Beobachter der Mobilisierung, wenn auch
durch eine marxistisch-leninistische Brille
- zu der Forderung an uns. wir sollten eine
Arbeiteqiartei gründen. So ungenau dieser
Vorschlag, steckte doch ein richtiger Kem
darin: Hier, nach dieser Mobilisierung,
mußte etwas transformiert werden aus
dem Bereich des eher spontan-zufälligen
in den Bereich des kontinuierlichen, struk-
turierten. verknüpften und so identifizicr-
baren, Neben Heidi Schulz, cie sich mit
Vorschlag und Kritik des PCE/R auseinan-
dersetzte. haue ich mich dazu mit dem
wechselnden Verhältnis von Partei und
Klasse bei Marx und Lenin befaßt und
machte daraus den Vorschlag, hier, in
einigen Städten zu Gruppen, Zentren zu
kommen, die nach einer Phase eines
wechselseitigen Lernprozesses zumindest
einen Teil jener Orientierung und Verant-
wortung übernehmen, die ansonsten ein-
seitig bei RAF und Gefangenen lag und zu
einer grundsätzlichen Schicfhge führte.
Um jenen „Aneignungsprozeß" ging’s
mir also, von dem Eva Haule schrieb (taz
14.4.89). notwendig, „um selbständig
revolutionäre Politik entwickeln zu kön-
nen.“ Der Vorschlag wurde nicht zur
Kenntnis genommen.
Wenn dieser Konstituieningsprozeß
nicht gelajfen ist. hat das - von den
Gefangenen aus - vor allem zwei Gründe:
ideologische. Zur Gegenmacht kommen
hieß „zur Front kommen" und dies wie-
derum zur bewaffneten Aktioa kommen.
Da war nichts von einem „Keim" neuer
Gesellschaftlichkeit, in der das Rcalitäts-
monopal des Kapitalismus sinnlich gewiß
durchbrochen ist im kollckiiven Selbstbe-
wußtst^ der gerade erzeugten Bewegung.
Hin Bewußtsein jedoch, das sich an den
Gegner veräußert, das die Bedeutung des
eigenen Tuns ausschließlich an der Reak-
tion der Gegenseite glaubt ablcsen zu
müssen, ist nicht frei. Und somit auch
nicht in der Lage, über das Vorgefundene
hinauszugreifen. Überdas Bestehende hin-
auszubaucn, mit einem Wort: revolutionär
zu sein. „Strategie gegen ihre Strategie"-'
das konnte nie und nimmer strategietählg
werden. Zweitens: Die Gefangenen und
ihr existentielles Interesse treiben den.
Prozeß zwar immer wieder voran, lenken
ihn darin aber gleichzeitig von einer
eigenständigen Entwicklung ab. Sie zie-
hen sich damit den Boden unter den Füßen
weg. So wurde die Mobilisierung des HS
84/85 unterschätzt, weil sie die ZL nicht
ebracht hat; die Mobilisierung zum
treik 89 hingegen, obschon auf deutlich
humaritär-bürgerrechtlichen Grundlage,
aber in die Gesellschaft hineinreichend
und so zum ersten mal Risse im Staats-
schutzblock der Macht bewirkend, wird
überschätzt. Die Rede ist von einer „neu
entstehenden revolutionären Bewegung"
(Eva Haule und andere).
Es kam eine andere Diskussion. Nicht
die cmanzipative. sondern die autoritäre.
Die RAF hatte 1985 einen Gl der US-Ar-
mee erschossen, um an seinen Ausweis zu
kommen. Es kam zu einem heftigen Streit
darüber. Einige von uns hatten zu Zeiten
des Vietnamkriegs hier stationierten Gis
bei der Desertion nach Schweden gehol-
fen. Die Ursache für die Schärfe dieser
Auseinandersetzung lag aber auch in den
bis dahin offen nicht ingesprochenen
Problemen, die einige Gefangene mit
jenen harten Aktionen der RAF während
des Hungerstreiks 84/85 hatten. Wäre
etwa - gleich in den ersten Hungerstreik-
tagen -die Autobombe auf dem ÜS-Stütz-
punkt in Oberammergau hochgegangen
und hätte es dabei womöglich eine Reihe
von Toten gegeben, die Gefangenen hätten
ihren Streik gleich in der ersten Woche
wieder abbrechen können. Von denen, die
die Erschießung des Soldaten verteidigten
(und damit eine bestimmte Vorstellung,
wie revolutionäre Politik sich weitcrent-
wickcln sollte), um sic hernach, nachdem
die Autorität RAF sieb kritisch damit
auscirandcrgcsctzt hatt^ ebenfalls >.u kri-
tisieren, wurde diese Dcraiic in einer Art
und Weise geführt, die vermutlich jenes
zusammen-kämpfen, wie es Monate zuvor
zum ersten mal sichtba' geworden ist,
strategisch beschädigte. Man/frau schlug
sich gegenseitig Wunden, die späteres
Zusammenarbeiten völlig blockierten.
Vjr allem verlangten die Verteidiger der
Pimcnlal-Aktion ein Verständnis von Ein-
heit, das jeden kritischen und damit
lembereitcn Blick aufs eigene Tun und
Denken moralisch verdächtigte und auf
diese Weise jenem Geist des Zusammcn-
Kiimpfens - von einer gemeinsamen revo-
lutiorär-miliiant-kulturcllen Grundlage
ausgehend, ansonsten aber autonom den-
kend und handelnd - entgegengesetzt war.
Dort war cs ein Zusammenwirken, das
sich aus den verschiedensten Quellen
speiste, und insofern eine Vorahnung
dessen, was heute für revolutionär-cman-
zipative Prozesse überhaupt zur Heraus-
Forderung wird - hier einVersuch, diese
Entwicklung ins Korsett verdinglichter
Front-Verstellungen zu zwingen.
„Aber es gab keine politische Diskussion,
keine Auseinandersetzung um die wesent-
lichen Fragen, und so konnten die bereits
im Ansatz präformerten Grenzen und
Fehler auch nicht erkannt und überwun-
den werden. Statt dessen fiihrte das zu
immer stärkerer Verdinglichung des poli-
tischen Bewußtseins: Revolutionäre Poli-
tik war nur noch als bewaffneter Angriff
denkbar, die militärische Aktion .wurde
zum nicht mehr hinlerfragbaren Fetisch,
Illegalität wurde zu einem Mythos, zur
Verkörperung des, Bruchs', zur Vorausset-
zung von Kollektivität schldchMn nr .(Mir-
chacl Dictikcr, Ali Jansen, Bernhard Ro-
senköttcr: Über das Schleifen von Messer-
rücken. konkret 1 1/92)
Ähnlich wie die RAF in ihren ersten
Jahren gegenüber der 68er-Revolte bzw.
ihren Ausläufern standen wir Mitte der
80er spätestens vor der Situation, ein
Verhältnis zu einer Revolte, zu einer
Bewegung massenhafter Militanz zu ge-
winnen. Eine Wiederholung jener Avant-
garde, wie sie seil 77 als zumindest
ungeklärte Frogc im Raum stand, hätte
dies nicht sein dürfen. Die Mobilisierung
des Jahres 84/85 wäre der Ort gewesen,
um das. was RAF und Gefangene tatsäch-
lich antizipiert hatten, nämlich eine be-
stimmte Art zu kämpfen. Guerillamentali-
tät, mit den Erfahrungen und Vorstellun-
gen anderer, etwa Autonomen, zu etwas
Gemeinsamem oder Wechselseitigem
weilerzuentwickeln. Denn ohne das blei-
ben die selbstverständlich notwendigen
Klassen- und sonstigen Analysen, Strate-
giedebatten, Internationalismus Totgebur-
ten, „unbewaffnete Propheten" (Gram-
sei), ideologische Glasperlenspiele.
Avantgarde im Kortext RAF sollte aber
zur ewig tragischen Schönheit werden. Ja,
wir waren wirklich Avantgarde. Gab es
dieses Vorangchen im orientierenden, bei-
spielgebenden. polnische Bewegung er-
zeugenden Sinn, nicht zuletzt im Kampf
der Gefangenen, so wurde irgendwann der
Versuch aufgegebei», darin mit anderen
zusammenzukommen, um an diese Stelle
anderes zu schieben: Kampf gegen die
Nato, westeuropäische Front, Gesamtsy-
stem, ctc.. in dem d*s. was RAF ist, nicht
mehr wicdcrzucrkcnncn war. aus sich
heraus bei anderen nichts mehr auslöstc,
und ihnen deshalb oft mit autoritären
Methoden aufs Auge gedrückt werden
mußte. Darin kommen die, die diesen Weg
seil langen Jahren, immun gegen jedes
Argument oder Bespiel, unbeirrbar ge-
hen. dann am Ende doch mit Linken
draußen zusammen. Mit jenen und jenen
Momenten, gegen die RAF 1970 einen
anderen Versuch unicmommcn hatte. Der
Klärungsprozeß, nach dem 1989 gerade
von diesen Gefangenen laut gerufen wur-
de. hätte spätestens zu jenem Zeitpunkt
geführt werden müssen. 89 war das. was
zwischen 84 und 86 damit noch haue
bewirkt werden können, nicht mehr zu
erreichen. So fruchtbar eine solche Debat-
te damals hätte sein können, so unwirklich
und unwirksam der Versuch eines antiim-
C 'alistischen Kongresses 1986 in Frank-
, in dessen Verlauf eine grundsätzlich
richtige, nicht zuletzt internationalistische
198
Absicht, auf den dogmatischen Hund
gebracht wurde.
Wenn die Mobilisierung zum HS 89
vorwiegend bUrgexrechUicn-humaniltlren
Charakter haben sollte; wie Christian Klar
das in der taz vom 13.6.89 kritisch
anspricht, dann erstens als Abgren-
zung/Distanz zu einer politischen Gewalt,
die selbst in Teilen der radikalen Linken
auf heftigen Widerspruch gestoßen war
und zweitens, weil die Chance eines
cmanzipatorisch-auftaucndcn Prozesses,
in unseren Zusammenhängen schon im-
mer unterbelichtet, spätestens in der zwei-
ten Hälfte der 80er Jahre ungenutzt geblie-
ben war und so das politische Gewicht
fehlte, das der HS-Mobilisicrung 89 einen
deutlicheren Charakter hätte geben kön-
nen.
Zwei Bcfricdungsjnilialivcn. Die erste
läuft - sicher nicht zufällig - nach dieser
mißglückten Möglichkeit. 87/88. ist mit
dem Namen der grünen Politikerin Antje
\fallmer verbunden, Amnestie und Dialog
werden propagiert. Die zweite. Kinkel-
Initiative. kommt 1992 in einer vergleich-
baren Situation.
Hungerstreik 1989-
Die Diskussion
Wenn der Hungerstreik 89 anders war.
Ausgangspunkt für die Entwicklung der
Jahre danach, hatte das mehrere Gründe.
Da ist viel hineininterpretiert worden.
Etwa das Kalkül der Gcfangcncngruppc,
sich einem liberalen Spektrum anzudie-
nen. Hat es nicht gegeben! Es war aber
erstens klar, daß ein Hungerstreik, in
dessen Verlauf es „gezielt tödliche Aktio-
nen" gegeben hätte, zur Zusammenlegung
nicht geführt hätte. Und zweitens, daß
nach allem, wie die Verhältnisse in der
antiimperialistischen Scene waren, die
von dort zu erwartende Mobilisierung
nicht hinreichen würde, die Zusammenle-
gung durchzusetzen. So halten wir etwa
die Enttäuschung erlebt, daß die. die sich
auf uns bezogen, im Lauf der Berliner
Anti-WWG-Kampagnc 1988, wichtiges
Ereignis internationaler Solidarität mit
den Völkern des Tnkonts, kaum präsent
waren. Obschon es zu dieser Kampagne
eine breite, militante und phantasicvollc
Mobilisierung bis rein in die Berliner
Bevölkerung gegeben hatte, die tagelang
Straßen, Platze und Medien beherrschte,
war von jenen, die doch jahrelang von
weltweiter resp. europäischer Front gegen
den Imperialismus gesprochen hatten,
nichts zu spüren.
Neben solchen und anderen enttäu-
schenden Erfahrungen zeigten sich da-
mals aber auch neue positive Ansätze. In
drei am 8.8.88 in der taz veröffentlichten
Erklärungen machte die Gruppe der Ge-
fangenen aus der RAF deutlich, die
Auseinandersetzung ‘ mit gesellschaftli-
chen Gruppen tu wollen, vorausgesetzt,
sich dabei, von den äußeren Bedingungen
her, als Gruppe verhalten zu können. Im
Oktober 88 brachte ein Aufruf für Zusam-
menlegung. veröffentlicht vom Hambur-
ger Initjativkreis für den Erhalt der Hafen-
Straße, solidarische Unterstützung bis rein
in Betriebe und Gewerkschaften, wobei
mehr als einmal die Mut- und lnitialivlo-
sigkeit der hauptamtlichen Gewerk-
schaftsfunktionäre angegriffen wurde.
Möglicherweise Reaktionen jenes auch in
gewerkschaftlichen Kreisen in der zweiten
Hälfte der 80er Jahre ebenfalls durch-
schlagenden Bewußtseins, gegen das
„Wolfsgesetz der neoliberalen und neo-
konservativen Gesellsrhaftsoptionen" ei-
nen „offenen Dialog und neue Bündnisse
mit anderen gesellschaftlichen Bewegun-
gen und Gruppen" (ein IG-Mctaller) zu
suchen, ein Bewußtsein, dem die IG
Metall mit ihrem „Zukunftskongreß" No-
vember 88 Rechnung iragen mußte. Nein,
„zur Front" wären diese nicht nur ökono-
misch. sondern auch politisch beunruhig-
ten Gewerkschafterinnen und Gewerk-
schafter nicht gekommen ! Die umfassend-
ste Veranstaltungsreihe, initiiert und
durchgefuhrt vor allem von der Angehört-
gengruppe. aber auch bereits zuvor vom
holländischen Rechtsanwalt Pieter Bak-
ker-Schut gelegentlich des Erscheinens
seines „Stammhcim"-Buchs. zeigte ein
starkes Interesse an den Gefangenen und
einer grundlegenden Änderung ihrer Si-
tuation. Auch in kleineren Orten, deren
Lage wir erst auf dem Atlas suchen
mußten, war ein zu deutliches Interesse
vorhanden, als daß wir nicht politisch
drüber hätten nachdcnkcn müssen. Dies
sind kurz gesagt die Gründe, weshalb die
von Helmut Pohl 1989 veröffentlichte
HS-Erklärung offener angelegt war als
andere.
Der Hungerstreik war dann auch in
mehrerer Hinsicht ein Einschnitt. Eine
breite Solidarisicrung, von den radikalen
Linken Uber sich bis dahin abgrenzende
linke Gruppen bis hin zu gewerkschaftli-
chen und kirchlichen Kreisen bewirkte
zum ersten Mal eia Aufbrechen des
Staatsschulzblocks, ohne indes an der
harten Haltung der Entscheidungsträger
etwas ändern zu körnen. Als Resümee
schreibt Christian Klar am 13.6.89 in der
taz:
„Das bis dahin Erkämpfte ist nicht gar so
wenig. Halten wir das fest. Weil darin
überhaupt Momente der neuen Aufbrüche
liegen. Es startete eine tiefe Wirkung der
Mobilisierung in die Gesellschaft rein. Die
Gleichsduiltung der vergangenen Jahre
ist auj gebrochen. Wirkliche Beziehungen
zu ausländischen gefangenen Genossinn-
en und zu kämpfenden sozialen Gefange-
nen wachsen ... gegen die selektierende
und vernichtende Knastmaschine, Bezie-
hungen. in denen jeder in ersten Schritten
von sich ausgeht hin zu gemeinsamer
Perspektive befreiender Ziele. Und
schließlich ist eine Mobilisierung ange-
schoben, die erstmals, und das ist mehr als
bloße Vermutung, jetvauch ohne sofortige
neue Hungerstreiks die Schritte zum Ziel
hin weitertreibt. "
„Neue Aufbrüche*? „Ohne weitere
Hungerstreiks zum Ziel hin"? Etwas war
geschehen!
Zum ersten Mal halte der fast 20 Jahre
bestehende monolithische Block der poli-
tischen Klasse, des Staatsschutzbunkers
und der Medien Widersprüche gezeigt:
„Die Gleichschaltung der vergangenen
Jahre ist aufgebrochen." Zum Ende des
Streiks hatte cs eine Reihe von Gesprä-
chen gegeben: Brigitte Mohnhaupt und
Helmut Pohl mit Kinkel; Helmut Pohl mit
Knise (dem damaligen Vorsitzenden der
evangelischen Bischofskonferenz), mit
Enzensberger, ein bei Däubler-Groelin
angefragtes Gespräch wurde von dieser
abgelehnt; die Frauen in Nordrhcin* West-
falen sprachen mit einem Juslizstaa'sse-
kretär. die Frauen in Lübeck mit Klingner
und Engholm; wir in Celle mit einem
Abteilungsleiter aus dem (damals noch)
CDU-Justizministerium.
ln Gang gesetzt worden waren diese
Widersprüche von einer bis dahin nicht
gekannten Solidarisierung, an der sich
linke, alternative, gewerkschaftliche,
christliche, humanitäre Tendeftzen betei-
ligten. die sich bis dahin bei den Hunger-
streiks meist außen vor gehalten hatten.
Ein Verhältnis, das sich bis dahin oft in •
Distanzierung, wo nicht Denunziation
erschöpft hatte, war im Lauf des Hunger-
streiks - nicht zuletzt aus den bereits
genannten Gründen - umgeschlagen in die
Suche nach Diskussion und Dialog. Und
dies nicht nur immer in der Absicht, den
bewaffneten Kampf Knall auf Fall abzu-
würgen:
. . Wfir wollen diese Diskussion nicht nur um
ihrer selbst wiilen, sondern weil die
Erfahrungen der Leute, die in den bewaff-
net kämpfenden Gruppen waren, für den
jetzt angestoßenen Prozeß fiir uns genauso
ein Stück Geschichte und Erfahrungen der
westdeutschen Unken bedeuten wie die
Erfahrungen der Linken, die in den Ge-
werkschaften aktiv sind, die in die Grünen
gegangen sind, um dort radikale Politik zu
machen, die kommunistische Organisatio-
nen gegründet haben, manchmal sogar
darin geblieben sind ■ oder die in den
sozialen Bewegungen arbeiten, " (Radika-
le Linke, „Brief an die politischen Gefan-
genen“. Juli 1989) '
Hier dürfte seinen Ursprung haben,
wovon Helmut Pohl am 27.8.93 in der taz
schreibt: von einer Neuzusammensetzung
der Umwälzungspolitik, die heute über
das linksradikale Spektrum hinausrechen
könnte. Ja. in der Giuppe taucht die
Einschätzung auf. cs gäbe eine ..neu
entstehende revolutionäre Bewegung".
Wo aber 1993, aisgedrückt etwa in Hel-
mut Pohls Erklärung, das Gewicht auf
unserer seit 20 Jahren richtigen Politik
liegt, der gegenüber, angesichts der kapi-
talistischen Durchbrüche. Teile der Ge-
sellschaft, in Erkenntnis der eigenen Lage,
ihre Isolation aifgeben könnten oder
sollten, sprechen die Texte der Jahre 1989
bis 1992 - unter dem Eindruck von
Hoffnung - eine andere Sprache: Offen-
heit. kritischer Blick auf das Eigene, nicht
zuletzt als Möglichkeit, Zugang zu ande-
ren Tendenzen zu bekommen.
„Das stimmt wirklich in einem umfassen-
den Sinn, daß die ganze Phase der Kämpfe
seil ‘80 vor zwei bis drei Jahren abge-
schlossen war und etwas Neues angefan-
gen hat... Jetzt wird- und muß auch - alles
auf einer neuen Grundlage weitergehen,
und es wäre total viel verschenkt, nenn
diese wichtigsten Erfahrungen, die in den
letzten 20 Jahren m revolutionären Kampf
hier gemacht wurden, nicht offen in die
Diskussion gebracht würden. Na, einfach:
Es ist viel zu lernen, und eine sich neu
entwickelnde revolutionäre Bewegung
braucht ein Bewußtsein davon, sonst
hängt sie geschichlslos, bodenlos in der
Luft. Außerdem hab' ich wieder gesehen
199
wie sehr wahr das ist: aus den Fehlem
lernen, sich weiterbringen - so läuft 's.
Unsere Geschichte. Also so will ich das
jetzt auch: unsere Erfahrungen offen in die
Auseinandersetzungen bringen und offen
sein fiir alle ernsten Fragen - egal, wie
kritisch sie sind. Das ist auch ganz klar ein
Stück fiir den Aneignungsprozeß, um
selbständig revolutionäre Politik ent-
wickeln zu können.“ (Eva Haule, taz,
14.4.89)
1989 gibtes aus der Gefangenengruppe
eine ganze Reihe engagierter Appelle Air
eine Diskussion zwischen drinnen und
draußen, ja sogar „ausgehend von den -
noch so schmalen - Möglichkeiten der
kleinen Gruppe, und dazu Initiative auch
der einzelnen.“ (Christian Klar. taz.
13.6.89) Nein, eine neue revolutionäre
Bewegung war da gewiß nicht im entste-
hen, aber wie nach dem HS 84/85 gab cs
angesichts der Solidaritälssignale aus den
verschiedensten Bereichen der Gesell-
schaft Gründe genug, politisch darüber
nachzudenken und praktisch sich etwas
einfallen zu lassen. Wenn Gefangene aus
RAF und Widerstand in dieser nachdrück-
lichen Weise von ofTener und öffentlicher
Diskussion reden, ist das erstens ein
Politikum und zweitens werden Erwartun-
gen geweckt. Bevor aber aus dem Knast
auch nur eh nennenswerter Diskussions-
anstoß kommt, lesen wir bereits wenige
Monate später in einer Erklärung von
Helmut Pohl:
„Ich habe mich mit ein paar Gefangenen
verständigt, und wir glauben, die meisten
denken so. daß es längst Zeit ist, unter der
Geschichte nach dem Hungerstreik einen
Schlußstrich zu ziehen. ... Heute hat sich
nach unserem Eindruck draußen alles zum
Ihema , ü'ukussion ' hin verschoben, und
die Zusammenlegung rutscht in den Hin-
tergrund. Für uns aber steht die Zusam-
menlegung im Zentrum." (10.11.1989.
Angehörigeninfo 27)
Um wenige Wochen vor der Kinkel-
Initiative zu lesen:
„Das ist ganz einfach das konkrete Pro-
blem momentan, nicht nur für uns, wie
man eine Diskussion in Gang bringt, oder
vielleicht btsser: eine politische Struktu-
rierung an einer inhaltlichen Klärung der
Auseinandersetzungen, die auf uns zuge-
flogen kommen, die man gar nicht raust üf
teln muß . " (Helmut Pohl, Brief. Oktober
9 1 . in: ak drinnen & draußen, Celle. Texte
von Gefangenen aus RAF und Widerstand
aus den Jahren 1988 bis 1992. Juli 1992)
Es geht mir nicht darum, anderen,
vielleicht gar Helmut Pohl. Inkonsequenz
nachzuweiren. Sich einzureden, man
selbst habe alles klar, halte ich in diesen
Zeiten sehen für den Beginn des Irrtums.
Aber ich denke, das Hin- und Hcrpcndcln
zwischen Diskussion als Metapher für
Klarheit, Perspektive, Verständigung und
Verbindung mit anderen (weil natürlich
jenes Bedürfnis nach gemeinsam ent-
wickelter Kraft mit anderen Sektoren.
Klassen, unterdrückten Völkern, wie es in
den Gefangenentexten 89-92 mm Aus- .
druck kommt, das Urpolitische ist) - und
Kampf, sich entscheiden, als Metapher fiir
revolutionäre Subjektivität (die in der Tat
von RAF und Gefangenen in einer Dimen-
sion verwirklicht worden ist wie sonst von
kaum einer Gruppe der Linken seit 68) -
das Erste als Ausdruck der Möglichkeit.
das Zweite als Ausdruck des Willens -
dieses Hin- und Hcrpcndcln zwischen
zwei Polen zu überwinden, scheinbar
gegensätzlich, tatsächlich aber nur in
wechselseitiger Durchdringung zu einer
anderen Wirklichkeit führend, wäre ein
wichtiger Schritt gewesen Wo aber das
Revolutionäre identisch ist mit einem
„nicht hinterfragbaren Fetisch" militäri-
sche Aktion, bringt sich jene revolutionäre
Subjektivität um ihre politischen Möglich-
keiten und so. frü heröder später, auch um.
In der revolutionären Subjektivität der
RAF steckten ursprünglich auch andere
Möglichkeiten. Das nicht gesehen, nicht
darum gekämpft zu haben, ist die Nieder-
lege.
1990 legte Karl-Heinz Dellwo der Ge-
fangenengruppe einen ausgearbeiteten
VbrscMag für einen Kongreß vor. Nicht
ein Kongreß linker Experten und Spezia-
listen. sondern ein Forum, vielleicht als
Ausgangspunkt für eine permanente
Struktur der Verknüpfung und Auseinan-
dersetzung, ein Kongreß, auf dem ver-
schiedene Gruppen der Linken, der Frau-
enbewegung, der Autonomen, der Alter-
nativen usw. ein Resümee ihrer Erfahrun-
gen ziehen. (Der Vorschlag wird in der
Gruppe ignoriert.) Die Linke in Latein-
amenka hat das schon lange erkannt, sic
hat sich Strukturen des Austauschs und
gemeinsamer Suche geschaffen.
Es waren nicht viele, die zu dieser
„großen politischen Auseicandersctzung“
beitrugen. Michael Dictiker. Ali Jansen.
Bemturd Rosenkötter; Eva Haulc mit
einer sogenannten Zusammenfassung der
Diskussion in der Gefangenengruppe (die
nie gelaufen ist); die Illegalen, wir hier in
Celle. In der vom Ccllcr ak drinnen &
draußen Juli 92 hcrausgegebenen Samm-
lung von „Texten von Gefangenen aus
RAF und Widerstand aus den J ahren 1 988
bis 1992“ ist die offene Sache jener Zeit
spürbar. Hält man diese Texte (bei denen
im großen und ganzen jene fehlen, die
dann im Herbst 93 die Spaltung organisie-
ren sollten), neben Beiträge aus 93. ist auf
den ersten Blick zu sehen, was da wo
abgebrochen ist. Und wenn die beiden
Erklärungen der RAF aus 92 mit der
eigenen Geschichte kritisch umgehen, was
ich nach all den Jahren der krampfhaften
nicht-Diskussion als wirklich befreiend
empfunden habe, wenn in diesen Erklä-
rungen die Einstellung der Angriffe auf
Repräsentanten usw. mitgeteilt wird, kann
man nun wirklich nicht behaupten, dies sei
das eine, was die abgespatenen Gefange-
nen gewollt hätten, ginge in eine ganz
andere Richtung.
Wenn die politische Auseinanderset-
zung mit draußen und der Umgang mit der
veränderten Situation nicht in die Gänge
kommt, hat das verschiedene Gründe.
Nach 89 wurden einschneidende Verände-
rungen sichtbar. in Deutschland. Europa,
weltweit. Stichwortartig: der Zusammen-
bruch des Realsozialismus und des globa-
len Ost-West-Kräfteverhältnisscs. von
dem auch die Prozesse im Süden tangiert
waren; die deutsche Vereinigung samt
anschließender Kolonisierung Ost-
deutschlands; der Golfkrieg und das dabei
sichtbar werdende Umschlagen der inne-
ren Verfassung Deutschlands in eine neue
Qualität, insbesondere das Abtreten der
von 68 herkommenden undogmati sehen
200
„neuen Linken" als politischer Faktor im
Land; das mehr und mehr ins Chaos
taumelnde neoliberale Experiment: nicht
zuletzt eine große Gefahr von Faschismus
- kurz: Es gab in der Restlinken den
Eindruck, gegen eine solche Entwicklung
Kräfte sammeln zu sollen, und dies hinein
bis in gewerkschaftliche und bürgerliche
Kreise. Die Stimmung des Mobilisiert-
seins. wo nicht Aufbruchs nach dem HS
89 verwandelte sich indes schnell in ihr
Gegenteil. Gefühle der Ohnmacht, der
Niederlage, der Depression machten sich
breit. Zu tief der Einbruch, zu überholt die
Denkweise, aus der der neue Versuch
gestartet werden sollte. Jene oben mit
ihrem „Brief an die politischen Gefange-
nen" zitierte „Radikale Linke", die ihren
Ausgangspunkt nicht zuletzt im HS 89
hatte, fcstgclegt inefcs auf die „Kraft der
Negation", gibt ihren Geist bald wieder
auf. Ein Teil wird sich, so die Mitteilung
eines bekannten Hamburger Grtlndungs-
a ieds, schnell in Richtung Bündnis
rüne und PDS verziehen, ein anderer
Teil sollte mit Diskussionsbcilrägcn erst
1992 rübcrkommca als sich die Chance
bot, die Kraft der Negation an RAF und
Gefangenen auszuprobieren. „Und
Heuchler waren die.die sich brüsteten, sie
hülten immer schon so gedacht, wie sic
jetzt dachten, und die von anderen eine
Eindeutigkeit und Militanz verlangten, die
sic selbst nie praktiziert hatten. Genau die
hatte ich damals aukommen sehen, das
Wort Revolution auf den Lippen." (Alejo
Carpentier, Le Sacredu Printemps, Frank-
Tun. 1993)
Ein weiterer GrunJ: die Unmöglichkeit,
zusammenzukommen und zusammen zu
reden. Die Spaltung ist auch ein Produkt
der Isolation. Aber diese Situation der
Gefangenen erklän nicht, weshalb ein
Dutzend ehemaliger Gefangener draußen
- die größte Zusammenlegung, die cs je
gab - nie in die Initiative gekommen ist.
Ein viertes Moment hängt auch zusam-
men mit einer Orientierung, wie sie Ende
der 60cr/Anfang der 70er kurz und knapp
so benannt wurde: Die Aktion eint, Worte
spalten. Ulrike Meinhof. 1974: „Man ist
eine Gruppe von Genossen, die sich
entschlossen hat. zu handeln, die Ebene
der Lethargie, des Verbalradikalismus, der
immer gegenstandsloser werdenden Stra-
tegiediskussionen zu verlassen." Richtig.
Denn cs war eine Siluation. die internatio-
nal wie in Europa wie innergesellschaft-
lich in Kämpfen und Auseinandersetzun-
gen eine Fülle von Erfahrungen, Wissen,
„revolutionäre Bestimmungen“ hervorge-
bracht hatte, was sich in einem lebendigen
Prozeß ständig weitercntwickclte und sich
zu einem Teil in den frühen RAF-Tcxien
und im alten Info wiederfindet. Das
Konzept Stadtguerilla entstand in dieser
Situation - cs war rieht vorstellbar ohne
die Revolte von 68 und die Bewegung
gegen den US-Völkermord in Vietnam,
wie ja auch das Front- Konzept der 80er
Jahre ohne die militanten Bewegungen der
ausgehenden 70cr/bcginncnden 8Uer
überhaupt nicht hikte ersonnen werden
können. Rcalitütsfcm deshalb der heutige
Vbrwurf an die Illegalen, sic hätten kein
Konzept, als ob revolutionäre Politik das
aufgesetzte Produkt von ganz wenigen
sein könnte - eine Vorstellung, die doch
gerade am Front-Konzept gescheitert ist.
An dieser Stelle noch ein anderer Aspekt
zu Diskussion überhaupt. Eine ganze
Reihe von Leuten draußen hatte in den
letzten beiden Jahren den Eindruck, vor
allem die Celler verträten heute eine
„Position", die von der, die sic die Jahre
davor vertreten hatten, erheblich abweicht
und sie verkünden dies im alten Avantgar-
dcstil nach draußen. Einige sind darüber
«auer. Wo dies nicht nur Zucchauerhaltung
ist. ist darin mit Sicherheit ein Moment
von Emanzipation. Es hat. nach der
Spaltung, eine Reihe von Texten und
Haltungen gegeben, in denen deutlich
wird: Wir wollen eine inhaltliche Diskus-
sion, weil wir uns nur so als Subjekt in
dieser Auseinandersetzung verhalten kön-
nen.
Celle war nie „Front“ im hinreichend
bekannten Tenor. Ich glaube nicht, daß cs
auch nur einen Brief von mir gibt, der
diese doktrinäre Front-Ideologie bedient.
Es hat von uns von Anfang an Kritik, aber
keinen Bruch gegeben, denn tatsächlich
hatte das Front-Konzept einige« für «ich —
wäre die Grundidee von einem offenen,
emanzipativen Geist • getragen worden,
hätte daraus etwas anderes werden kön-
nen. Das war nicht der Fall, die eingangs
zitierte Selbsterkenntnis eines der Front-
Ideologie ganz besonders verpflichteten
Gefangenen Uber das Fehlen eines Keims
neuer Gesellschaft kam zu spät. Auch
wurden Möglichkeiten der Verbreiterung
und Vertiefung, die sich immer wieder
boten, nicht ausgcfüllt. Unsere Widersprü-
che und Vorschläge, die wir hatten, haben
wir in der Regel nicht verheimlicht, unsere
Kritik aber auch nicht in öffentlich-syste-
matischer Form vorgclegt. Dies war wohV
ein Fehler. Schlimmer als es jetzt ist. hätte
es dadurch auch rieht werden können.
Wenn also die beiden letzten Jahre bei
einigen wie ein unvermittelter „Positions-
wechsel" ankommen, mag das für die bis
dahin fehlende deutliche und systemati-
sche Darstellung zutreffen.
Insgesamt gibt cs bei den abgespaUcncn
Gefangenen als auch bei uns hier den
Eindruck wechselseitiger Mißachtung
über eine längere Zeit. Auch draußen gibt
es dieses Gefühl. Auch deshalb hätte ich
es gut gefunden, wenn es. von der Spal-
tung als der inzwischen nötigen Distanz
ausgehend, dennoch zu einer Diskussion
gekommen wäre. Ich betrachte cs nicht für
ein Epochendrama wenn eine Gruppe
(oder Tci Ic daraus), die über 20 Jahre unter
diesen Bedingungen zu leben und zu
kämpfen gezwungen waren, in einer Wei-
se reagiert, die inakzeptabel ist. Diese
Frage entscheidet sich eher daran, wie
nach einer gewissen Frisi damit umgegan-
gen wird. Ich finde Leute, die heute
versuchen, sich an diesem Debakel zu
mästen, sagen nur etwas über sich selbst.
Was soll die Klassenanalysc, wenn ein Teil
draußen noch nicht einmal in der Lage
oder auch nur bereit ist. sich in die
Situation hineinzudenken, die doch seit 20
Jahren so unübersehbar extrem ist? Wo
sich welche aber noch nicht mal in die
Situation von Gefangenen versetzen kön-
nen. welchen Zugang - außer einem
ideologisch gesteuerten - mochten sie
zum Alltag jener Klasse gehabt haben, von
der sic so gerne reden? Ich bin skeptisch
gegenüber „Positionen", insbesondere,
wo sich das im Ablegen von politischen
Bekenntnissen (für Internationalismus,
gegen Patriarchat) erschöpft. Ub das Pro-
jekt eines internationalen Kampftags für
Gefangene richtig oder falsch ist. wird sich
erst hinter den Forderungen und Über-
schriften entscheiden. Wenn welche mit
jener radikalen und findigen Guerillamen-
talität diesen Kampf beginnen, könnte
etwas darüber hinaus Impulsgcbendcs
daraus werden. Wenn es im sektiereri-
schen Stil beackert würde, sollten wir cs
lieber gleich vergessen.
Ich hatte einen Entwurf dieses Textes
mit einigen Freundinnen draußen disku-
tiert. Einer sagte mir dabei: Wenn du vom
Kampf um Würde schreibst, können wir
draußen das so direkt nicht nachvollzie-
hcn. Ich reagierte spontan und heftig:
Doch, hier mußt du deine Würde tagtäg-
lich verteidigen, und vor allem im Trakt
und in der Isolation war das ein Kampf,
der jeden Tag sehr deutlich spürbar an
deinen Kräften zehrte. Auseinanderset-
zungen. ob sie und wie sic mit Gefangenen
und untereinander laufen, haben andere
Bedingungen als draußen.
Das Desaster -
Die politische Leere
1992. Die Vehemenz, mil der Klörung.«-
prozesse gefordert werden, ohne zu Resul-
taten zu kommen, entspricht der politi-
schen Leere des Jahres 1992. Die alten,
seit 20 Jahren gültigen Gewißheiten sind
erschüttert, neue nicht in Sicht. In dieser
Krisenzone - in der die Gefahr eines
letzten Stillstands ebenso gegeben ist wie
die Chance, neue Ufer zu erreichen - wird
erstens von fast allen fast alles gedacht und
gesagt, was 20 Jahre lang von fast nieman-
dem gesagt wurde, und zweitens wird der
Staat initiativ. Wobei zweitrangig ist.
welche Ziele er mit dieser Initiative
verfolgt. Entscheidend ist. daß er die
Initiative in die Hand bekommt. Und so
wird aus dieser Kinkel- und/oder KGT-
Initiativc eine Köpfc-füllende monströse
Angelegenheit. Wohl wissend um den
inneren Zustand der Gruppe fordert der
Verfassungsschutz die Zusammenlegung,
lange vor 1992 (die Gefangenen sollen
sich zerstreiten) und identifizieren Gefan-
gene die Kinkel-Initiative sofort als Snal-
tungsmanöver. Weshalb sollte sich diese
Gefangcncngruppc. 20 Jahre lang auf
Leben und Tod zusammen kämpfend, von
einer solchen Iniliacive spalten lassen?
Nein, cs ist nicht der Knast, der nicht
mehr auszuhaltcn ist. Wir haben in fast 20
Jahren gelernt, auch extremste Situationen
mit Sinn und Leben und Kampf zu füllen,
weshalb sollte das jetzt plötzlich abbre-
chcn? Wenn 1 993/94, in der Spaltung, jene
Mentalität politischer Auseinanderset-
zung, aus der 1985 die Pimcntal-Debatte
geführt wurde, in aller Unbefangenheit
neu aufgelegt wird, offenbart sich hier,
wenn auch in zugespitzter Form, die
vermutlich unabänderliche Kontinuität ei-
ner bleischweren Unbeweglichkeit, in der
das Bewußtsein, das Menschen. Dinge,
sich selbst in deutlich spürbarer Bewe-
gung hält, kurz: revolutionäre Identität,
schon lange zur „Position", zu Festgesetz-
tem. geronnen ist. Der Raum, in dem
201
„RAF' zu suchen begonnen haue, war
aber ein anderer gewesen. Dorthin als
Gruppe zurückzuiehren. war unser Ver-
such der .vergangenen Jahre. Danach soll
fragen, wer uns kritisiert. Ja. dies wäre ein
Sich-Auseinanderselzen auf völlig ande-
rer Ebene, wiirccsdoch immer sofort auch
eine Frage der oder des Kriiisierendcn an
sich selbst. „Position“ indes. Begriff von
92 und danach, ist das. was übrigbleibt, wo
die Frage revolutionärer Subjektivität aj Id-
en vor gelassen wird. Der Verlust lieg: in
einer Politik, die cs schon lange aufgege-
ben hat. diese Emanzipation auf allen
Ebenen des Denkens und Handelns, von
Praxis und Theorie anzustreben, zu orga-
nisieren. aufleben zu lassen. Als dieser
Raum spätestens mit der verdinglichten
Vorstellung von „zusammen kämpfen“
verlassen wird, wird aus strategischem
Defizit politische Orientierung, von nun
an sieht alles anders aus. die Spaltung ist
da nur die Endmoräne.
Wären jene Energien, die noch 1993/94
für eine Spaltung zur Verfügung stehen,
die Jahre zuvor genutzt worden, um den
cmanzipativ-suchenden Weg der Illega-
len. einiger Gefangener, von Leuten drau-
ßen mitzugehen statt sich auf das Hcraus-
geben von Diskujsionr.appcllcn zu verle-
gen - ich bin mir sicher, das Jahr 1992
wäre zu diesem Desaster nicht geworden.
Ob Gefangene rausgekommen wären, dar-
über will ich nicht spekulieren. Aber es
wäre Erinncrungsarbcil gelaufen, inhaltli-
che Substanz beschafft worden, ein neues
Netz von Verbindungen wäre entstanden.
Beides auf der Höhe der Zeit: möglichst
breites Sammeln von Kräften gegen die
Gefahr von Faschismus, bei gleichzeitiger
und immanenter Entwicklung einer radi-
kalen Perspektive, radikal im originären
Sinn, den Verhältnissen und ihren objekti-
ven Verankerungen auf den Grund ge-
hend. Daraus ist nichts geworden und so
ist die inhaltsleere Härte, wie sie aus den
Spaltungstexten spricht, tatsächlich Ori-
entierung in eine Richtung, wie sie Eva
Haule nach der April-Erklärung der RAF
zutreffend kritisiert:
„Jetzt schrieb mir grade jemand aus
Berlin, daß die Entscheidung der RA Fund
was wir Gefangene dazu gesagt haben, bei
manchen Leuten .Gefühle der Ohnmacht
und Niederlage' uusgelöst habe und sie
nur noch alles .zusammenbrechen' sehen.
Das kann ich mir einerseits erklären, so
wie die Lage der Unken ist und weil ich
weiß, daß für viele hier mit der RAF und
ihren Aktionen eine ganze Menge »w
allem emotional verbunden war. Hoffun-
gen. .der Kampf geht weiter ' ... alles Jas.
Aber onderrrteilr sind diese Reaktionen
politisch völlig leer und das Denken, das
sich darin ausdrückl, darf uns heute nicht
mehr ausreichen." (Brief, 25.4.92)
Nach der Erklärung der RAF vom
10.4.92, in der sic die Einstellung der
Angriffe mitteilt, bestätigt Irmgard Müller
m Namen aller Gefangenen:
. Wir sehen auch heute noch um vieles
• eutlicher. als es schon Mitte der 80er zu
erkennen war und im Hungerstreik 89 von
ms das erste Mai angepackt und in eine
Praxis umgesetzt wurde, daß die globalen
und innergesellschaftlichen Umbrüche so
tiefgehend sind, daß sie für alle / ine
einfache Fortsetzung der Politik und
Praxis der 70er und 80er Jahre unmöglich
machen. ”
Und wenn Hanna Krabbe im Fcmsch-
interview der Lübecker Gefangenen vom
16.5.92 die Frage oufwirfl, ob Gewalt -
angesichts heutiger gesellschaftlicher Zu-
stände - überhaupt noch die Funktion
haben kann, „gesellschaftliche Wider-
sprüche aufzubrechen, sichtbar zu machen
und zuzuspiizen“. wenn cs in der Gefan-
genengruppe niemanden gegeben hat. der
Irmgard Möllers Erklärung widerspricht,
ist da* eine mthent ischc Auskunft darüber,
wo sich die Gruppe Frühjahr 1992. dem
Zeitpunkt also, als sich die Reaktionen auf
die Kinkel-Initiative hcrausbilden. be-
fand. Dieser Satz wird auch dann nicht
falsch, wenn cs - intern - auf die
April -Erklärung der RAF selbst Kritik
gegeben hat, die indes von ähnlich diskus-
sionsfemem Zuschnitt war wie gewisse
Spaliungsteatc.
Und folglich setzen auch alle Gefange-
ne an der Kinkel-Initiative ein. Skeptisch
zwar, im Bewußtsein oder zumindest mit
dem Appell verknüpft, um Freilassung
resp. Zusammenlegung kämpfen zu müs-
sen, aber grundsätzlich verworfen wurde
sie von niemandem. Entgegen heutiger
Legende kommen doch recht weitgehende
Vorschläge, wie auf die justiz-institutio-
nelle Ebene eingegangen werden soll.
In der Pressemitteilung der Verteidige-
rinnen der politischen Gefangenen in der
BRD vom 24.2.92, abgestimmt mit den
Gefangenen, wird gesagt. Kinkel habe
damit „eine neue Position in der öffentli-
chen Diskussion" eingenommen, „sich
damit der politischen Realität genähert.“
In ihren Beiträgen zu den I. -Mai-Demos
in Stuttgart und Frankfurt fordern ehema-
lige Gefangene „vor dem Amiswcchscl
von KinkeT*. daß „eine Entscheidung
getroffen wird für die Freiheit aller politi-
schen Gefangenen“ und daß die Regie-
rung jetzt Kontakt zu den Gefangenen
aufnehmen solle ‘(clockwork 129a.
22.5.92). Im Angehörigen- Info vom
28.2.92 bekräftigt Eva Haule die Haltung,
„auf den Punkt zu gehen, an dem wir
einhaken und mit dem. was wir wollen,
weiterkommen zu können statt nur die
.Counterschnutc' zu ziehen und sich zu-
rtlckzulehnen.“ Bei diesem Appell sollte
es - von der oben bereits erwähnten
„Zusammenfassung“ einer nie dagewese-
nen gruppenintemen Diskussion abgese-
hen - dann aber auch bleiben. Wenn
Wochen nach der Kinkel-Initiative sich die
Anfragen von draußen häufen, was die
Gefangenen denn nun wollten, konkret:
nach einer grundsätzlichen Orientierung,
einer Erklärung der Gefangenengruppe
geradezu gerufen wurde, um draußen
handlungsfähig zu werden, wird das mit
dem Hinweb auf fehlende Zusammenle-
gung resp. Diskussionsniögljchkcit aus-
drücklich abgclehnL Das alle Muster.
Wieder ist es die Situation der Gefange-
nen. die zum politischen Angelpunkt
gemacht wird - voigcscliobctcrwei.se.
denn Hungerstreikerklärungen waren ja
auch machbar, nicht zuletzt diese Spal-
tung. Wenn im April die RAF etwas sagt,
dann nicht zuletzt deshalb, um dieses
Vakuum zu füllen.
Trotz dieser weitgehend übereinstim-
menden Wahrnehmung der Kinkel-Initia-
tive vom Januarbeginn 1992 gab cs also
erhcblxrhc Unterschiede in der Frage, wie
praktisch darauf zu reagieren ist. Verwei-
gerung hielten wir hier stets für die letzte
aller Möglichkeiten. Möglicherweise
kommt hier aber wieder jenes andere
Moment zum tragen: Wer davon ausgeht,
daß die Situation so ist. daß Teile der
Gesellschaft, über die Linke hinaus, in
welcher Form auch immer, sich unserer
Politik und Praxis der 70er und 80er Jahre
zuwenJcn könnten, wer davon überzeugt
ist. daß ..widcrsländische“ Auseinander-
setzungen auf uns zugeflogcn kommen
könnten, der wird vermutlich von einem
real (oder potentiell) erheblich stärker zu
unseren Gunsten existierenden Kräftever-
hältnis ausgehen (so jedenfalls die Skizze,
wie sie sich aus der Erklärung Helmut
Pohls vom 27.8.93 ergibt) - während
welche, die wie wir eine solche Einschät-
zung unmittelbarer Möglichkeiten nicht
halten, eher davon ausgingen, uns ins
Zeug legen zu müssen, um das politische
Kräfteverhältnis zu unseren Gunsten zu
verschieben. Vor einem Jahr hatte ich in
..Gesellschaft oder Getto“ davon gespro-
chen. daß Kinkel Januar 1992 der Öficnt-
lichkeii den Gedanken der Frei lassung von
RAF-Gcfangencn in den Kopf gesetzt
hatte. ..eine neue Position in der öffentli-
chen Diskussion", und daß es darum
gegangen wäre, diese Situation für uns
weiterzuzichcn und auszubaucn. den Ge-
danken einer Freilassung ofTensiv zu
vertreten, der Öffentlichen Position Kin-
kels und anderer die eigene Kampagne
enlgegenzusctzen. Wie konnten wir. die
wircbca noch von der,. großen politischen
Auseinandersetzung“ mit allen gesell-
schaftlichen Gruppen geredet hatten, dies
an unsere Rechtsanwältinnen und Rechts-
anwälte delegieren, wo eben jene gesell-
schaftliche Gruppen über uns sprachen?!
„Nach der Entscheidung der RAF und den
endlich möglich gewordenen öffentlichen
Stellungnahmen der Gefangenen aus der
RAF in Fernseh- und Zcilungsinterviews
gibt es immer mehr Interesse in der
Öffentlichkeit, über die Gefangenen zu
sprechen.“ (Vorbcreitungigruppc De-
monstration am 20.6.1992. Mitteilung an
die Presse. Bonn; 16.6.1992)
Bereits Mine Januar legt Karl-Heinz
Dcllwo den Entwurf einer gemeinsamen
Erklärung der Gcfangcnengruppe vor. Er
beginnt mit einer skeptischen Einschät-
zung der Kinkel-Initiative: Bereits wäh-
rend des HS 89 hatten RAF und die
Gefangenen „die politische Situation
grundsätzlich aufgemaehl ... von oben
kamen nur Reaktionen, den Krieg bis zum
.Endsieg* fortzusetzen.“
.. Verschärfung der Hafibedingungen,
bundesweite Zellenrazzien, Anwahsver-
folgung Hetzkampagnen, draußen weiter
Repressionsbetrieb gegen Linke und als
Abschluß: ein halbes Dutzend neuer an-
klagen gegen Gefangene, die teilweise
schon über 10 Jahre im Gefängnis sitzen,
teilweise bereits zu mehrfach lebensläng-
lich verurteilt wurden oder kurz vordem
Ende langer Haftstrafen stehen. Gegen die
Illegalen neue Fahndungsoffensiven und
die alten Illusionen ...
Abschwören ist kein Weg. Auch die acht
werden nicht abschwören. Und es wäre
202
auch kein Weg. zu denken, alle Gefangene
müßten diese langen Strafen absilzen und
sie könnten einzelne Gefangene bis weit
übers Jahr 2000 im Gefängnis halten und
von unserer Seite gäbe es keinen Kampf
mehr."
Insgesamt dreimal werden in dieser
zweiseitigen Vorlage die geplanten Kron-
zeugenprozesse als Hindernis angeführt,
um zu einem politischen Umgang mit der
Lage zu kommen. So auch in allen
Interviews 1992. Aber diese oder irgend-
eine andere Erklärung wird grundsätzlich
abgelchnt. Vielleicht hatte dieses Nein
Gründe in einer von diesen Gefangenen
erwarteten Einstellungserklärung der
RAF. von der sie sich möglicherweise
mehr politische Schubkraft für Freilas-
sung/Zusammenlegung versprachen als
von einer eigenen Erklärung. Ich weiß cs
nicht.
Die RAF berichtet in ihrer Erklärung
vom 2.11 .93. daß cs jenen Gefangener, die
von ihr die Einstellung der gezielt tödli-
chen Angriffe verlangt hatten, um eine
Gesamtlösung gegangen sei. Eva Haule
schreibt am 25.4.92 in , .Sandkörner 1 '
(Reader zum Forum I, Anti-WWG. Mün-
chen. 1992):
..So sind wir 89 ir. den Streik. Wäre die Z L
und die freie Kommunikation erreicht
worden, hätte das damals schon ein
Aussetzen der Kommandoaktionen bedeu-
tet: denn in der Diskussion, die wir 89
wollten, sollte es um neue gemeinsame
Grundlagen für die gesamte revolutionäre
Bewegung gehen: was die Priorität des
politischen Prozesses einschließt und daß
er offen ist für eine grundsätzliche Klä-
rung aller Fragen ... für uns ist jetzt die
politische Zeit, in der unsere Freiheit
erkämpft werden kann, in der auch der
Schritt der RAF richtig und dafür eine
\braussetzung ist- anders wäre .Freiheit'
bloß ein schöner Traum . "
Wie bereits gesagt, wissen wir nicht,
worum damals der Streit ging. Aber eine
solche Erklärung wie diese fällt ja nicht
vom Himmel. Es ist ein Gedankengang,
eine Logik, die der Erklärung von Irmgard
Möller vom 10.4.92 weit näher sind als
den 1993 im rachhincin entwickelten
Legenden: Da die Politik und Praxis der
70er und 80er Jafcic nicht mehr so einfach
fortgeführt werden kann. Suche nach
neuen Grundlagen und Einstellung der
Angriffe, damit die Freilassung nich: nur
ein Traum bleibt. sondern eine realistische
Perspektive bekommt. 1993 sollte der
Vorwurf, die Situation der Gefangenen an
den bewaffneten Kampf gebunden zu
haben, einer der Hauptgründe für die
Spaltung sein. Aber selbst wenn diese
Haltung nicht von allen Gefangenen ge-
teilt wurde - wovon ich ausgehe -. wie
Helmut Pohl jene Einstellung, wie sie von
ihm und einigen anderen Gefangenen von
den Illegalen gefordert wird, begründet,
wird das ganze dann tatsächlich fragwür-
dig. Nein, um eine Aufgabe des Kampfs
sei es nicht gegangen. Aber Freilassung
aller! Wie hätte dieser Verstellung zufolge
der gemeinsame Kampf von Illegalen und
- dann - ehemaligen Gefangenen abge-
sehen? Die ex-Gefangenen hätten den
bewaffneten Kampf in der Theorie richtig
gefunden - und die Illegalen hätten ihn in
der Praxis geführt. Denselben Wider-
spruch hatten wir bereits vor 25 Jahren.
Auch damals gab cs welche, allerdings in
anderen Dimensionen, die den bewaffne-
ten Kampf richtig fanden. Sic liefen durch
die Straßen von Berlin. Frankfurt. Ham-
burg und München und riefen zu Tausen-
den: „Für den Sieg des Vietcong!“ Und
dann gab es damals welche, die dazu in
einer bestimmten Weise Nein gesagt ha-
ben. Sie sprachen von revolutionärer
Identität, von der Einheit von Sagen und
Tun. Das war der Beginn der RAF. Wer für
«ich selbsi den bewaffneten Kampf been-
det. wer inhaltlich nichts dazu beiträgt,
eine solche Zäsur inhaltlich zu bewältigen
und für andere begreifbar zu machen, wer
sich nicht darum bemüht, zumindest in
Gestalt erkennbarer Suche nach weiter-
führenden Perspektiven deutlich zu ma-
chen. daß es nicht um ..Aufgabe des
Kampfs“ geht, sollte nicht spalten. Ich
finde es nicht korrekt, bei anderen draußen
einen Eindruck stehen zu lassen, der dazu
beitragen könnte, daß sic ihr Leben aufs
Spiel setzen.
Ich kann mir vorstellen, daß die Illega-
len durchaus damit einverstanden waren,
wenn die Gefangenen jetzt versuchen,
rauszukommen. Ich kann mir auch vor-
stcllcn, daß sic bereit waren, den Kampf
alleine weiterzuführen. KeineJr der bisher
entlassenen RAF-Gefangenen ist' in die
Illegalität zurückgegangen. Aber nach
allem, was ich in ihren Erklärungen ab
April 1992 gelesen und gespürt habe, kann
ich mir nicht vorstcllcn. daß sic sich diese
Einstellung, eine solche Zäsur anders
denken konnten als auf der Grundlage
einer inhaltlichen Durcharbeitung und
ihrer Vermittlung. Sic wollten nicht nur
den formalen Schritt, sic wollten einen
inhaltlichen, sich als Subjekt zur eigenen
Geschichte verhalten. Das Problem ist
doch nicht, daß die Illegalen diesen Weg
cingcschlagen haben, sondern daß zu viele
zurückgeblieben sind, um im ihnen geeig-
net erscheinenden Augenblick den Dau-
men nach unten zu drehen.
Das Problem ist doch, daß der größte
Teil der Gefangenengruppc sich diesem
notwendigen Prozeß verweigert hat und
deshalb jede Einstellungscrklimng, ohne
einen gemeinsamen Begriff der Situation
zur Grundlage zu haben, in der Luft
hängen mußte. Was fUrcinc revolutionäre
Identität, die in wenigen Sätzen dem Rest
der Welt milteilen will, Mitte der 80er
Jahre sei eine Phase zu Ende gegangen -
um diese dann über eine Formel von der
Legitimität des bewaffneten Kampfs weg-
zutippen wie ein langweilig gewordenes
Fernsehprogramm! Und dies bei all den
Toten! Wrrum ausgerechnet einzelne Fe-
ministinnen, die doch über die Wechselbe-
ziehung von Subjektivem und Objektivem
etwas wissen, damit Probleme haben,
wenn die Illegalen auf einem bewußten
Verhalten zu ihrer eigenen Geschichte
bestehen, wenn sic nein sagen zu einem
Subjekt-Objekt- Verhältnis dergeschilder-
ten Art. hat sich mir nicht erschlossen. Es
fällt mir schwer, mir nach fast 20 Jahren
Abwesenheit aus dieser Gesellschaft ein
Bild von der Frauenbewegung zu machen
(und vom Ablegen parolcnhafi-entfrem-
deter Bekenntnisse halte ich schon gar
nichts!), aber wenn ich das doch richtig
verstanden habe, war da die Rede von
starken Frauen, die sich auf eigene Identi-
tät. auf eigene Kraft, auf eigene, bewußt
gemachte Geschichte verlassen. Ich habe
das Gefühl, wenn solche emanzipative
Kraft in den letzten Jahren in unserem
ZutaiiiiiKiiliang wirksam geworden wäre,
wären die Jahre 92 und 93 anders verlau-
fen!
In der zweiten Hälfte 93 schließlich die
Illusion, diese politische Leere durch die
bekannte Schuldzuweisung zu füllen.
Nochmal: Wir haben, niemandem ein
Angebot gemacht und hatten dies auch
nicht vor. Wo jemand wie Ströbele davon
spricht, daß im Fall einer ausbleibendcn
Deeskalation in der Gefangenenfrage die
Möglichkeit einer erneuten Eskalation
bewaffneter Aktion wahrscheinlich ist.
kann dies gelesen werden als konkrete
Drohung, als konkretes Angebot - oder es
kann genommen werden als das. was cs für
Reuter war die Lageeinschätzung eines
früheren aktiven RAF-Anwalts, Kenner
der Sachlage, der die Entwicklung ver-
folgt und der bei Bubis und Reuter formell
ausdrücklich als Vertreter einer politi-
schen Gruppierung auftritt, die weder
RAF noch Celler Gefangene noch Gefan-
gene aus der RAF und Widerstand heißt -
noch sonst irgendwie mit uns in Verbin-
dung gebracht werden kann. Und so war
damit auch kein Risiko verbunden. Wir
haben niemanden beauftragt, mit dem
Verfassungsschützer Benz Kontakt aufzu-
nehmen. Vbn Reuter/Bubis wußte er
nichts. Eine Vermittlung welcher Art auch
immer durch ihn hat nicht stattgefunden
und war auch nicht beabsichtigt. Im
Kontrast zu den von Brigitte Mohnhaupt
und anderen, zu den im ..Spiegel 1 ' und im
Angchörigen-info aufgetischten umfang-
reichen Einzelheiten und Abläufen, die wir
dort erstmalig nachlescn, erfahren konn-
ten wie jede/r andere auch, mag diese
Mitteilung dürftig erscheinen. Aber sic
entspricht dem Begriff dessen, was gewe-
sen ist. Daß andere Gefangene sich aber
auch davon uberfahren fühlen, kann ich
nachvollziehen. Im umgekehrten Fall
wäre mir das vermutlich genauso gegan-
gen. Auch wenn diese, von uns selbst als
peripher und aller Wahrscheinlichkeit
nach als nicht besonders effektiv empfun-
dene Initiative nicht gerade ein unerklärli-
cher Ausbruch aus einem lebendigen
Kollektiv war- Alleingang war cs allemal.
Ein Gespräch mit Bubis würde ich auch
heute noch führen, er aber vermutlich
nicht mehr mit RAF-Gefangenen. Er hat
in den letzten beiden Jahren einen enga-
gierten Antifaschismus vertreten. Als der
bekannteste Repräsentant der deutschen
Jüdinnen und Juden teilt er bei seinem
ouüng zum Vorgang selbst eine Auffas-
sung mit. die mit der öffentlichen Meinung
übereinslimmen könnte. Das ist gut so.
Die Möglichkeit eines Kontakts zu bürger-
lichen Antifaschistinnen dürfte mit dem,
wie das jetzt gehandhato wurde, auf lange
Zeit verbaut sein. Schließlich: wenn im
Papier der Tübinger Gruppe die Frage
aufgeworfen wird, ob in der oben erwähn-
ten Lagccinschdtzung ein Widerspruch
steckt, kann ich das nur mit ja beantwor-
ten.
1991 beschäff igten mich zwei Fragen:
Perspektive für die Gefangenen; politische
Perspektive, wie kann dieser Sinn, wie er
trotz allem in den letzten 20 Jahren steckt,
heute und morgen wieder lebendig wer-
203
den. Zum erster Punkt vertrat ich die
Auffassung, daß die Zusammenlegung ein
Ziel für erste Knastjahre sein kann, daß es
aber keinen Sinn macht, nach 10, 15, 20
Jahren für Zusammenlegung zu kämpfen.
Perspektivisch jedenfalls. Politisch schief
vor allem deshalb, weil das sich Abfinden
mit der Tatsache der Gefangenschaft, ja.
des Gefängnisse? überhaupt, etwas zu-
tiefst unrevolutionäres, defensives, ja.
resignatives hat. Zur politischen Einschät-
zung kommen, daß eine Freilassungskam-
pagne cu diesem oder jenem Zeitpunkt
aussichtslos ist. ist das eine, ob Gefangen-
schaft in Frage gestellt oder hingenommen
wird, das andere. Vor allem sagt es etwas
aus Über das Verhältnis zum kapitalisti-
schen Zwangssystem überhaupt. Es hat ja
wohl auch in der Frauenbewegung, um
das, worum es mxgeht, an einem Beispiel
zu verdeutlichen, nie eine Diskussion
darüber gegeben, statt für Frauenbefrei-
ung und gegen Patriarchal nur für Frajen-
häuser zu kämpfen, da die Abschaffung
des Patriarchats angesichts heutiger Ver-
hältnisse crstmal nicht durchsetzbar sei.
Die Frage, die uns vor einiger Zeit mal
erreichte, ob wir’s denn im Knast nicht
mehr aushalten, ist so sinnvoll wie die
Gegenfrage, ob ihr's denn im Kapitalis-
mus nicht mehr aushaltet.
Gleichzeitig bemühte ich mich, zu der
1989 angesagten „großen politischen
Auseinandersetzung“ etwas beizutragen.
Deshalb mein Austausch mit Tupamaros
und anderen, deshalb inhaltliche Beiträge.
Ich bin der Auffassung, wenn von einer
solchen Zäsur die Rede ist. muß Nacbfor-
schcn cinsetzen. In beiden Momenten -
Bruch mit dem von manchen verinnerlich-
ten Knast; bcwuSt gemachte und vermit-
telte Zäsur - steckt ein emanzipalives
Moment: durchbrechen eines verdinglich-
ten, oft in erstarrten Formeln und Denk-
mustem steckcngeblicbencn Politikver-
r.iändnisscs. Von efnem Hinter-sich lassen
solchen Entfremdungsstresses sei es beim
Absender, sei es beim Empfänger -
verspreche ich mir das Freiwerden enor-
mer Energiemengen, die ansonsten dafür
verbraucht werden, labile ideologische
Konstrukte in Schach zu halten. Die
beiden letzten Jahre sind ein trauriges
Beispiel dafür.
Ich denke, ein solcher oder ähnlicher,
weniger spektakulärer, dafür inhatlich
aufbauender und vermittelnder Prozeß
hätte mehr gebracht; die Erklärung, gezielt
tödliche Angriffe einzustellen, hätte drin-
nen und draußen eine gemeinsame politi-
sche Grundlage gehabt. So aber öffnet
diese politische Leere dem Taktieren
untereinander Tür und Tor.
Vfom Kampf zweier Linien zu sprechen,
scheint mir etwas voreilig. Darunter ver-
stehe ich doch etwas anderes. Da ist viel
zu wenig herausgearbeitet. Solche spekta-
kuläre Interpretationen befriedigen wohl
eher das Bedürfnis nach flinker Einord-
nung. rinen aufklire ndon Beitrag kann ich
darin nicht erkennen. Es wäre eine weitere
deprimierende Erfahrung, würde diese
unsere Geschichte zum Steinbruch, aus
dem auf die Schnelle Brocken herausge-
brochen werden, um die jeweilige „Posi-
tion" zu untermauern. Dennoch ist heute
feslzuhaltcn, daß es seil langem auseinan-
derstrebende Tendenzen gibt, in sich selbst
jeweils nicht ohne Widersprüche, von
persönlichen Animositäten überlagert und
zur Dimension eines Bruchs nicht zuletzt
dadurch gebracht, daß die Freiheit, mit
Konflikten eher vertrauensvoll als verbis-
sen umzugehen, zu wenig vorhmden war.
Wir hier in Celle haben seil Mitte der
80er Jahre in Richtung einer emanzipato-
rischen Gegenmacht gesucht. Will sagen:
Befreiung braucht die Mobilisierung und
Organisation von Aklionskraft. aber ohne
die Mobilisierung und Organisation von
Zuneigung zur eigenen Kraft, zu Talenten
und Bedürfnissen wird das im subjektiven
über Aklionismus nicht hinauskommen.
Selbst wo man einen weitgehend „militä-
rischen" Sundpunkt einnehmen wollte:
daß dies kriegsentscheidend ist hatte - in
seinem Klasscninlcresse verallgemei-
nernd - bereits ein Clausewitz einer
revolutionlren Armee seiner Zeit abge-
guckt. Bewaffneter Kampf ist indes eine
autoritäre Angelegenheit, und je unglei-
cher das Kräfteverhältnis, desto größer die
Gefahr solcher Verkürzung der Perspekti-
ven. Zeit und Kraft für lange Entwick-
lungswege ist da so gut wie nie. Aber auch
daraus körnte noch etwas rausgcholt
werden in einer Epoche, wo das Zeitgefühl
verschwimmt angesichts von Zuständen,
die in jedem Punkt schoo fertig zu sein
scheinen, imkorrigierbar kontrolliert und
beherrscht - und so beginnen und been-
den. unterbrechen und neu anfangen,
wovon dar Zeitgefühl lebt, «innlos er-
scheinen. Guexjllamcntaliläl! Zulange ha-
ben wir uns in diesem Widerspruch zwi-
schen Sehnsucht nach Befreiung und
Zwang zur Härte bewegt, als daß uns das
nicht alle verändert hätte. Davon spricht
unser Alleingang nicht weniger als die Art
und Weise, wie diese Spaltung vollzogen
wurde. Es wäre nicht der erste revolutio-
näre Krieg, der sich durch sich selbst
seines ursprünglichen Ziels beraubt. Lenin
Spricht am Ende des Bürgerkriegs vom
verschwinden der Aibcilcrklassc. Womit
er nicht deren physische Dezimiening und
Zerstreuung in alle Heimatdörfer meinte,
er spricht, mit Blick auf di« Barbarei
dieses Kriegs, vom Verlust jenes einzigar-
tigen. kämpferischen und Talente freiset-
zenden Kassen-Selbstbewußtieins, das
Herz und Verstand jenes emanzipatori-
schcn Sozialismusprojekts häcc werden
können, da? er. ausgerechnet im streß des
Revolutionssommers '17, in „Staat und
Revolution“ und benachbarten Überle-
gungen entworfen hatte. Die Partei sollte
da doch ein ganz und gar un-leninistisches
Gewicht haben! Nein, für diesen Lenin
war Antiirrperialismus und Sozialrevolu-
lion ganz gewiß kein Gegensau. Gant im
Gegenteil! Wenn ich mal davon geredet
habe, daß wir alte eingefahrene Denk- und
Konüovers*nmuster überwinden sollten,
wäre dies «in Beispiel. Aber auch Marx!
ln seinem Begriff der Pariser Kommune
hat er. strategisch denkend, den Emanzi-
patorischcn unmißverständliche ja gera-
dezu demonstrativ Vorrang gegeben vor
den militärischen Defiziten, obwohl sic
ihm den schlaf geraubt halten.
In den Ajscinandersetzungcn der Jahre
1992/93 scheinen die Gewichte anders
gelagert zu sein. Denkbar schlechte Vor-
aussetzungen Für den Umgang mit dieser
Kinkel-Initiative. Denn sie drückt weniger
auf das militärische als auf das emanzipa-
torische Moment. Das. wie unsere Ge-
schichte nun mal gelaufen ist. eher bei den
Gefangenen lag. wenn auch in sehr wider-
sprüchlicher Weise, als bei den bewaffnet
Kämpfenden, egal ob den von 75. 77 oder
85. Im Konflikt einiger Gefangener mit
den Illegalen 90/91 taucht es aufSeiten der
RAF auf. findet seinen Ausdruck in den
April- und August-Texten 92, um von
jenen, die sich einen klaren Blick nur noch
Uber Kimme und Kom vorstellcn können,
intern sofort als „MUsll“ denunziert zu
werden.
Wenn es von Seiten des Staats keine
politische Antwort gab, dann vor allem
deshilb, weil sie glaubten, mit der Figur
Stcirmctz endlich der militärischen Lö-
sungnahe gekommen zu sein. Dies ist das
eine. Das andere ist. daß die seit Januar 92
vom Staatsschutzbunker noch einmal mit
besonderer Inbrunst gelegte Eskalations-
spur gewiß kein Fremdkörper in der
gegenwärtigen Politik von Staat und Ka-
pital ist. Mölln. Bad Kleinen. Solingen
gehören zusammen. Von allem andern gar
nicht zu reden. An dieser Figur Steinmetz
fallt jedenfalls auf, daß skr überall hinflie-
Ben will. Und darin ist sie sicher auch
Produkt jener politischen Leere, von der
oben die Rede war. Niehl daß aus solcher
politischen Leere zwangsläufig Verrat
kommen müßte, aber dem Verrat vorbeu-
gende Identität kommt aus Verdinglichung
und Fetisch nicht
Ich denke, die politische Vorstellung,
wie sie beispielhaft in der Erklärung
Helmut Pohl 27.8.93 sichtbar wird: Teile
der Gesellschaft könnten sich der seit 20
Jahren richtig antizipierenden RAF-Poli-
tik anschlicßen, nachdem sic im heutigen
kapitalistischen Durchmarsch ihre Lage
erkannt haben, und zwar ohne daß es von
unserer Seite aus nennenswerte Aus-
tauschanstrengungen braucht, da die Aus-
einandersetzungen auf uns zugeflogen
kommen - solch ein Szenario ist so
realititsvciträglich wie da? der weltweiten
resp. westeuropäischen Front der 80er
Jahre. Umgekehrt wird ein Schuh draus!
Die praktische Initiative muß auf die
Menschen zufliegen, die in dieser Welt
mehr denn je Grund haben, ihre Lage zu
begreifen (mehr denn je ober, nicht zuletzt
in ihrer oft zugespitzten Vereinzelung.
Schwierigkeiten damit haben dürften),
und die so in der revolutionären Initiative
etwas wiedererkennen von ihrem Bedürf-
nis. von ihrem Traum ntch Würde und
Existenz (wozu heute auch der Wunsch
gehört, zurückzuschlagcn) - jede Initiati-
ve ein Moment, aus dem sich nach und
nach das Puzzle einer revolutionär-eman-
zipativen Gegenmacht und -Wirklichkeit
herausstelll. Ja. es mag sein, daß RAF
Hoffnungen auf sich gezogen hat (aber
auch Ängste), aber eine revolutionäre
Strategie, die diesen Namen verdient, muß
doch darauf aus sein, den Menschen
Hoffnungen auf sich selbs: zu machen ! Wo
bewaffnete Aktion und revolutionärer
Kampf zum Synonym werden, ist die
Nicderlcgc vorprogrammiert - sowohl
politisch als auch militärisch.
Konkret - auch um das, was von uns und
an uns in den letzten Jahren gelaufen ist.
einordnen zu können - am wichtigsten
scheint mir aktuell eine möglichst breite
204
Fronl gegen die Gefahr von Faschismus.
Eine Frage, die unausweichlich auf uns
zukommen wird,. spätestens dann, wenn es
in dieser Entwicklung einen noch bedroh
lichcrcn Sprung geben wird. So jedenfalls
die Erfahrungen aus der Geschichte. Das
von Spaltung und Zensur ausgehende
Signal geht in die falsche Richtung. Diese
Faschisierung ist aber nur der unverstellte
Klauest des ncolibcralen Wolfsgesezes.
Antifaschistischer Kampf ist notwendig,
soweit Ich das von hier sehen kann, hat er
eine Kraft und eine Wirkung entwickelt,
die ihn legitimiert, aber doch ist er ohne
Schutzwirkung gegenüber der Zcrstü-
rungsdynamik des neoliberalcn Totalita-
rismus. Die Diskussion über bewaffnete
Aktionen, wie sic in den letzten zwei
Jahren weitgehend geführt wurde, halle
ich nicht für einen Beitrag zur Lösung
dieser Frage, sondern für einen Beitrag zu
ihrer Verdrängung.
Wir hier haben das Gewicht unserer
Arbeit in den letzten Jahren schwerpunkt-
mäßig auf die Suche nach einer
Übcnvindungspcrspcktive gelegt: das 77-
Seitcn-Papier von Karl-Heinz Dcllwo,
ursprünglich für die gruppeninterne Dis-
kussion bestimmt, in Ausschnitten jetzt in
der bctlincr Zeitschrift ARRANCA! (Nr.
3. Winter 92/931 veröffentlicht: mein
Austausch mit Ttpamaros (Lutz Täufer.
..Auf der Suche ...*. ak 337, 16. 12.91), der
Beitrag im PIZZA-Sammclband Frühjahr
1992 (Lutz Täufer, „Gedanken gegen die
Mauern", in: PIZZA (Hg.). ODRANOEL.
Die Linke - Zwischen den Welten. VLA).
Diskussionen und Auseinandersetzungen
mit Linken und Alternativen aus (Jen
verschiedensten Bereichen, aus Ost- und
Westdeutschland. Es ist sicher richtig, daß
Gefangene nach dieser langen Zeit des
Abgescholtelscins von jeder sinnlichen
Erfahrbarkeit der stark veränderten Ge-
sellschaft draußen sich bei einer solchen
Arbeit in einzelnen Punkten vertun kön-
nen. Unser grundsätzliches Anliegen sehe
ich aber durch die Entwicklung der letzten
Monate eher noch einmal bekräftigt. Auf
jeden Fall war diese Arbeit sinnvoller als
die An- und Absage von Diskussionen,
denen dann aber keine eigene Vorgabe
folgte.
Nicht zuletzt ging es uns darum, zwi-
schen der Realpolitik „Zusammenlegung
durchsetzen“ und der Irrealpolitik einer
weltweiten Front zu einem Maß zu finden,
das unseren Möglichkeiten und Kräften
entspricht und so Enlwicklungsmöglich-
keiten in sich trügt.
Was uns in den letzten Jahren umgetrie-
ben hat. könnte in den Sätzen aus dem
PIZZA-Beitrag skizziert sein:
.. Widerstand ist Abwehrkampf. Negation
von bestehendem schlechten. Widerstand
ist nicht revolutionär, denn er föhn der
Gesellschaft nicht jenes positive zu, dessen
Möglichkeit er mit seiner radikalen Kritik
am Bestehenden behauptet. "
Die Suche nach einer Überwindungs-
perspektive wird allerdings in dein Maß
subjektiv als sinnlos und abgehoben er-
scheinen und objektiv auch sein, wo die
Alltagskämpfe ums Überleben und für
eine selbstbewußte Kultur der Existenz
diesseits der Sclcktionsrampc Weltmarkt-
rentabilität nicht geführt werden. Damit ist
aber schon die Unmöglichkeit benannt.
unseren Kampf hier anders als mit interna^
tional-solidarischer Wirkung zu entwer-
fen. Warum Auschwitz im US-Krieg ge-
gen Vietnam wiedererkennbar gewesen
sein soll, die nicht weniger massenhaft-
tödlichen ökonomischen Vcmichtungs-
feldzüge des westlichen Kapitals gegen
die allermeisten Trikont-Länder Ausdruck
eines Demokratisierungsprozesses sein
sollen, ist nicht nachzuvollziehen. Bei
jenen, die so reden, scheint mir das
demokratische Heute nicht weniger ideo-
logisch-eniäußert zu sein wie ehedem das
revolutionäre. Wenn die Aufstände gerade
in den als jahrzehntelang „stabil" und
„demokratisch" geltenden Lindem La-
teinamerikas wie Mexico und Venezuela
zunehmen, ist das ein deutliches Zeichen.
Auch hier bei uns wächst die Bedrohung
von Leben und Existenz. Ohne die Erfah-
rungen aus all diesen Kämpfen, ohne ihre
wechselseitige Annäherung und Vermitt-
lung, wird aber eine Überwindungsstratc-
£ kaum zu gewinnen sein. Der im Bild
One- World suggerierte Endsieg hat so
nicht slattgcfundcn. Ratlosigkeit in glo-
balpeispeküviscbcr Hinsicht breitet sich
aus. Dies zu sagen heißt nicht, die zu
unterschätzen, die trotzdem versuchen, die
kapitalistische Katastrophe zu verwalten
und jene, die so uneinsichtig sind, noch
immer wie Menschen leben zu wollen, in
Schach zu halten.
Es gibt draußen welche, die die Einstel-
lung der Angriffe, das damit verbundene
Aufknoten unserer Geschichte sowie -
kaum vermittelt - Andeulungea, wonach
in der Gesellschaft heute etwas anderes
möglich sein soll, als Messer in den
Rücken empfinden. „Links" steht mit dem
Rücken zur Wand - so sehr die Kümpfe
ums Überleben im Alltag ohne Millitanz
kaum noch vorstellbar sind, so sehr sie
auch ganz subjektiv Überlefcensbedin-
gung sind, an der grundsätzlichen Situati-
on ist damit allein nichts 1 zu ändern. Ich
denke aber, auch wenn eine revolutionäre
Perspektive nicht in Sicht ist, haben die
Recht, die Widerstand leisten. Das war
ursprünglich Selbstverständnis von ■'
„RAP’, um nach und nach dem verbalra-
dikalen Lippenbekenntnis zu weichen.
Wenn wir etwas antizipiert haben, dann
diese revolutionäre Subjektivität Es hat in
dieser Gruppe harte Auseinandersetzun-
gen gegeben, auch hier in Celle gab cs die.
Wie sollte dis anders sein, wir sind nicht
vom Mond gefallen. Positiv- wie Negativ-
mythen haben dazu beigetragen, Konflik-
te, die bei einer so langen Zeit und unter
derart extremen Bedingungen ganz natür-
lich, ja, ich würde sagen, notwendig sind,
nicht immer in konstruktiver Weise regu-
lieren zu können. Also wurden sie akku-
muliert. Aber wenn es diese Gruppe mehr
als zwei Jahrzehnte gegeben hat, dann aus
einer Reihe von Kämpfen ums überleben
als politisch freibleibende Menschen, aus
Bedingungen heraus, die denen draußen
heule sehr viel verwandter sind als noch
vor 20 Jahrtn. Die Erfahrungen, die wir
erkämpft haben, waren und sind ver-
schlungen incine Wirklichkeit, die immer
wieder so unüberwindbar schien wie die
heutige Wirklichkeit draußen. Es gab im
Hochsicherbeilstrakt und in den Isola-
tionszellcn keine Möglichkeit, sich lange
Illusionen über die eigene Situation zu
machen. Als Gefangene hatten wir nie den
Reichtum an Möglichkeiten zum Kämp-
fen und zum Leben, den cs draußen
solange gab und der inzwischen drama-
tisch zu schrumpfen scheint. Wir hatten
keinen gemeinsamen Ort wie eine Artxi-
terbewegung die Fabrik oder die Gewerk-
schaft oder eine Hausbesetzerbewegung
den Kiez - und unter dem existentiellen
Druck der Vemichtungshaft hatte wir auch
nicht immer den Luxus endloser Zeit, eine
präzise Klassenanalyse anzufertigen, be-
vor wir einen Hungerstreik begannen.
Entsprechende Fordeningen, wie sie 92
uns hier erreichten, haben mich doch eher
melancholisch gestimmt. Es gab keine
hinreichend vorhandene Ressourcen, auf
welcher subjektiven und objektiven Ebene
auch immer, sie waren dschungelmäßig,
äußerst dürftig und beschwerlich. Trotz-
dem hat sich die Gefaagencngnippe in
ihrem Kampf der Wirklichkeit präziser
angenühert als viele andere. Sie hat ge-
kämpft auf einem Terrain, auf dem das
System in jedem noch so kleinen Detail die
Initiative zu haben scheint, in einer Situa-
tion der scheinbar eidiückcndcn Über-
macht des Gegners; an einem unausweich-
lich feststehenden, unentrinnbar öden und
engen Ort, nach einer Zeiteinteilung, die
den eigenen Lebens- und Arbeitsrhythmus
zerstückelt: nach objektiven Bedingungen
Für emotionales und intellektuelles Leben,
wie sie unter sensorische: Deprivation und
sozialer Isolation schlechter kaum vor-
stellbar waren und, bei Birgit Hogefeld,
noch heute so sind. Wir waren hier in der
elendigen Situation einer Guerilla, die mit
nichts in der Hand beginnt und lange,
lange Zeit über diese erbärmlichen Bedin-
gungen nicht hinauskommt - und die
deshalb gor keine andac Wahl hat als
unterzugehen, und das heißt auch, indivi-
duell unterzugehen, oderein Maximum an
Erfindungsreichtum. Flexibilität, Kraft
und Risikobercitschaft zu entfalten. Wir
hatten nicht die Möglichkeit, auf Zwangs-
cmäJirung und Isolationshaft mit Transpa-
renten oder dem Aufsiellcn „richtiger
Forderungen" reagieren zu können. Wie
Robiason auf seiner Insel waren wir
gezwungen, ständig ncie Lösungen zu
erfinden. In der politischen Aussage hat cs.
nicht zuletzt aufgrund dieser Bedingun-
gen. Fehler gegeben. Gut. daß cs immer
wieder ein paar gibt, die die dahinter sich
verbergenden moralischen Abgründe auf-
dcckcn. Wir waren in unserem Kampf auf
der Höhe der Zeit. Wenn wir dabei an eine
Grenze gestoßen sind, dann die. daß
unsere Art und Weise, za kämpfen, eine
Vorahnung gewissermaßen, vertieft und
verbreitert, aufgehoben sein könnte im
Kämpfen, Handeln, naebdenken und su-
chen auf neuer ebene. Denn die alltägliche
Dimension von Austilgung und Sclbstaus-
tilgung, von Deprivation und Enteignung
hat die abhängigen Teile der Gesellschaft
draußen längst erreicht.
Als normative Kraft des 7öf-Sachcn-
Schaffens gingen die Gefangenen immer
wied« voran, zusammen kämpfend und
doch erstmal allein und auf eigene Faust,
und darin waren sie Avantgarde im besten
Sinn. Da entstand Nähe, erlebt wurde die
Geburt menschlicher Beziehungen Uber
Hunderte von Kilometern hinweg, und so
von Kraft. Die Furcht vor einer unklaren,
offenen Situation - offen im Negativen
205
wie im Positiven verwarf sich im
Sprung in die Solidarität. Jene, die uns -
die letzten beiden Jahre nicht zum ersten
Mal - die Klarheit der Klassikerinncn und
Klassiker Vorhallen. übersehen dahei. daß
cs diese, ohne die schon fast natürliche
Solidarität der Arbeiterbewegung des 19.
Jahrhunderts, gar nicht gegeben hätte. Ja.
gewiß. Solidarität ist naiv. Aber in dieser
Scham vor solcher Einfachheit, in der
manche Linke jener Metropolengesell-
schaft und der Logik des Wolfsgcsctzes
ähnlicher sind als ihnen recht ist. verbirgt
sich schließlich ein Bedürfnis nach Gesell-
schaftlichkeit von Vereinzelten, die nicht
mehr wissen, wie sie das anstellen sollen.
Ungewiß, wie heute nun mal alles ist,
braucht eine solche Situation der Krise
und des Übergangs eine Solidarität, die
Kraft und Sclbstbcwußtsein genug hat.
auch mal alleine zu gehen, ohne auf die
ewige Krücke der moralisierenden Ab-
grenzung angewiesen zu sein. Im unge-
wissen der einfachen Negation Priorität zu
geben - diese endlose und so müde
machende Geschichte des Herummanö-
vrierens in der Sackgasse von Ausgren-
zung und Abgrenzung - schafft keine
Klarheit. Wenn wirOhnmachtsgefUhlcfab
und zu) lindem wollen, mag cs genügen,
hier und da eine bewaffnete Aktion zu
machen. Wo wir aber die Ohnmachtssitua-
lion aufbrechen wollen, müssen wir alle
die politisch-ökonomisch-kulturelle
Schranke durchbrechen, die uns heute
stärker denn je gesetzt ist, ja. uns einzu-
kreisen droht. Mag sein, daß unsere Suche
nach dem, womit dif Gcsel Ischaft schwan-
ger geht - nicht nur nach Marx conditio
sine qua non jeden revolutionären Prozes-
ses. manchen allerdings untrügliches Zei-
chen für reformistische Dekadenz - ange-
sichts der realexisticrendcn Kraft und
Bewußtseinslagcn von uns Linken sowie
der aktuellen gesellsihaftlichen Entwick-
lung nicht vermittelt ist. Trotzdem möchte
ich auf Gramscis Warnung hinweisen, die
konjunkturellen Entwicklungen nicht mit
den organischen zu verwechseln.
onolyse & kritik
seit 2 1 Jahren eine linksradikale Zeitung
ln ok 361 am 15. Dezember 1993 erschienen:
Das Verbot der PKK - Bundesregierunggegen Kurden
Österreichische Briefbomben - die Spur führt in die BRD
Anlifa - Höchststrafen im Möllner Prozeß
Freak out - zumTod von Frank Zappa
In jeder Ausgabe: Chronologie rassistischer Anschläge
ak erscheint vierwöchenllich und ist in allen linken Buchläden und gut
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Hamburger Satz- und Verlagskooperative
Schulterblatt 58B, 2000 Hamburg 36
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IX. Anhang
1. Quellenverzeichnis
2 Hinweis auf weiterführende Literatur
207
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4 . FnuK.\.»rt*n am Gle«en. II w IV^nlillitfa A 3 M(FM>. 1993 )
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1956.3*6-36*
Dos . (terden WbosyuA n *M. X5 - 40»
-texte- Neuerscheinung
-texte-
DOKUMENTATIONEN ZUR ZEITGESCHICHTE
REIHE -texte-
Krise,
-fevte-Nummern kosten DM 7.00
zuzüglich DM 1.20 Porto.
Bestellungen gegen Vorkasse bei:
gruppe 2 - Fasanenstraße 142
D-82008 Unterhaching
Tel.: 089/61 16216, Fax 6116247
Guerilla und
revolutionärer Prozess
Die Erklärung der RAF vom 10.4.92 * um der
sie dis ..Zurücknahme der Eskalation"
ankundigte. die folgende Augusterklärung
und nicht zuletzt das OfTcnwerden des Bruchs
zwischen den Gefangenen haben - vor dem
Hintergrund weltweiter Veränderungen im
internationalen Machtgeruge - in der
revolutionären Linken hier wie anderswo zu
Kontroversen. Verunsicherungen, aber auch
(vor allem über die entschiedene Ablehnung
des "reuen Kurses") zur Wiederaufnahme
der Debatte über Krise. Guerilla und
revolutionären Prozess geführt. Die Nr. 7 der
REIHE -texte- dokumentiert internationale
Stellungnahmen zur Entwicklung seit 1992
und deren politisch-ideologische Ursachen
und stellt - nicht nur, aber auch - über den
Bezug auf die italienischen revolutionären
Gefangenen eine Fonschreibung der bisher
erschienenen Ausgaben dieser Reihe dar.
In der REIHE -texte-
sind bisher erschienen:
Nr. X Klassenkampf
oder Politische Lösung
Beiträge zur Amnestiedebatte in Italien Zu
Won kommen sowohl die Vertreter der
„politischen Lösung“, als auch Exilierte
und revolutionäre Gefangene verschiedener
Organisationen
Nr. ft Chronik einer
Debatte/Gegen Dialog
Beiträge gegen die Liquidierung der Mas-
senbewegung in Italien Im Zentrum stehen
Texte zu ..Bruch oder Kontinuität“ Verein-
heitlichung der Debatte und zum Internatio-
nalismus der 80er Jahre.
Nr. 3 Analyse
der Kampferfahrungen
Die Ausgabe konzentriert sich auf Texte
zur Analyse vergangener Kampfcrfahrun-
gen. der sozialen und politischen Verände-
rungen mden80er Jahren und zur
„imperialistischen Intemationalisicrung"
Nr. 4t Krise revolutionärer
Bewegung in Italien
Enthält u a. einen ausführlichen Beitrag re-
volutionärer Gefangener zur Internationa-
len Entwicklung aus dem Jalir 1989
Nr. 5 Zur Neuformierung
der Kla33enbewegung
Dokumente zur Neuzusammensetzung der
Klassenorganisation und Wiedergewinnung
revolutionärer Perspektiven.
Nr. 0 Politische Gefangene
und Widerstand in den USA
Die Dokumente des Internationalen Tribu-
nals gegen Mcnschcnrcchtsvcrlctzungcn in
New York 1990. Interviews, Biografien etc
Ingrid Strobl über Kommuni.sllnnen-Verfolgung und § I29a
Der Paragraph 129 wurde unter Bismarck erfunden, um die Sozialistengesetze durihzu.sctzcn. Und
er wurde fast genau hundert Jahre spater von Jen regierenden Sozialdemokraten um Jen 129a erwei-
tert. um. wie es .so schon heißt, den Terrorismus zu bekämpfen . Dieser Paragraph, der nls'Wuffe ge-
gen die sich organisierende deutsche Arbeiterbewegung geschmiedet wurde, übe richte das Ende des
Kaiserreichs und das Ende des Tausendjährigen Reiches". Diese Waffe wurde nhcli der Niederlage
des NS-Regimes sorgsam wieder ausgegraben. poliert, technisch verbessert und dient heute als
Mchrzwcckwaffc gegen jede radikale, mchtiniegrierbare Opposition. Sie ist ein Dokument des Anti-
kommunismus. und sic entlarvt den Mythos von der sogenannten Stunde Null. Deutschland lag
1945 in Trümmern, aber das klassische Feindbild hatte nicht den kleinsten Kratzer abbekommen.
Wahrend zum ndest der Antisemitismus nach Auschwitz erne Zcitlang als inopptrtun galt, reüs-
sierte der Antikommunismus zum tragenden Segment des deutschen Wiederaufbaus.
Dieser tief verwurzelte Antikommunismus schienden westlichen Alliierten eine Garantie dafür, daß
es sich lohnte, aus den Trümmern ein neues Industriezentrum und "Bollwerk des Westens" auf/.u-
bauen. Und so wurden die Konstrukteure und Profitcurc der nationalsozialistischen Großraumpoli
lik bruchlos in die Etablierung dieses imperialistischen Staates Bundesrepublik integriert, da man
auf ihre unschätzbare Erfahrung und Kompetenz nicht verzichten konnte und wollte.
Die NS-Wirtschaftsführer. die ganz Europa; von Frankreich bis Polen ausgeraubt harten, mußten
sich kaum aus ihren Chefsesseln erheben, um sofort wieder neue Großprojektc zu pluncn.
Gleichzeitig wurde erneut zum Halali geblasen gegen die Kommunistinnen und Kommunisten, die
es gewagt hatten, das NS-Regime zu überleben, die es gewagt hatten - fast als einzige - gegen dieses
Regime Widerstand zu leisten. Die neue alte Wa:fe in den Händen ihrer Gegner war der Paragraph
129.
Während der Rassenkommentator Globke in Adenauers Staatskanzlei renommierte, wurden - nach
Paragraph 129- 370.000 Ermittlungsverfahren gegen Kommunisten und Gegnerinnen der Wieder-
bewaffnung eingeleilct. Während ehemalige Gestapo-Offiziere ihr neues Auskommen fanden,
wurde die Kommunistische Partei Deutschlands erneut verboten.
Die deutschen Firmen, die die besetzen Länder Europas schamlos ausgepreßt, die sogar noch von
der industriellen Vernichtung der jüdischen Bevölkerung profitiert hatten, diese Firmen sind heute
besser im Geschäft als je zuvor. Von der Deutschen Bank über Krupp bis zu der vor Bayer kontrol-
lierten Degesch. die das Zyklon B herstelho. haben diese Firmen heute ihren sauen Anteil an der
Auspressung. Selektion. Vertreibung und Vernichtung der Menschen in der sogenannten "Dritten'
Welf.
Doch dieses Programm funktioniert nur dann reibungslos, wenn im eigenen Land absolute Ruhe
herrscht. Und weil sich der Widerstand gegen dieses neue Programm bald nicht auf die organisier-
ten Kommunisten beschränkte, weil sich die Ruhe weder durch die Notstandsgesetze noch durch die
Integration von Teilen der APO, also weder mit Zuckerbrot noch mit Peitsche, hcrstcllcn ließ, weil
sieh immer noch und immer wieder an allen Ecken und Enden Widerstand rührt, deshalb mußte der
gute alte Paragraph 129 generalüberholt und den neuen Erfordernissen ungepaßt werden. Er wurde
um den 129a erweitert, das neue Feindbild hieß nun Terrorismus, und Terropsmus. das ist immer
das. was der Staatsschulz dazu erklärt.
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